Mitglied
- Beitritt
- 22.05.2018
- Beiträge
- 46
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Dagegen ankommen
Ich stehe im Garten. Genau auf der Mitte des frisch gemähten Kunstrasens, den sonst niemand außer mir betreten mag. Ein Ziehen in der Lende. Unter einem Regenschauer stehen. Ein Tier unter einem Haufen von Herbstlaub vor hungrigen Hunden versteckt. Besser kann ich mein Bauchgefühl heute nicht beschreiben. Mein Magen ist ganz kalt. Auf dem Kunstrasen stehe ich und starrte in den Himmel. Meine Arme baumeln an hängenden Schultern. Das Licht ist fahl, krank, und obwohl der Himmel wolkenfrei ist, sieht man die Sonne nicht. Es weht kein Wind. Alles bewegt sich nur noch auf Pfoten seit ich alleine bin. Seit heute morgen traue Ich mich nicht mehr, Gedanken laut zu sagen. Diese Stille ist dadrüber. Sie bedeutet mir etwas. Der Springenbrunnen in meinem Teich hat immer geplätschert. Jetzt steht das Teichwasser. Trüb, tot. Auf dem Seerosenblatt sitzt ein Frosch mit Backen, die sich aufblähen wie kleine Brandblasen. Aber kein Quaken. Ich muss einfach lernen, dagegen anzukommen
Ich fühle noch. Knete Daumen durch kalte Finger. Wie sehr wünsche ich mir jetzt den Rasenmäher meines Nachbarns oder Lärm von der Umgehungsstraße oder die Turbinen eines Flugzeugs, das über mein Haus fliegt oder ... oder irgendetwas, was man hören könnte. Doch da ist nichts mehr.Die Welt hat ihren Mund zu gemacht. Hält die Luft an. Manchmal muss auch Mutter Erde die Luft anhalten.
Manchmal muss sie wohl einfach leise sein, weil etwas auf sie zukommt. Ich kann es in jedem Haar meines Körpers fühlen. Es kommt in unsere Richtung. Wenn ich Glück habe, schwimmt es vorbei. Vielleicht gibt es ja einen guten Grund dafür, dass das Universum so dunkel ist. dass ich hier so an den Rand gedrängt, wie ein Aussätziger in einer Höhle lebe.
Ich lege beide Hände auf meinen Mund. Ich hab das gerade geflüstert. Ich hab das gar nicht richtig gemerkt. Mein Mund hat sich mehr bewegt, als ich es zum Atmen brauche. Ich warte ängstlich. Nichts geschieht. Glück gehabt.
Es wird etwas weniger, wenn ich alleine bin.
Eigentlich hat es schon vor dem Besuch beim Arzt angefangen. Aber es hat erst sehr viel später aufgehört. Etwas sorgt sich wohl um mich, dass ich besser leise sein soll. Und nicht nur ich soll leise sein. Alles was es gibt möchte sich genau so still an dem Rest meines Lebens beteiligen. Als ob ich dabei noch mehr Hilfe gebrauchen könnte.
Ein aufregender Gedanke schlägt in meinem Hirn ein. Ich blicke hinab und betrachte sorgfältig meine Handflächen. Einfach mal klatschen? Nur einmal. Ganz kurz.
Die Neugierde stirbt. Mein Nachbar hat mich belauscht und ich gehe mit geballten Fäusten durch die Verandatür.
Ich wache auf. Mein Kopf tut noch weh von der Flasche Weißwein am Vorabend. Mein Wecker hat noch nicht geklingelt. Es ist 06:59 Uhr. In einer Minute wird er lostrillern, wie er es jeden Morgen macht. Ich liege neben ihr im Bett. Auf der Seite, die an der Wand liegt. Sie schläft immer an der Tür wegen ihrer kleinen Blase und nimmt dafür in Kauf, dass nächtliche Einbrecher zuerst über sie herfallen, was bis Dato noch nicht der Fall gewesen war. Ich mochte es nicht, wenn sie nachts über mich herüberstieg, nur um aufs Klo zu gehen.
Ich fahre mit der Hand über ihre Stirn und denke nach. Meine Augen haben sich gerade erst einen samtroten Morgenmantel übergestreift. Wieso ist sie noch nicht wach? Sie schnarcht nicht. Ein glücklicher Ausnahmefall an diesem Morgen. Das Fenster ist auf Kipp geöffnet, doch es weht kein Wind durch den Spalt. Keine nervtötenden Baustellengeräusche oder plärrende Kinderstimmen an diesem Morgen in meinem Schlafzimmer. Kein Hund bellt. Die Heizung dröhnt nicht, der Wasserhahn im Bad tropft nicht. Habe ich alles repariert?
Ich betrachte noch ein weiteres Mal den Wecker und lausche. Eine halbe Minute noch, dann wird es läuten. Kein Ticken, kein Krokodil. Zusammenhanglos im Sinn. Ich bin noch nicht nichtürn und sollte die Augen noch einmal schließen.
Kein Straßenlärm da draußen, keine Kaffeemaschine, unten in der Küche. Ihr Sohn macht die immer vor der Arbeit an.
Alles im Vakuum unter einer Kuppel.
Der Sekundenzeiger der Uhr bewegt sich auf seiner Rotation um das Ziffernblatt. Die Zahlen von eins bis zwölf wirken so spitz, dass man sich an ihren Kanten schneiden könnte.
Ich bin aufgewacht, weil mich kein Geräusch geweckt hat.
Ungefähr so, wie wenn ein Zugreisender im Waggon einschläft und in dem Moment aufwacht, in dem der Zug in den Bahnhof einfährt. Vier Sekunden noch. Ich will nicht mehr aufstehen. Ich kann nicht mehr.
Ich strecke den rechten Arm aus zu ihrem Nachttisch und betätigte den Knopf auf dem kleinen Ding. Die Welt geht weiter. Glück gehabt.
Ich sitze an einer Tastatur, die mir nicht gehört und traue mich nicht, auf die Tasten zu tippen. Ich sitze nur da. In einem Büro. Und starre die weiße Seite eines Dokuments an. Ich kann den Text mittlerweile an der Decke sehen, wenn ich hochschaue und blinzel. Zwölf Seiten noch. Bericht muss bis zur Mittagspause fertig sein. Ich fahr mit den Handen über das Kinn. Meine Bartstoppeln geben Lärm von sich, wenn meine Handballen darüber hinwegstreichen. Viel zu laut.
Von einer Welle unerledigter Arbeiten überwältigt, lege ich meine Stirn auf den Schreibtisch und warte. Ich lausche dem leisen Klang des Kofferradios auf der Fensterbank. Dem Getippe meiner Kollegen. Ebenfalls
überaus wichtige Arbeiten. Klatsch und Tratsch von Frau So. Das neueste Hier und Da. Und Fräulein So und So, die so ganz weit weg von mir am anderen Ende des Raumes steht, lacht so komisch darüber und zeigt eine schmale Linie von Zähnen. Quatschen, als wäre niemand Anderes hier. Und der Gong, der immer dann ertönt, wenn ein Besucher aufgerufen wird, der eine Nummer am Automaten gezogen hat.
Ich wache auf. Ist heute gar niemand im Haus, frage ich mich. Doch als ich unsicher über die Bordwand meines Schreibtisches hinwegsehe, sind da all die Haar- und hohen Stirnansätze meiner Kollegen im Raum. Und auch durch die Milchglasscheibe, die den Blick in den Warteraum etwas trübt, sehe ich mindestens sechs Besucher.
Eilig setzte ich mich auf und will wieder zu tippen anfangen. Hab die richtigen Worte jetzt kristallklar im Kopf, die ich formulieren muss, doch etwas hindert mich daran. Dieses Heftige. Dieses Klacken. Das 'A' auf meiner Tastatur beginnt mich anzuschreien und ich erschrecke wie ein Tier, das von den Urvätern meiner Vorväter gejagt wurde. Einer meiner Kollegen sieht mich an und bedeutet mir mit einer Handgeste, still zu sein.
Mein Zeigefingerknochen könnte knacken, sobald ich ihn austrecke. Schweiß auf meiner Stirn. So viel Stress. So wenig Zeit. Ich will nicht mehr. Ich will schreien.
Ein leeres Blatt Kopierpapier fällt von meinem Tisch. Ich hatte es mit meinem Ellbogen berührt. Es segelt in Zeitlupe zu Boden. Eintausend Ameisen krabbeln über den limettengrünen, hässlichen Teppichboden. Das hundertfache Gewicht stemmen können. Nur eine von Ihnen muss es doch auffangen. Bitte. Mein Herz tut jetzt weh. Es sind keine Ameisen. Es sind Hornissen.
Das Blatt legt sich sanft über den Schwarm. Alles brummt über den Büroteppich hinweg.
Alle meine Kollegen, selbst die Besucher hinter der Glasscheibe gucken mich an. Erheben sich gleichzeitig von ihren gepolsterten Plastiksitzen. Jeder, der in diesem Moment einen freien Blick auf den verschwitzten, kleinen Mann mit Krawatte hat, steht auf und schaut mich fassungslos an. Ich schnappe nach Luft. Mein Gesicht ist weg. Die Krawatte ist noch da um meinen Hals und sie ist sehr hellbraun. Wie die Farbe von Kaffee mit sehr viel Milch. All diese Menschen formen mit ausgestreckten Zeigefingern über geschlossenen Lippen dieselbe Geste.
Ich stehe im Verkehr. Direkt an der Kreuzung. Nur das keines der Autos sich vom Fleck zu bewegen scheint. Alle Motoren sind ausgestellt. Niemand hupt. Keiner scheint es heute eilig zu haben, zur Arbeit zu kommen oder zur Uni oder zum Supermarkt oder in die eigenen vier Wände. Nachhause. Auf der Europakreuzung treffen sich fünf Straßen. An diesem Morgen alle samt gefüllt mit dicht an dicht stehenden, reglosen, bunten Kraftfahrzeugen. Von der Mitte aus gesehen, wo ich stehe, auf einem kleinen Fleckchen Asphalt, sieht die Kreuzung aus wie ein riesiger toter Tintenfisch mit Sonnendächersaugnäpfen auf den Armen. Marke: Volkswagen, Mercedes Benz, Renault und Mazda.
Ich will den Verkehr zwar wieder in Gang bringen, fühle mich aber dazu nicht imstande. Niemand beachtet die vielen, wilden Handzeichen. Kein Fahrer sieht den anderen an. Will ja schließlich auch kein einziger weiter kommen. Was soll ich da noch tun?
Ich bin überfordert mit der Situation. Möchte doch Autorität ausstrahlen. Aber wie kann man das überhaupt richtig machen, wenn alle einen ansehen? Ich bin ein Strahlen von Tapete, der mit zu wenig Leim an die Wand gekleistert wurde und sich nun langsam von alleine hinabaufrollt.
Ich muss dagegen ankommen. Bin auf der Kuppel des Leuchtturms, die für Touristen frei begehbar ist im Sommer. Der Himmel ist leicht bewölkt. Es sieht so aus, als ob ein Unwetter aufzieht. Aber es nieselt noch nicht einmal. Der Sonnenuntergang ist irgendwo hinter den Wolken. Wäre schön den mitzubekommen von hier oben. So ist es eher wie LED-Licht unter einen dünnen Schicht Hornhaut. Viele Menschen sind von diesem Leuchtturm runtergesprungen. Hab ich gelesen. Die Ostsee wirft heute abend keine Wellen. Das Meer ist blau und wird dunkler, wie die Oberfläche einer gewaltigen Iris, die sich am Horizont leicht krümmt. Meine Finger gleiten über die Reling. Das gefällt mir. Ich kann mich einfach mal wieder fallen lassen. Und dann fahr ich wieder nachhause. Fühle mich eklig, als meine Finger über das Steuerrad gleiten. Als würde ein Porno in meinem Kopf noch weiterlaufen und ich bin schon längst fertig. Meine Sohlen sollten jetzt quietschen, wenn ich auf das Gaspedal steige. Das Getriebe sollte knarzen, ja selbst meine Kleidung sollte knatternd Falten schlagen, wenn ich die Schultern in die Seiten lege. Ich schreie aus voller Kehle. Niemand hört es. Eine einsame Eiche am Straßenrand sieht so aus, als ob sie ihre Äste eng an den mächtigen Stamm gelegt hat, um mit Harz gefüllte Ohrmuscheln zu bedecken. Trommelfelder aus Holz. Zungen unter dem Asphalt begraben. Jetzt bloß nicht aufgeben. Ich muss dagegen ankommen. Meine Wangen werden ganz warm, die Stimmbänder zittern vor Schmerzen, Luft pumpt aus meiner Lunge durch die Röhre in den Rachen aus dem Mundraum in die Welt in meinem Wagen und ich werde solange weitermachen, bis ich endlich da gegen ankomme.