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Dadak, dadak
„Servus, Anda! Bis in drei Wochen!“, haben sie gerufen, froh, dem Dauerregen zu entkommen; Lutz übergab ihr mit großer Geste die Partylandschaft: „Weil du dich immer drückst, kannste das jetzt wiedergutmachen.“ Wäre kein Wunder, wenn er ihr einen Putzlappen in die Hand gedrückt hätte.
Aber nicht mit ihr! Sie tritt gegen eine Flasche und schaut angewidert über das Chaos.
Trotzdem war es Glück, dass sie hier einziehen konnte. Altbau, hohe Räume, kein Vergleich zur Mansarde, die sie mit Curd bewohnt hatte.
Sie will hier bleiben, nirgendwo hinfahren; erst einmal zu sich kommen nach ihrem privaten Desaster. Die Abwesenheit der anderen ist ein Geschenk für sie, die ungewohnte Ruhe, doch – wie auf leisen Sohlen kommt Melancholie auf, ein Gefühl der Verlassenheit.
Die Pflanzen welken, es riecht nicht gut.
Sie müsste einkaufen, dringend. Und aufräumen. Wenigstens die stinkenden Aschenbecher leeren.
Aber das macht sie nicht, will es auch gar nicht. Wenn die surfen, heißt das nicht, dass sie hier den Schweinestall ausmistet. Die können die Hinterlassenschaften der Abschiedsnacht nach ihrer Rückkehr selbst wegräumen.
Nein, sie hatte nicht mitgefeiert. Für sie gab es keinen Grund dazu, und sie war auch nicht gefragt worden.
Die Regenzeit scheint vorbei zu sein, endlich wieder Sonne. Die schafft es durch die verschmierten Scheiben, scheint dem Fernseher mitten ins Gesicht. Der läuft seit Abreise ihrer Mitbewohner. Jolanda könnte ihn ausschalten, aber das Gedudel ist ihr lieber als totale Stille.
Curd hatte die letzte Zeit eine unangenehme Art, mit ihr zu reden. Schneidend und ätzend, zuletzt auch vulgär – so hat ihr Kopf diese Stimme gespeichert, und dort rumort sie in Dauerschleife.
Statt mit ihr ist er mit diesem durchgeknallten Vamp abgehauen. Sein Gequatsche von Uruguay war wohl Fantasie, doch Jolanda ist es egal; Hauptsache, er belästigt sie nicht mehr.
Unentschlossen steht sie an der Garderobe. Soll ich in die Stadt gehen, fragt sie sich – zu den verkniffenen Gesichtern, mit den unaufrichtigen Augen, zu Lärm, Abgasen und Hektik? Mich vielleicht noch anmachen lassen? Nein. Ganz klar nein. Sie schaut in die winzige Speisekammer. Ein Glas Würstchen, eine Dose Fisch, Cornflakes?
Nichts, nur thailändisches Reispapier und ein Glas Perlzwiebeln, die sie auch in allerschlimmster Not ungenießbar findet. Das Wünschen hat nicht geholfen.
Früher war das anders, im großen Haus am Berg. Da wurden ihr alle Wünsche erfüllt, aber diese herrlichen Zeiten sind für immer vorbei. Jolanda versinkt oft in Erinnerungen an diese zauberhaften Jahre, wenn sie der Köchin ihre Sonderwünsche mitteilte und sich nehmen konnte, worauf sie Lust hatte. Auch das schöne Haus hat einen neuen Besitzer.
Die Fassaden gegenüber sind zum Davonlaufen hässlich, die sprunghaft an- und ausgehende Reklame macht sie nicht schöner. Seit ihrem ersten Diskobesuch hat sie keinen Alkohol mehr getrunken, jetzt wäre ihr danach. Eine Riesenflasche Wodka, die sie so richtig durchschüttelt vom Hirn bis in die Zehenspitzen, freimacht vom Curd-Schrott. Die den Trübsinn wegfrisst, dieses Negative, das ihr den Tag vermiest. Ihr neue Horizonte aufzeigt – Liebe, Musik, Literatur, Reisen.
Jolanda verzieht das Gesicht. Liebe! Was soll das schon sein, wenn sie so schnell in Verachtung umschlägt, in Hass? Sie bekommt Herzrasen, wenn sie seine Seite anklickt. Macht sie viel zu oft. Mit der Zeitung erschlägt sie einen blau schillernden Brummer.
Sie haben Konzerte besucht. Da hatte er sie Jola genannt. Obwohl sich nur ihre Hände berührten, schossen Gefühle, Botschaften, Wünsche hin und her; bei furioso gruben sich die Nägel ins Fleisch. Und sein Schwärmen für Literatur! Ein Bändchen voller Schwachsinn war ihm zwanzig Euro wert; zu Lesungen waren sie gefahren – zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück. Jolanda verstand nicht, dass Leute sich vorlesen ließen, wenn sie das Buch auch zu Hause lesen könnten. Und reisen?
Er wollte mit ihr nach Uruguay. Warum nicht gleich auf den Mond?
Über all das könnte sie kotzen, möchte wie ein Vulkan ausbrechen. Über Verlogenheit, Wichtigtuerei, Egoismus. Der Vulkan Jolanda, mit glühenden Augen. Und schmerzendem Magen, den der Hunger blutig kratzt mit seinen Klauen. Sie wankt zur Couch und zeigt der Welt für Stunden die kalte Schulter.
Da ist sie weit weg. Halb ohnmächtig, in den dünnen Sphären von Ladakh. Mehr Äther als Luft, es wabert und schmerzt.
Auf dem Laptop hat sie Bücher aufgetürmt. Sie will das Ding nie wieder aufklappen und sich wehtun.
Was für ein mieser Charakter. Wenn dieses Flittchen Ausstrahlung hätte, irgendwas Tolles – aber mit dieser Schlampe? Entsetzlich aufgetakelt, alles künstlich. Sie verkrampft sich, vor Hunger wird ihr schwarz vor Augen.
Wie ein Verrückter rast der Planet durchs All. Jolanda rast mit, so kotzübel, wie ihr ist.
Sie greift nach dem weißen Papier, nimmt einen Stift. Krakelt ziellos herum, zeichnen kann sie nicht. Aber Strichmännchen! Pünktchen, Pünktchen, Komma, Strich – fertig ist das Mondgesicht. Jetzt noch Arme, Body, zwei Beine mit Haken statt Füßen. Aber wieso mit Curds Bart? Wütend zerknüllt sie das Blatt. Jolanda malt ein neues Männchen.
Und wer könnte das sein? Ihr Stift stippt rhythmisch gegen die Vorderzähne, dadak, dadak. Vieles ist möglich. Ein Braver, einfältig, aber fleißig – oder ein Smarter, Womanizer, Tattooprinz?
Eigentlich alles, nur kein Mistkerl wie Curd, dieses niederträchtige Stück.
Jolas Augen werden größer, und runder. Voodoo! Sie glättet das zerknüllte Blatt. Messer in den Rücken, ein Beil spaltet seinen Schädel, ein Stein zerquetscht ihm die Eier. Das tut gut.
Jola ist bei Nummer drei, einem, nein, diesmal einer Frau. Mit zwei Aprikosen und Strichhaaren. Putzfrau fällt ihr spontan ein. Wie bitte? Nicht etwa Lehrerin oder Ärztin? Aber der Mann ist Chef, irgendwo? Oder doch lieber Pilot mit vier Goldstreifen auf der Schulter. Sie erinnert sich an das ganze Gender-Gerede, sollte da wirklich etwas dran sein? Dadak. Sie sollte praktisch denken!
Es sollte einer sein, der ihr nutzt, ihre Arbeit macht. Ja, das ergäbe Sinn.
Aber einer schafft nichts, viele bräuchte sie; zu tun gäbe es genug. Glanz überzieht Jolandas Augen, ganz merkwürdig wird ihr zumute.
Zuerst wäre ihr Zimmer dran. Sieht schlimm aus. Sie malt den ersten Trupp, zehn Leute. Die sollen das ordentlich machen. Dadak, dadak, Fensterputzen! Da reichen sechs Leute. Für das Bad malt sie einen Sechsertrupp mit Mundschutz.
Bald sind fünfzig Mann in Jolandas Diensten. Sie nimmt mit einem Mal Dinge wahr, die sie bislang übersehen hatte. Den angekokelten Christbaum auf dem Balkon, die verkrusteten Kochplatten, das fleckige Laken. Sie braucht mehr Personal.
Jolandas Welt wird größer. Das Gefühl, etwas zu gestalten, in Gang zu setzen auf genau die Art, die sie sich wünscht, ist unvergleichlich. Frische Luft! Sie reißt die Fenster auf, schaut in die Nussbäume, saugt die würzige Luft tief in sich hinein und drückt sie mit lautem Prusten wieder heraus.
Wenn die Nüsse fallen, wären Helfer gut. Man könnte Nussöl pressen, in hübsche Fläschchen abfüllen. Jolanda malt noch zwei Grafiker mit Baskenmütze, die sollen schöne Etiketten entwerfen, bisschen altmodisch, wie die Eau-de-Cologne-Flasche ihrer Großmutter. Ja, etwas Französisches! Rösches Baguette fällt ihr ein, mit sanftem Brie, oder Quiche. Und Ente. Und dieses Boeuf – wie hieß das noch? Sie kann an nichts anderes denken.
Wie lange hat sie schon nichts mehr gegessen? Zwei oder drei Tage, vier oder fünf?
Ein Koch muss her, ein französischer Küchenchef mit einer Riesen-Kochmütze! Zur Verstärkung malt sie ihm ein Trüppchen von Beiköchen und Küchenmädchen. Auch einen Butler gönnt sie sich, mit nur zwei Haaren, aber Mittelscheitel. Der hat die Augen eines Uhus. Die stehen für Diskretion, Weisheit und Weitsicht.
Sie spürt Stiche im Magen, radikal streicht sie die Küchenmannschaft zusammen – was weiß denn dieser Franzose von Reibekuchen, Frikadellen und Sahnehering?
Dadak. Sie könnte Königin sein. Oder gar Kaiserin! Mit Chauffeuren, Sekretären, Schneidern, Friseuren. Jolanda kann ihr Glück nicht fassen. In ihrem Inneren brennt eine nie gekannte Leidenschaft, sie dirigiert ihre Vasallen, plant rauschende Feste.
Grässlicher Hunger wütet in ihr. Es wäre gut, wenn das Buffet bald fertig würde für all die Berühmtheiten und Exzellenzen, denn ihr Kühlschrank ist leer. Rote und schwarze Sonnen zerplatzen vor ihren Augen, sie fühlt sich sterbenselend, schlurft in die Küche. Wenigstens etwas Wasser!
Das ist rostigbraun; ungeduldig wartet sie, bis es klar fließt, nimmt einen tiefen Schluck. Es brennt wie Feuer, sie würgt, hustet, spuckt, bekommt keine Luft. Ihr wird schwindlig.
Jolanda versucht, sich am Beckenrand festzuhalten, ist zu schwach und schlägt rückwärts auf die Fliesen. Es knirscht widerlich. Klebriges, Feuchtes breitet sich aus – rätselhaft warm und kühl zugleich. Sie gerät in Panik, versucht, auf die Beine zu kommen. Ihre Hände finden keinen Halt, hilflos rutscht sie auf die Seite. Schaut verwundert in die rote Lache, und versteht.
Sie muss sich fügen, und eine merkwürdige Ruhe überkommt sie.
Alles scheint wie in Glas gegossen. Die Vorhänge bewegen sich nicht, der Küchentisch wirkt von unten wie ein Baldachin auf Säulen. Oder eine Gruft? Ihr ist, als höre sie ganz feines Klingen von Schellen und Tambourins. Sie verspürt ein Hochgefühl von Leichtigkeit, von Schweben. Die Gebetsfahnen in zarten Pastellfarben flattern heiter vor all den silbernen Achttausendern. Ein wunderbarer Rhythmus liegt in der Luft, unablässig kreisen die Gebetsmühlen – dadak, dadak.