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Dagegen und Wofür
Ketten aus blankem Metall schließen die Griffe des Portals zusammen. Von innen ist der Haupteingang mit Sofas und Sesseln verbarrikadiert. Davor sitzen welche auf Couchen, die ihre besseren Zeiten schon länger hinter sich haben, trinken Lifestyle-Getränke und führen Gespräche, deren Timbre und oder-so-Stil Lässigkeit kommunizieren soll. Ein auf schmutzig-gelben Klinkersteinen angebrachtes Transparent wellt sich im Wind. Die Bewegung lässt Polgar an die Flagge in einem Lager Schiffbrüchiger denken.
Polgar entziffert die ungelenk wirkenden Lettern auf dem Spruchband, Uni-Besetzung 2011 – Gegen die Kürzungen im Wissenschaftsetat!, und geht zu den Bunthaarigen und Rastagelockten.
Er stellt sich darauf ein, herablassende Kommentare auf seine Frage zu bekommen, was hier los ist. Aber Fragen muss er. Polgar will wissen, warum sein Weg umsonst war.
Warum besetzt wird – um ein Zeichen gegen die Kürzungen zu setzen, es drohe die Schließung des gesamten Fachbereichs.
Was passieren soll – geplant wären Plenen, öffentliche Vorlesungen überall in der Stadt anstelle der ausfallenden Lehrveranstaltungen. Eine Demonstration. Plakat- und Stickeraktionen.
Wie lange es dauern werde – über die Dauer der Besetzung werde auf dem nächsten Plenum entschieden.
Polgar lehnt die Einladung, sich dazuzusetzen, um an der Gestaltung des Protests teilzuhaben, ab, und bekommt dafür kurz die Vorstellung, ein unhipper Typ zu sein. Folglich bedankt er sich etwas steif für die Auskünfte und geht zurück zu seinem Fahrrad. Als er es aufschließt überlegt er, dass ihm schnoddrige Punk-Attitüde besser gefallen hätte, als die Erklärbereitschaft, mit der man ihm begegnete.
Bei Tulli
"Was meinst du, wie lange dauert die Geschichte?", fragt Tulli.
"In zwei Tagen ist das nächste Plenum, auf dem über das weitere Vorgehen entschieden wird. Viel länger dürfte es nicht dauern, oder? Ich weiß nicht, wie lange so etwas dauert", sagt Polgar. Dass Vorgehen kursiv gemeint ist, ist nicht zu überhören. "Also mindestens eine Woche frei. Können wir tun, was wir schon immer mal tun wollten."
"Du schreibst ne Geschichte", bestimmt Mark. "Diesmal mit mir in der Hauptrolle!"
"Okay", sagt Polgar. "Ob ich nichts tue oder schreibe. Bestimmte Vorstellungen?"
"Ich, nur anders", sagt Mark.
"Haha!"
"Ich finde es großartig, dass Polgar schreibt, das tut ihm voll gut", sagt Tikki. "Ihr wisst ja, nach dieser hässlichen Geschichte ist er dadurch neu aufgeblüht. Das ist wie bei meiner Omi, die hat nach ihrem Schlaganfall mit World of Warcraft begonnen und ist jetzt streitbar und energiegeladen wie mit achtzehn."
"Vier Punkte auf der Polgar-Smash-Skala!", sagt Kess und streckt den Arm mit der geballten Faust nach Tikki aus. "Komm, gib mir Ghetto-Faust." Tikki dockt mit ihrer Rechten an. "Kess, du bist so gut."
"Ich schneide ein Endlosband zusammen", sagt Tulli. "Videos von Atomwaffentests, die Tiefseekamera von Deepwaterhorizon, Fukushima-Impressionen ..."
"Du bist so negativ!", sagt Tikki.
"Das ist die Realität", sagt Tulli.
"Mir kommt das ein bisschen albern vor", sagt Mark. "Ich hätte ja vorhin auch zu nem Kurs gemusst und bin auf die Besetzer gestoßen. Die wollten von mir, dass ich ein Transparent male. Nein, entschuldigt, sie haben Transpi gesagt."
Polgar verzieht das Gesicht. "Dagegensein braucht Feuer im Arsch."
"Das sind alles Tussen", sagt Kess. "studieren im 31. Semester, machen aber seit zehn Jahren ausschließlich Hochschulpolitik. Sponsored by Mami & Papi. Ich musste für das Studium einen Kredit aufnehmen, weil ich kein Bafög bekomme - und diese Kasper spielen da Revolution!"
"Was ist das überhaupt für eine Grundlage?", fragt Tulli. "Ich meine, wie werden die legitimiert? Es sollte in Deutschland gar nicht möglich sein, dass eine Fakultät mit 2500 Studierenden über Nacht von einem Häuflein Weltverbesserer besetzt wird, ohne dass am nächsten Tag Räumung angesagt ist ... Das passt echt nicht in mein Bild."
"Boah, Tulli hat ne Meinung!", sagt Tikki. "Ich kreuz den Tag gleich mal im Kalender an."
"Soll ich dir die richtige Seite raussuchen?", fragt Tulli.
"Gute Frage, Tulli", sagt Polgar. "Mich überzeugt die Geschichte auch nicht, aber sie findet statt."
"In dem alternativen Programm nächste Woche ist auch ein Besuch in der Roten Flora drin", sagt Mark, der einen Flyer studiert. "Verrät mir jemand, wie das gemeint ist? Soll man sich da revolutionäres Rüstzeug abkucken?"
"Yeah, think big!", ruft Tikki. "Das haben die drauf. Florian und Florentine haben ein neues Spruchband vor den Laden gehängt, hab ich letztens gesehen. Abschaffung der herrschenden Klasse weltweit."
"Olé!", ruft Polgar.
"Wieso lacht denn da niemand?", fragt Tulli. "Das ist ein Possenspiel."
"Ich muss mir jetzt den ganzen Mist im Selbststudium reinprügeln", sagt Kess. "Besonders witzig ist das nicht."
"Ein Grund mehr, sich heute abend zu amüsieren!", sagt Tikki. "Schlagermove! Da gehen wir alle hin."
"Nee", sagt Tulli.
"Auf keinsten", sagt Mark. Kess schüttelt kichernd den Kopf, bis ihr einfällt, was sie an diesem Abend stattdessen tun wird. Da schüttelt sie nur noch den Kopf.
Schlagermove
Auf dem Weg zum Schlagermove wird Polgar von einer Alten in einem Porsche Cayenne herangewunken, die ihr Auto in eine Parklücke zu lenken versucht. "Kommen sie mal her!", ruft sie. "Na aber", sagt Polgar. "Wer könnte so einer charmanten Lady widerstehen - wie seh ich aus?" Tikki streicht ihm eine Strähne der weizenblonden Perücke aus dem Gesicht, rückt Sonnenbrille und Strohhut grade. "Kannst gehn", sagt sie. "Dass du uns keine Schande machst!"
"Einparken, was?", fragt Polgar die Fahrerin.
"Winken sie mich bitte rein! Ich habe dieses Schlachtschiff noch nicht lange, das sind ja furchtbare Ausmaße!", sagt die Alte.
"Keine Sorge, wir kriegen das schon hin." Er stellt sich hinter den Wagen und winkt. "Kommen sie, keine Scheu. Da ist noch massig Platz!" Die Alte hält ihren solariumgebräunten Kopf aus dem Fenster und fährt ein paar schüchterne Zentimeter. "Nee, so geht das nicht", ruft Tikki, die zu Polgar aufschließt. "Diesen Mordsmaschinen muss man zeigen, wo es langgeht. Geben sie Gas, das ist doch keine Vespa!"
"Sieht so verdammt knapp aus!", ruft die Alte.
"Das täuscht", sagt Tikki. "Da ist noch verdammt viel Platz, ganz klar." Tikki winkt, die Alte fährt noch ein Stück.
"Haben sie keine Einparkhilfe?", fragt Polgar.
"Die Elektronik spinnt, glaub ich", sagt die Alte.
"Nun geben sie schon Gas!", ruft Tikki. "Wir haben nicht den ganzen Abend Zeit."
Wieder ein paar Zentimeter. Die Alte fährt ein Stück vor und rangiert sich in eine ungünstigere Position. "Blind oder was. Was macht die denn da?", raunt Polgar.
"Ist doch perfekt!", sagt Tikki. "Jetzt einfach zurücksetzen."
"Kann ich?" Die Alte kuckt nochmal aus dem Fenster.
"Machen sie schon!", ruft Tikki.
Der Cayenne wird ein bisschen beherzter Richtung Kotflügel eines Audi gefahren.
"Ja, sehr gut!", sagt Tikki. Sie winkt und winkt und winkt – bis der Porsche mit einem leichten Rumms auf das Hinterteil des anderen Autos trifft.
"Halt!", ruft Tikki. "Was machen sie denn? Haben sie nicht gehört, dass ich Halt gerufen habe?"
"So ein Ärger!", sagt Polgar, greift Tikkis Hand und läuft Richtung Bahn. Hinter ihnen die rufende Alte. "Diebe! Haltet sie!" Doch der Mann der Stunde scheint an anderer Stelle beschäftigt zu sein. Die Passanten machen hübsch den Weg frei, zumindest solange die Rufe zu hören sind.
"Fette Sache", keucht Tikki, als sie auf dem Bahnsteig stehenbleiben. "In diesen Kostümen erkennt einen keine Sau. Man kann ne ganze Menge machen, so verkleidet."
"Klar", sagt Polgar. Er betrachtet sich im Schaufenster eines Bahnhofskiosks und rückt den Strohhut ein bisschen schiefer. "Aber so langsam fühle ich mich zu alt für solchen Unsinn."
"Jetzt sei mal nicht so anti!", sagt Tikki und schlägt spielerisch auf seinen Hinterkopf.
"Lass das", sagt Polgar und rückt den Hut wieder so schief, wie er sein soll.
"Diese Grenze solltest du respektieren, wenn du nicht auf das Echo scharf bist."
"Grenze, Grenze!", sagt Tikki. "Ich sehe keine Grenze."
"Muss ich dich das spüren lassen? Kannst du nichts mit dir selbst abmachen?"
"Komm mal wieder runter", sagt sie und stößt ihn hart genug an die Schulter, dass Polgar das Gleichgewicht verliert und gegen die Scheibe stolpert.
"Ey, was macht ihr da!", ruft der Kioskmann. "Passt gefälligst auf!"
"Halt die Fresse!", sagt Polgar, dreht sich zu Tikki, greift nach ihren Armen und drückt sie an die Scheibe. "Das war das letzte Mal, hörst du? Nächstes Mal zieh ich dir eine rein."
"Oho!", flüstert sie, schwer atmend. "Herr Gefährlich vergreift sich an Frauen, was werden die Leute dazu sagen?"
"Ist mir scheißegal, was irgendwer dazu sagt. Das Maß ist voll."
Polgar lässt sie los und steigt in die Bahn, die während ihres Gesprächs einfuhr. Legt die Füße auf den gegenüberliegenden Sitz, stützt das Kinn auf die Faust und starrt aus dem Fenster. Tikki setzt sich neben seine Beine auf die andere Seite des Vierers. "Versteh ich gar nicht", sagt sie, "wie man in so einer lustigen Verkleidung so griesgrämig sein kann."
"Keine Ahnung, warum ich mitgekommen bin. So eine bescheuerte Idee", sagt Polgar.
"Hey, was ist los?", fragt Tikki und streicht über seine Wange. "Vielleicht wolltest du halt bei mir sein?"
Elvis- und Siebziger-Kostüme; Männer lustig als Frauen verkleidet, mit riesigen Spitzbrüsten und greller Schminke; Rudel dieser Mannfrauen bahnen sich mit alkoholgefüllten Bollerwagen Wege durch die Masse. Aus der stahlgrauen Wolkenwand fallender Nieselregen füllt Polgars Bierdose auf.
"Oder der Tristesse mal wieder Guten Tag sagen", sagt er und schüttelt den Kopf, als ihm ein Spitzbrustmann eine kleine Flasche mit gelber cremiger Pampe vors Gesicht hält.
"Mann oder Mädchen?", fragt Spitzbrust. Hinter ihm lachen ein paar seiner Kumpel. "Du meinst Mädchen, wie bei Likör trinken?", fragt Polgar.
"Genauhau!", johlt einer. "Wihier sind die luhustigen dicken Tanten!"
"Ihr scheint in Ordnung zu sein", sagt Polgar. "Aber ich red grad nicht so gern, tu uns beiden nen Gefallen und belaber wen anders."
"Du bist mir ne Pfeife!", sagt der Wagenzieher.
"Hast du was mit den Ohren?", fragt Tikki. "Seht zu, dass ihr Land gewinnt!" Dem Angesprochenen fällt das Lachen aus dem Gesicht. "War nich bös gemeint", murmelt er ein paar Sekunden später, zuckt die Achseln und setzt sich mit dem Wagen wieder in Bewegung.
"Nicht dein Tag heute, was?", fragt sie und legt einen Arm um seine Schultern. Polgar verzieht das Gesicht, solche Fragen kann er überhaupt nicht brauchen, wenn es tatsächlich nicht sein Tag ist. Die werden aber nur an solchen Tagen gestellt.
Er versucht dagegen anzugehen. Versucht Anschluss an Tikkis Kommentare und die Welt zu finden, die Wendung von Intro- zu Outrospektive zu nehmen und verpasst eine Ausfahrt nach der anderen. Nach einer halben Stunde immer schwerer werdenden Genervtseins, das Hand in Hand mit einer verdächtigen Häufung von Schlagern geht, die gar nicht gehen, nutzt Polgar die Gelegenheit, als Tikki kurz für kleine Mädchen unterwegs ist, und haut ab. Entweder sich aus Notwehr betrinken oder Flucht, so sieht er das.
Zwischenstück
Angenommen, in den nächsten zwei Wochen würde die Besetzung der Fakultät immer weitergehen, auf Plenen im Zweitagestakt für die jeweils nächsten zwei Tage beschlossen. Nehmen wir weiterhin an, Mark und Polgar und sogar Tulli und Kess und Tikki besuchen ein paar dieser Plenen, in denen Einige ungute Gefühle von Deplatziertheit erleben.
Polgar zieht daraus die verbissene Selbstbestätigung, dass er wusste, er würde dort fehl am Platz sein. Innerlich kochend, registriert er Redner, die ihre Antwort auf die Beiträge anderer Diskutanten mit "Bullshit!" beginnen oder sich auf Stotter-Parolen gegen Polizeigewalt beschränken, dass sich Polgars Fußnägel vor Scham haltsuchend in den Boden kringeln. Kess macht Strichlisten für welche, die sich regelmäßig zu Wort melden. Einer sagt im Laufe seiner Ausführungen fünfzehnmal "Widerstand", zwölfmal "Polizeigewalt" und achtmal "Bullenstaat."
Tikki faltet eine blondbezopfte Brillenträgerin zusammen, die sich für die "aufopferungsvolle Bereitschaft der Aktivisten" bedankt, an der Verbesserung der Gesellschaft mitzuwirken, während der Großteil der Studierenden "ja anscheinend Urlaub macht."
Sie solle sich, ruft Tikki über zehn Bankreihen hinweg, beim Schleimen bloß nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, sonst könne es passieren, dass sogar ein Faulpelz wie Tikki vergäße, dass sie im Urlaub sei und schleimigen Aktivistinnen eins vors Fressbrett geben.
Die Angesprochene dreht sich zu Tikki und sagt in gepresstem Tonfall, "ich verbitte mir diese latente Aggression."
Nichts mit Latenz, brüllt eine mittlerweile aufgestandene Tikki, ihre Aggression wäre live und direkt, und wenn sich eine gewisse blondbezopfte Aktivistin von dem Wahrheitsgehalt dieser Aussage überzeugen wolle, könne sie das gleich tun. Tikki deutet mit dem Kopf Richtung Ausgang und lässt die Knöchel knacken.
Der Diskussionsleiter schlägt mit einem Holzhammer auf den Tisch und verlangt Ruhe, was dazu führt, dass an mehreren Stellen im Hörsaal tumultartige Sprechschwälle ausbrechen, aus denen Polgar heraushört, dass Tikkis Aussagen bei den meisten nicht auf Gegenliebe stoßen. Er steht ebenfalls auf und legt ihr begütigend eine Hand auf die Schulter.
Der Vorsitzende ruft, dass Tikki ihre Wortwahl überdenken möge, ihr Beitrag könne leicht als Drohung missverstanden werden. Wenn sie sich nicht mäßige, werde sie des Saals verwiesen. "Und ob das eine Drohung ist!", ruft Tikki und schlägt Polgars Hand von ihrer Schulter. "Den Verweis könnt ihr euch sonstwohin stecken!" Sie zeigt Vorsitzendem und Saalbesatzung den Fuck-Finger und verlässt den Hörsaal ohne sich umzudrehen.
Wörter wie "Redner", "rhetorisch", "Beiträge", "Diskutanten" und Ähnliches bitte an dieser Stelle mit noch mehr als der üblichen Skepsis betrachten. "Polizeigewalt" meinetwegen auch.
Die vier während der nächsten Plenen im Hörsaal verbleibenden Figuren dieser Geschichte schwanken, ob sie möglicherweise wohlgemeinte Absichten gut, oder die dilettantisch anmutende Ausführung zum Schreien finden sollen. Finden es schwer zu ertragen, in Plenen zu sitzen, in denen einer von verprügelten Demonstranten mit "blauen Flecken" redet und zwei Sätze später fordert, dass diese "brutale Zurschaustellung der Staatsgewalt" unbedingt der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden muss.
"Welche Öffentlichkeit?", fragt Polgar. "So was wie überregionale Zeitungleser?"
"Weiß auch nich", sagt Mark. "Wohl eher welche, die Studentenblogs anklicken."
Mark und Polgar sind nach einer Sitzung, in der sie ihrem Unmut mit lauten Zwischenrufen Ausdruck verleihen, so wütend in ihrer Einflusslosigkeit, dass sie beschließen, nicht mehr zu weiteren Veranstaltungen dieser Art zu gehen.
Kess verabschiedet sich nach der im nächsten Absatz geschilderten Plakataktion für ein paar Tage an die Nordsee, weil ihr Vorrat an Kopfschütteln für einen langen Zeitraum aufgebraucht wäre.
Tulli erlebt die Atmosphäre gegenseitiger Anfeindungen und binärer Argumentation auf Debattierklub-Ebene als perfekt, um auf seinem Laptop Filmchen zusammenzuschnibbeln und mit den passenden Ambient-Sounds von AFX Twin zu unterlegen. Tikki taucht auf den nächsten Veranstaltungen nicht auf.
Ein Anti-Antitext, C:\Dokumente und Einstellungen\Polgar\Desktop\Dagegen.odt, der entsteht, nachdem Tulli sein Endzeitvideo der Öffentlichkeit seiner vier Freunde präsentiert, wird in vielfacher Ausführung, zu frühmorgendlicher Stunde, an und rund um das Uni-Gebäude plakatiert.
Ungefähr sieben Stunden später ist alles wieder abgerissen.
Allerdings nicht von sich angepisst fühlenden Besetzern, wie die Plakatierer zu wissen glauben, sondern von dem Platzpfleger, der dafür zuständig ist, das Unigelände jeden Morgen von acht bis neun von Plakaten zu befreien, die auf nicht freigegebenen Flächen kleben. "Kommt davon, wenn man so freundlich ist und keine Dosen nimmt", sagt Tikki. Niemand kommentiert ihren Kommentar. Recht hat sie, denken die anderen, was zu sagen aber auch nichts brächte.
In den nächsten Tagen kommt es zu mehreren leidenschaftlichen Streitgesprächen über "Spaß-Guerilleros" und "Lifestyle-Resistancé", in denen sich die fünf weitestgehend voneinander bestätigt fühlen, eine für sie neue Erfahrung, die allerdings, wie Polgar feststellt, in Anbetracht der Absurdität dieser Situation nur ein kleiner Trost ist.
Tulli beginnt einen Vergleich, dass es ähnlich wäre, als hätten sie sich darauf geeinigt, dass ein Atomschlag gegen Menschenfresserhaie ... Tulli überlegt, wie der Satz beendet werden könnte, sieht in die gespannten bis ungläubigen Gesichter seiner Freunde und sagt, nein, was immer er habe sagen wollen, würde wenig hilfreich sein, die Situation sei doch eine völlig andere. Bald nach dieser Korrektur am luftleeren Raum verabschieden sie sich voneinander und gehen etwas ratlos in ihre jeweiligen Leben, mehr oder weniger gespannt, womit und wie schnell sich die Vakua füllen werden.
Polgar
Polgar wird Gefäß für ein flüchtiges Element, mit dem er bis dahin nur oberflächlich bekannt war. Der erste Eindruck des nächsten Tages ist seine eigene Wut, die so stark ist, dass er von ihr erwacht und sich kerzengerade im Bett sitzend wiederfindet. Heiße Anti-Teilchen fließen durch seine Adern und bringen ihn zum Kochen, als wäre er ein aufgeheizter Tauchsieder ohne Inhalt.
Polgar braucht alle Konzentration, um sich im Zaum zu halten. Er atmet kontrolliert ein und aus, ballt die rechte Hand zur Faust und öffnet sie, ballt und öffnet sie. Atmet ein und aus. "Verschwinde", presst er leise hervor.
Und spürt, wie der Affekt nachlässt. Polgar brüht grünen Tee auf und schneidet zwei Scheiben Graubrot ab, die erste beschmiert er mit Honig, auf die zweite legt er mittelalten Gouda. Als er die letzten Bissen nimmt, schmeckt er Blut im Mund. Beim Zähneputzen findet er keine Wunde, von der dieser Geschmack kommen könnte, der nach dem Putzen unverändert vorhanden ist. Eine schwache Note metallischer Erinnerung daran, wie der Lebenssaft schmeckt.
Er packt zwei Einkaufstüten randvoll mit Pfandflaschen und geht zum Supermarkt, füttert den Automaten und kauft verschiedene Produkte, die seinen Bedarf an Eiweiß, Vitaminen, Kohlenhydraten und Ballaststoffen für drei Tage decken werden. An der Kasse fällt ihm der Morgen ein und er beschließt, dass das ein schlechter Morgen war und weil schlechte Morgende in seinem Leben die Gewohnheit haben, zu schlechten Tagen zu werden, beschließt er weiterhin, dass er an diesem Tag eventuell eine Stütze brauchen könnte, die er in Form eines Schokoriegels voller schneller Kohlenhydrate auf das Band legt.
Ihm fällt das sonore Summen des Förderbandes auf, zum ersten Mal in seinem Leben nimmt er es bewusst wahr, ein penetrantes Geräusch, findet er, das ihn unruhig macht. Er zahlt und packt den Einkauf schnell ein, um von diesem enervierenden Klang wegzukommen.
Polgar geht im Stechschritt aus dem Markt und die Straße hinunter und bemerkt an der roten Ampel, dass ihn das Summen begleitet. Auf dem Nachhauseweg steigert es sich zu einem dumpfen Brummen, das sich schon sehr in den Vordergrund drängt, aber überraschenderweise immer noch Raum zur Entwicklung hat, den es stetig nutzt. Als er die Wohnungstür aufschließt, dröhnt sein Kopf, als hätte er eine Schelle gekriegt.
Was mache ich mit diesem Geräusch?, fragt er sich und sieht hilfesuchend durch die Küche. Das Dröhnen erfüllt ihn. Er wird ein bisschen ängstlich, als ihn die Idee packt, dass das Geräusch immer lauter werden wird, bis es seinen Schädel sprengt.
Polgar setzt sich auf den Stuhl, birgt den Kopf zwischen den Händen und schaukelt vor und zurück. Es wird wenigstens nicht mehr stärker, denkt er nach ein paar ungewöhnlich elastischen Minuten durch den dröhnenden Raum, der zwischen seinen Ohren ist. Was ist das nur?, fragt er und will vor Hilflosigkeit weinen. Polgar wankt zum Bett und tut, was er bei Krisen immer tut. Wirft sich auf die Decke, vergräbt das Gesicht im Kissen und wartet, dass sie endet.
Nachdem das terrorisierende Dröhnen ungefähr eine halbe Stunde später mit einem Mal aufhört, dreht er sich auf den Rücken und sieht aus dem offenen Fenster. Polgar ist jetzt eine Eingabemaschine, die Informationen aufnimmt, ohne dass sich ein einziger Gedankengang entwickelt. Die Bewegung der Äste und Blätter im Wind; ein Mann, der am Fenster steht und eine Zigarette raucht; eine Ringeltaube, die auf einem Ast landet und gurrt. Die Kirchenglocke. Nachdem er sich mit diesen Eindrücken ein paar Momente beschäftigte, beginnt er eine steigende Anziehungskraft zu spüren, die vom Fenster ausgeht.
Das ist neu. Früher hatte er nur den Drang, sich irgendwo hinunterzustürzen, wenn er von einer gewissen Höhe herunterkuckte. Ein gar nicht so seltenes Phänomen bei Menschen mit Höhenangst. Seit ein paar Monaten reicht es schon, wenn er nur weiß, die Höhe könnte für einen letzten Fall ausreichend sein, dass er den Zug spürt, wie von einem leicht gespannten Gummiband, das ihn mit dem leeren Raum verbindet, der scheinbar Interesse an Polgars fallender Gegenwart hat. Ein dünner roter Faden, der seine Geschichte in eine mögliche Welt führen würde, in die hinein ein Schritt zu tun alles verändern würde.
Polgar analysiert das mit dem nüchternen Blick des Kaufmanns bei der Inventur. Er fühlt sich angenehm leer, als wäre das bedrohliche Hintergrundrauschen des Tages im Dröhnen gegipfelt und mit diesem verschwunden. Es fühlt sich an, als könnte er für den Rest seines Lebens so liegenbleiben und leer in die Leere sehen. Aber etwas in ihm will Handeln, um aus der Lethargie herauszukommen.
Polgar zwingt sich aus dem Bett und dazu, Ziele zu finden, kleine Wegpunkte für den Tag. Hauptsächlich sucht er sie in den Alltagsdingen, die bei Licht betrachtet genauso gut am nächsten Tag erledigt werden könnten. Aber Polgar hat die Vorstellung, dass es darum nicht geht, sondern dass es darum geht, die Dinge jetzt zu tun.
Am Nachmittag kippt er den Korb mit der gewaschenen und getrockneten Wäsche auf dem Boden aus, legt Shirts und Hosen zusammen und stapelt sie unter dem Schreibtisch. Die Unterwäsche kommt ungeordnet in eine alte Plastiktüte von Nahkauf, die an ihrem heilen Henkel über dem Bücherregal hängt. Nachdem Polgar die letzte Shorts in die Tüte gestopft hat, streicht er gedankenlos über die Rücken der schweren gebundenen Bücher, die hinten im Regal stehen, damit es nicht wieder umkippt.
Hemden hängt er auf den Wäscheständer, der von einer an die Heizung gebundenen Angelsehne gehalten wird. Polgar sieht sich in seinem Zimmer um, über das Tikki letztens sagte, es wäre ein verkommenes Loch. Der Satz, der normalerweise einfach durchgerauscht wäre, macht ihm gerade etwas aus. Er geht gegen den Impuls an, eine Generalüberholung des Zimmers vorzunehmen, seine vier Wände besuchsfreundlicher zu gestalten, wofür sich als erster Schritt die Zerstörung der filigran in die Ecken der Zimmerdecke hineinkonstruierten Spinnennetze anböte. Polgar wundert sich, wieviel Kraft das Nichtstun in diesem Fall kostet.
Obwohl er weiß, dass Grübeln im Moment nicht die beste Lebenstechnik wäre, überlegt er immer wieder, was es war, das ihn so mitgenommen hat. Überlegt während des Abendbrots und während eines Spaziergangs. Und, nachdem er um sieben aufstand und durch die frühmorgendliche Stadt fuhr, um im Amt zu sein, bevor der Ansturm beginnt, während des Gesprächs mit der Frau vom Bafög-Amt.
Mögliche Ergebnisse:
1.) Dass er in seinem Studienplan zurückgeworfen wurde, weil welche die Fakultät besetzen.
2.) Dass er nicht lebt, sondern über das Leben schreibt, wenn er denn mal was schreiben kann.
2a) Dass er sich damit selbst verarscht, weil diese Spiegelungen ein ungutes Verhältnis zum Jetzt schaffen, was ja keine neue Erkenntnis ist. 2b) Dass er also wider besseres Wissen handelt.
3.) Dass Tikki unabwendbar Tikki ist und Polgar kein Stück vom Polgarsein abweicht. 3a) Dass sie nicht in einer Paralleldimension leben, in der etwas einen Tick anders wäre. In der es passen würde.
4.) Dass er will, dass es passt und dass er gleichzeitig will, dass es nicht passt.
5.) Dass es all das nicht sein kann.
6.) Dass er tiefer in das Geheimnis des Polgarseins hinabtauchen will, was ein fataler Wunsch sein könnte, angetrieben von der Sehnsucht nach der Tiefe, die vielleicht nur die andere Seite seiner Höhenangst ist. Und Kandidat Nummer eins für den eigentlichen Grund.
Eigentlich hatte er vorgehabt, Gesprächsnotizen anzufertigen, um die wichtigen Daten nicht zu vergessen, die ihm die Amtfrau vorbetet. Während des Schreibens war es irgendwie anders gekommen und er hatte es nicht einen Moment in Erwägung gezogen, diese Möglichkeit zur Introspektion wegen so etwas Banalem wie der Finanzierung seines Lebens ungenutzt verstreichen zu lassen.
Als er aus dem Amt kommt, ist es später Vormittag. Der Tag hat Hitze bekommen und eine schwüle schwere Luft, die das Atmen erschwert. Polgar zieht die Strickjacke aus und will sie in seine Umhängetasche stecken; bekommt sie aber auch mit Quetschen und Umschichtung von Collegeblöcken, Büchern und Netbook nicht hinein. Er legt die Jacke über den Lenker, denkt flüchtig, dass man das nicht machen sollte, schwingt sich auf das Rennrad und fährt langsam über Straßen und Fahrradwege Richtung Innenstadt. Die Bewegung sorgt für ein gewisses Freiheitsgefühl, das immer auch Gedankenbiotop ist.
Vielleicht ist es einfach die lächerliche Beschissenheit der Welt, die mir zu schaffen macht, denkt er.
Polgar hält an einer roten Ampel, lässt das Lächeln einer jungen Frau von seinem unbewegten Gesicht abprallen und streicht über die raspelkurzen Haare. Nein, entscheidet er. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir so was Abstraktes etwas ausmacht.
Wer weiß, meldet sich der nächste Gedanke auf der anderen Straßenseite, wer kennt sich schon.
Ach je, wie lange brauche ich denn, um auf so einen Allgemeinplatz zu kommen! Außerdem bin ich ja wohl egoistisch genug, um vor Weltschmerzattitüde gefeit zu sein!
Und warum warst du morgens so wütend und den ganzen Tag am Grübeln?
Wenn ich das mal wüsste.
In einer etwas schneller genommenen Kurve sieht Polgar, wie das Vorderrad die Strickjacke frisst - Millisekunden später wird er vom bockenden Sattel über den Lenker katapultiert. Polgar fliegt mit ausgebreiteten Armen und Beinen, wie ein von einem Urwaldriesen segelnder Laubfrosch, Richtung Bürgersteig. Aufprall. Froschperspektive.
Diese lahmen Leute, denkt er, wie lange brauchen die denn, um mir zu helfen.
Der Brustkorb vibriert. Nicht bewegen, denkt er. Wenn ich verletzt bin, ist es am besten, ich bewege mich nicht. Warte, bis der Schmerz kommt. Der sagt dir, was los ist.
Wie langsam alle sind. Er sieht einer Frau in die Augen, die etwa zehn Meter entfernt steht und ihn äonenlange Sekunden anglotzt, als wäre sie gelähmt.
Sein Kopf dröhnt, er schmeckt Blut im Mund.
Ist das meine letzte Perspektive?, fragt er sich. Der Blick auf eine Bildschirmgläubige, die nicht begreift, dass mal etwas in der Realität passiert; die nicht weiß, wie Handeln geht.
Sein Kopf ist nach oben gereckt wie bei einer Schildkröte, als müsste er ihn immer noch schützen. Endlich hat das Dröhnen einen Grund, denkt er. Der Blutgeschmack? Meine Zähne! Hoffentlich fehlt mir kein Zahn! Polgar tastet mit der Zunge die Zahnreihen ab, alle da. Dafür beginnen Knie und Ellbogen zu schmerzen.
Eine andere Frau läuft auf ihn zu, "geht es ihnen gut? Sind sie verletzt?", ruft sie von weitem.
Keine Ahnung, denkt er, findet aber auf einmal albern, wie er daliegt – mit dieser Schildkrötenkopfhaltung! Diese Gedanken ans Ende! Reglos, damit er nicht auseinanderfällt!
Polgar stemmt sich hoch und ist auf den Beinen, bevor die Frau bei ihm ist.
Schlussakt
Zwei Wochen später trifft er die anderen wieder. Sie haben sich über soziale Netzwerke mit anderen Kommilitonen verabredet, um endlich genug Stimmen gegen die Dagegen-Leute zusammenzukriegen. Es dauerte drei Wochen, bis die Ergebnisse des Nichthandelns die Nichthandelnden zum Handeln bewegten. Bis den Leuten bewusst wurde, dass es so weitergehen würde, wenn sie sich nicht dafür einsetzen, dass es aufhört. Jetzt also eine Anti-Anti-Aktion. Im immer noch besetzten Hörsaal wird über die weitere Besetzung und im Anschluss über die Inhalte einer Resolution abgestimmt.
Die Aktion wird mit 187 gegen 130 Stimmen aufgehoben, der ganze Saal scheint zu jubeln. "Ich verstehe immer noch nicht", sagt Tulli über den Lärm hinweg zu Polgar, "dass nicht mal 200 Hanseln den Betrieb einer Fakultät drei Wochen lahmlegen konnten, an der 2500 Studierende lernen."
Der hebt die Hand, "warte, das will ich hören." Ein dickes, freundlich aussehendes Mädchen schlägt vor, in die Abschlussresolution, die offiziell dem Senat übergeben werden soll, unbedingt einzubringen, dass man vom Militäretat nehmen solle, was der Bildung fehlt. Das führt zu erregten Zwischenrufen und begeistertem Geklatsche, bis jemand feststellt, dass Länder keinen Militäretat hätten. Ein klassisch ungepflegter Langhaariger bringt vor, dass man wenigstens fordern müsse, Forschung solle friedens- und nicht profitorientiert sein. Polgar notiert die Vorschläge.
"Am besten war der von letzter Woche", sagt Kess. "Der meinte, wir müssten vorzeigbare Ergebnisse haben. Einen Forderungskatalog!"
"Ist doch richtig", sagt Tulli. "Haben wir gleich fertig."
"Wie konnten die dabei ernst bleiben", sagt Kess. "Ich meine, die hocken hier zwei Wochen zusammen und machen was genau?"
Tulli antwortet, ohne vom Netbook aufzusehen. "Alternative Workshops und öffentliche Vorlesungen, Sternmarsch, Protestcamp vor dem Rathaus ... es waren übrigens drei Wochen ... du bist bestimmt durcheinandergeraten wegen deines Urlaubs."
"Mag ja sein", sagt Polgar, "die haben schon was gemacht. Aber Forderungen! Das wäre doch das Erste: Ich überlege mir, was ich mit meiner Aktion überhaupt erreichen will."
"Wow, Polgar!", sagt Tikki. "Willkommen zurück bei den Lebenden."
Polgar denkt, dass er sich auf keine ihrer Scheindiskussionen mehr einlassen wird. Die Sache ist ihnen irgendwie aus den Händen geraten. Da werden Themen, die eigentlich niemandes Herzensthema sind, verhandelt, als hinge etwas sehr bedeutsames daran.
Natürlich ist nichts deutlicher, als worum es eigentlich geht, doch diesem diffusen Thema mit Worten zur Verdichtung zu verhelfen ist das Letzte, was er will. Polgar macht eine Geste, als drücke er etwas von oben nach unten, um diese relativ komplexe Angelegenheit auszudrücken.
"Pfff!", macht Tikki.