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Dabei hatte ich mich so auf Emma gefreut
Für mich gibt es in unserem Wohnzimmer keinen Platz mehr. Auf der Couch, auf den Sesseln, auf den Stühlen am Esstisch, überall sitzen die Freundinnen meiner Mutter und schnattern, trinken Kaffee oder gackern wie kleine Mädchen. Ich bin allein mit ihnen. Mein Vater ist unterwegs. Er holt meine Mutter und Emma aus der Klinik ab. Deshalb sind sie alle bei uns, deshalb bleibt mir nur der Fußboden. Weil alle auf Emma warten. Emma, drei Tage alt und meine kleine Schwester.
Ich hatte mir eine Schwester gewünscht, als ich vier war. Vom Weihnachtsmann. Ich stellte mir vor, wie er in eines dieser Kinderparadiese stiefelt, das schönste Mädchen aussucht, es hübsch verpackt und unter unseren Weihnachtsbaum legt. Als ich in dem Jahr einen Hamster statt einer Schwester bekam, war ich ganz schön sauer auf den alten Herrn.
Den Hamster nannte ich Willi. Meine Mutter überfuhr ihn im Sommer mit dem Staubsauger, als ich mit ihm Verstecken spielte. Das war unser Lieblingsspiel. Ich setzte Willi auf den Fußboden, hielt mir die Augen zu, wartete eine Weile und er versteckte sich. Manchmal habe ich ihn einen ganzen Tag lang gesucht. Willi konnte sich gut verstecken. Nach seinem Tod begruben wir ihn in Omas Garten, unter dem Apfelbaum. Und jedes Jahr, wenn Oma uns Äpfel schenkte, begruben wir die Äpfel, weil ich dachte, dass da ein Stück von Willi drinsteckt.
Die Freundinnen meiner Mutter haben alle Geschenke mitgebracht. Ein rosa Geschenkpapierberg türmt sich auf der Kommode, wo sonst Muttis Tonskulpturen stehen. Die Tonfiguren haben dünne, lange Gliedmaßen und kleine, kugelige Körper. Aliens nenne ich sie. Meine Mutter sagt, es sei Kunst. Ich habe sie alle auf den Teppich nach unten gestellt, damit die Geschenke oben auf der Kommode Platz haben.
„Du bleibst hier und passt auf die Mädels auf“, hat mein Vater gesagt und mir zugezwinkert, bevor er losfuhr.
Die Frauen sind alle mindestens doppelt so alt und noch älter. Ich habe noch nie auf so viele und so alte Frauen aufgepasst. Und ich weiß nicht, wie das geht, was ich eigentlich tun soll. Also hocke ich zwischen den Ton-Aliens und versuche, die Frauen im Auge zu behalten. Und noch mehr versuche ich, ihre Gespräche zu ignorieren. Die Frauen reden vom Kinderkriegen und wie wunderbar es ist und erzählen so Geschichten. Ich glaube, ich will nie ein Kind bekommen. Schon allein die Vorstellung, wie dieses Kind da reinkommt, ist nicht gerade prickelnd.
Tamara steht am Küchenfenster und raucht. Ich überlege, ob ich es ihr verbieten sollte, wegen dem Baby und so. Aber wahrscheinlich würde sie mir nur den Kopf tätscheln, „ach Nele“, sagen und weiterrauchen. Das ist Tamaras Standardspruch. Wenn sie zu Besuch ist, dann steht sie am Küchenfenster und raucht, während meine Mutter am Tisch sitzt und sich mit ihr unterhält. Wenn ich in die Küche komme, um mir was aus dem Kühlschrank zu holen und sage: „Hier stinkt es!“, dann tätschelt Tamara mir den Kopf und stöhnt: „Ach Nele.“
Aber ich finde das wirklich nicht okay. Wegen dem Baby. Meine Mutter sagt, dass Neugeborene viel besser riechen als gucken können. Und wenn Emma ihr Zuhause nicht sehen kann, sondern riecht, und hier stinkt es nach Tamaras Zigaretten, da will sie doch gleich wieder weg.
Ich stehe auf und will zu Tamara gehen, als sie ruft: „Sie kommen! Sie kommen!“ Alle springen auf und stürmen das Küchenfenster oder den Hausflur. Ich laufe ins Bad, greife ein Deo, renne in die Küche und versprühe 'Sommerfrische'.
„Nele, hör auf damit, du verpestest ja die ganze Luft“, hustet Simone mich an und rudert wild mit den Armen.
Ich höre auf zu sprühen und stelle mir vor, wie Tamara und Simone auf einer Sommerwiese liegen. Schmetterlinge und Blumen um sie herum. Dann kommen Kühe auf die Wiese. So viele, dass Muttis Freundinnen nicht mehr wegkommen. Die stehen da zwischen all den Rindern. Erst, als die Kühe weitertrotten, können sie sich wieder bewegen. Und da ist die ganze Wiese voller Kacke und die beiden haben keine Schuhe mehr. Die haben die Kühe gefressen.
Im Flur wird es laut. Also ist Mutti mit Emma jetzt oben. Emma ist zu Hause! Ich bin im Badezimmer, wegen des Deos, und das ist eine verdammte Sackgasse, weil Muttis Freundinnen sich alle in unserem Flur drängeln. Ich höre meinen Vater, der ruft: "Nun lasst sie doch erstmal die Schuhe ausziehen!“ Und ich höre mich rufen: „Lasst mich doch mal durch!“ Ob sie auf meinen Vater hören, kann ich nicht sehen, auf mich hört jedenfalls niemand. Also hocke ich mich auf den Klodeckel und warte darauf, dass meine Mutter mich ruft, so, wie sie es sonst tut, wenn sie von der Arbeit kommt. Aber ich kann sie nicht hören. Kein: „Nele, ich bin da“, hilft mir, mich durch die Leiber zu zwingen. Da fällt mir ein, dass ich mein Geschenk noch holen muss. Also warte ich, bis sich der Stau vor der Badtür auflöst, und hole das Bild. Im Wohnzimmer stelle ich fest, dass zwar die meisten irgendwie wieder irgendwo sitzen, aber es stehen immer noch genügend rum, so dass ich mit der sperrigen Leinwand nicht durchkomme.
Ich sehe Mutti auf dem Sessel sitzen und Mutti sieht mich.
„Nele, komm her“, ruft sie und tatsächlich schieben sich die Frauen auseinander und machen Platz. Zwar nur ein bisschen und ich muss mit dem Bild aufpassen, aber immerhin. Mutti gibt mir einen Kuss auf die Wange und ich gebe Emma einen Kuss auf den Kopf.
Ich drehe mein Bild um und flüstere: „Für dich, kleine Schwester.“ Emmas Augen bleiben geschlossen, dafür werden Muttis immer größer.
„Ist das ein Vampir, Nele?“
„Ja“, sage ich stolz. Der Vampir ist ganz rosa und ich hatte schon Angst, dass man ihn deswegen nicht erkennen kann. Er wirkt gar nicht gruselig. „Der ist für Emmas Zimmer.“
„Aber du kannst doch so schöne Tiere malen? Warum hast du kein Tier für Emma gemalt?“
Das ist typisch meine Mutter. Schon seit einem Jahr male ich keine Tiere mehr, sondern Vampire. Aber das hat sie wieder nicht mitbekommen. Außerdem, Elefanten und so haben alle Babys in ihren Zimmern, und Emma ist nicht wie jedes Baby.
„So einen lustigen Elefanten. So einen, wie du ihn mir mal zum Geburtstag geschenkt hast.“
Immer wenn ihr ein Bild nicht gefällt, dann kommt sie mir mit dem Elefanten. Damals war ich acht Jahre alt! Der ist schrecklich, aber meine Mutter steht auf den.
Tamara seufzt: „Ach Nele.“
„Der ist wirklich schön, Nele. Aber ich weiß nicht, ob Emma ...“, weiter spricht meine Mutter nicht, denn Emma hat die Augen aufgeschlagen und gibt Töne von sich. Meine Mutter redet auf sie ein. Meine Mutter und ein paar andere. Ich zwänge mich aus dem Zimmer und suche meinen Vater. Der ist ins Schlafzimmer geflüchtet und spielt am Computer.
„Hilfst du mir, mein Bild in Emmas Zimmer aufzuhängen?“
„Mmmmh“, antwortet er, dreht sich aber nicht um oder macht sonst irgendwie Anstalten.
„Jetzt?“
„Kannst du mir vielleicht einen Kaffee besorgen, Nele. Die Mädels haben doch sicher welchen in der Küche stehen.“
„Bringst du dann das Bild an?“
„Was denn für ein Bild?“ Nun dreht er sich um und ich halte den Vampir hoch.
„Weiß deine Mutter davon?“
Ich nicke.
„Morgen vielleicht. Heute ist Sonntag, da darf man nicht bohren. Besorgst du mir den Kaffee?“
Schon bevor er das Wort „Kaffee“ ausgesprochen hatte, schaute er wieder auf den Bildschirm und flog mit seinem Raumschiff durch das All, um die Welt zu retten.
„Und mach die Tür hinter dir zu!“, ruft er, als ich gehe.
Als die Freundinnen endlich fort sind, liegen Papier und Schleifen auf dem Boden. Kaffeetassen und Teller stehen auf den Tischen. Aber ich bin froh, dass sie weg sind. Meine Mutter verlässt mit Emma das Wohnzimmer. Sie müsse sich ausruhen, es war doch sehr anstrengend gewesen. Ich will mit ihr gehen, aber mein Vater hält mich zurück: „Lass die mal ne Minute allein.“ Ich schaue den beiden nach und höre, wie das Schloss einrastet.
Mein Vampir glotzt mich an, und ich hasse ihn, wie er da rosarot grinst. Ich strecke ihm die Zunge raus, schließe die Augen und sehe, wie ich versuche die Schlafzimmertür zu öffnen. Aber das Schloss klemmt oder sonstwas. Ich zerre und drücke, rufe nach meinen Vater, damit er mir hilft, aber der ist mit seinem Raumschiff unterwegs. Also stemme ich mich dagegen. Trete und trommele mit den Fäusten. Meine Schultern, Füße und Hände sind blau. Ich renne auf die Straße und besorge mir einen Presslufthammer. Als die Tür anfängt nachzugeben, kurz bevor ich den Durchbruch erreiche, legt mein Vater mir seine Hand auf die Schulter und sagt: „Nele, hilf mir mal, das Chaos im Wohnzimmer zu beseitigen.“