Dachgeheimnisse
Etwas atemlos erreichte ich die Treppe. Dann blieb ich kurz stehen. Das war wohl ein Fehler. Es griff mir jemand um die Taille. „Ich hab dich, du kleine Schlange“
Ich kicherte. So viel Ausdauer hätte ich Tim gar nicht zugetraut.
Ich versuchte mich wieder loszureißen, aber das lies er nicht zu. Stattdessen fing er an, mich zu kitzeln. Ich wand mich unter lachen.
Dann ließ er wieder etwas locker und ich ergriff spielerisch die Flucht.
Fangespielen im Büro- das konnte man sich wirklich nur leisten, wenn der Chef persönlich mit von der Partie war.
Tim war mein bester Freund, etwas pummelich aber furchtbar nett und romantisch. Ein Homosexueller wie aus dem Bilderbuch.
„Süße ich muss zurück. Was soll ich denn den Kunden sagen?“
„Nennen wir es Mitarbeiter-Motivationstraining. Das wird deine Kunden von dir überzeugen.“ Antwortete ich forsch.
Ich rannte die Treppe ein Stück weiter hoch.
Tim winkte ab.
„Muss los, bis dann!“
Er warf mir einen Luftkuss zu und verschwand im Fahrstuhl.
Ich guckte ich mich um. Ich war schon Jahre in dem Bürogebäude angestellt, aber noch nie bis so weit oben gekommen. Eine Kollegin hatte mir mal verraten, es gäbe einen Zugang direkt auf das Dach. Ich hatte bisher nicht die Zeit gefunden nachzuforschen.
Ich lief die Treppen bis zum Ende herauf und landete an einer Tür. Sie war tatsächlich offen und führte geradewegs auf den Dachboden des Hauses. Die Situation erinnerte mich an meine Kindheit und den „gefährlichen“ Expeditionen auf den Schuldachboden.
Eine etwas klapprige Leiter führte zu einer Luke.
Von Abenteuerlust besetzt kletterte ich herauf und zwängte mich durch die Luke auf das Dach.
Ich war von der Höhe berauscht. Man konnte beinahe die ganze Stadt überblicken. Eine leichte Brise wehte mir um die Nase. Das war es wirklich wert gewesen, hier herauf zu kommen.
Dann sah ich jemanden am Rand des Daches stehen. Ich bekam eine Gänsehaut. War da wirklich ein Mensch, oder täuschten mich meine Sinne?
Ich kam ein Stück näher.
Soweit ich aus der Entfernung erkennen konnte, war es eine Frau. Eine zierliche Person mit längeren, grauen Haaren.
Ich schauderte wieder.
Die Alte auf dem Dach - Das klang wie ein guter Psychothriller.
Die Frau guckte gedankenverloren in die Tiefe. Hatte sie etwa vor zu springen?
Ich stellte mich neben sie.
„Hallo“ flüsterte ich. Meine Stimme schien zu versagen.
„ich weiß, was Sie jetzt denken.“ Antwortete sie mit einer ebenso leisen und gebrechlichen Stimme.
„Ja, ich werde springen. Und Sie können mich nicht aufhalten. Ich habe in meinem Leben nur schlechtes getan. Ich habe beinahe ein anderes Leben verpfuscht. Ich bin es nicht Wert, weiter zu leben“
Ich zitterte. Die Frau wollte sich vor meinen Augen da herunterstürzen. In mir zog sich alles zusammen. Das konnte doch nur ein schlechter Traum sein.
Ich versuchte, sie zum weiterreden zu bringen. Wer erzählt, kann nicht springen. Und irgendwie musste ich Hilfe holen.
„Jeder Mensch ist es Wert zu leben.“ Versuchte ich ihr ins Gewissen zu reden.
Die alte Frau drehte sich nicht um. Sie guckte nur weiter nach unten. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen.
Ich habe nichts mehr zu verlieren, ich habe bereits alles verloren. Meine Tochter, meine Familie und mich selbst. Sie wissen nicht, was ich getan habe. Ich fühle mich so schuldig.“
Erleichtert stellte ich fest, dass sie anscheinend Vertrauen zu mir gefasst hatte und ich hakte weiter nach.
„Was haben sie denn so schreckliches getan?“
„Ich war 23“ sie stockte.
Erwartend guckte ich auf, aber sie wendete ihren Blick nicht von der Tiefe.
„Ich war ganz am Anfang einer Modellkarriere. Ich hatte das, was die Männer sehen wollten und ich genoss ihre Blicke. Um weiter zu kommen musste ich Leistung zeigen. Die Branche war knallhart.
Von einer dieser Leistungen wurde ich dann schwanger. Es war zu spät zum Abtreiben. Ich hasste dieses Kind, welches in mir wuchs. Ich wollte verdammt noch mal berühmt werden. Da war kein Platz für ein Kind in meinem Leben.
Irgendwann bekam ich das Kind zu Hause. Obwohl ich alleine war, meisterte ich die Geburt ohne weitere Probleme.
Am liebsten hätte ich dieses schleimige Ding von mir gestoßen. Aber ich wickelte das Baby in ein paar Decken und versteckte es in dem Gästezimmer.
Dort blieb es auch einige Tage und manchmal wurde mir die Brust zu schwer und ich holte das Kind aus dem Zimmer, um es zu stillen. Dann legte ich es schnell wieder ab.
Ich wollte keine Gefühle für das Baby kriegen oder zeigen. Irgendwann wurden meine Nachbarn auf das Geschrei aufmerksam und ich erzählte ihnen etwas von dem Kind einer Freundin, die öfters zum Besuch war.“
Sie stockte wieder. Mein Herz pochte laut vor Aufregung.
„Sie blieben misstrauisch und dann stand die Polizei vor der Tür.
Sie durchsuchten meine Wohnung und fanden das unterernährte Kind in meinem Schlafzimmer. Ich wurde sofort verhaftet, aber ich war erleichtert. Das Kind war jetzt in guten Händen, das wusste ich.
Ich war zehn Jahre lang im Knast. Zehn ganze Jahre, in denen ich mir ausmalte wie ich es wieder gut machen könnte.
Als ich wieder frei kam, fand ich heraus, dass das Kind in eine Pflegefamilie kam. Ich wusste, ich hatte mir sämtliche Chancen verbaut, das Sorgerecht noch einmal zu bekommen. Ich habe es verloren.
Ich habe alles verloren, was einer Mutter wichtig sein könnte. Damals war ich so jung und so dumm-
Wären die Nachbarn nicht so aufmerksam gewesen, dann wäre ich jetzt ein Mörderin.“
Sie schluckte.
In mir kamen Bilder hoch.
Bilder von einer trügerischen Familienidylle.
„Mama?“ Flüsterte ich.
Sie drehte sich um.
Ich konnte zum ersten Mal in ihr Gesicht gucken. Es waren meine Augen.
Dann sprang sie.