Da habe ich es einfach getan
Ich sitze auf der Rückbank des Wagens. Der Mann neben mir schaut konsequent auf seiner Seite aus dem Fenster. Er mag mich nicht, obwohl er nichts von mir weiß.
Menschlich!
Man erlebt jemanden in einer einzigen, bestimmten Situation, oder besser, man erlebt das Resultat einer bestimmten Situation, und schon sind die Würfel gefallen. Ich kann es ihm nicht verübeln, er hat Helga nicht gekannt.
Seine Uniform sieht nicht sehr bequem aus. Ob ich ihn anspreche?
Nein!
Von draußen starren mir die Betongesichter der Vorstadthäuser mit gleichgültiger Kälte entgegen. Nur Sekunden, nicht lange genug, um Charakterzüge an ihnen ausmachen zu können. Doch da, die rosafarbene Front. Die überbreite Haustür sieht aus wie ein lachender Mund. Fensteraugen darüber werfen mir unter den halb geschlossenen Lidern aus Gardinenstoff einen aufmunternden Blick zu. Freundlich, warm - unpassend.
Begleitet von Knacken und Rauschen höre ich im Sekundentakt Stimmen aus einem Lautsprecher irgendwo im vorderen Bereich des Wagens. Wie in weiter Ferne in einen Blecheimer gesprochen, unverständlich, nicht für meine Ohren bestimmt.
Die Häuserfronten verschwimmen vor meinen Augen. Ich ziehe mich zurück aus dieser Welt im Wageninneren, die nicht meine ist. Unwirklich, obwohl ich weiß, dass sie real ist.
Helga! Ich komme lieber zu dir. Du bist mir vertraut. Real, obwohl ich weiß, dass du nun unwirklich bist.
Meine leidende Helga. Wer hätte das gedacht? Fast dreißig Jahre waren wir verheiratet. Ziemlich genau die Hälfte meines Lebens habe ich mit dir verbracht. Wie sehr du mein Leben in diesen dreißig Jahren verändert hast! Nicht mit einem Paukenschlag! Eher schleichend, unterschwellig. Aber konsequent.
Du warst so anders als alle Frauen, die ich vor dir gekannt hatte.
‚Tiefgang’ habe ich damals dazu gesagt.
Es waren deine Augen! Ich habe mich verloren in deinen Augen.
In diesen endlosen, grünen Meeren aus Gefühlen! Wenn du mich ansahst, konnte ich darin Schiffe treiben sehen, deren Frachträume gefüllt waren mit Traurigkeit. Erst Jahre später ist mir aufgegangen, dass der Steuermann dieser Schiffe ‚Berechnung’ hieß. Ganz langsam nur war mir klar geworden, dass es nicht melancholische Traurigkeit war, die ich in deinen Augen sah, sondern Leiden.
Ja, Helga, du hast dein Leben lang gelitten. Nicht etwa, weil es dir schlecht ging. Oder weil dich ein körperliches oder seelisches Gebrechen quälte. Nein, du hast gelitten um des Leidens Willen.
Verdammt, Helga, hättest du mich nur ein einziges Mal angeschrien. Wärest du doch einmal keifend hinter mir hergelaufen, wenn ich spät in der Nacht von meinem Schachabend nach Hause kam - welch eine Befreiung wäre das gewesen.
Das hast du nie getan. Du hast gelitten und mein Leben infiziert mit diesem stummen Vorwurf in deinen Augen.
Wie oft habe ich dich gefragt, was mit dir los ist, ob dir etwas fehlt – ob ich etwas falsch gemacht habe? War es hundert Mal, tausend Mal?
Es ist alles gut, hast du mir immer geantwortet. Und dann hast du stets dieses Seufzen ausgestoßen. Dieses Geräusch, dessen Bedeutung du mir all die Jahre vorenthalten hast und das mir im Laufe der Zeit zur grausamen Folter geworden ist.
Ja, Helga, du hast mein Leben, du hast mich verändert. Hast mich in akribischer Feinarbeit zu einem wandelnden schlechten Gewissen werden lassen.
Dann, es ist erst ein paar Jahre her, hast du dich irgendwann dazu entschlossen, die Dosis zu erhöhen. Das Gift, das du mir täglich mit deinen Augen und deinem Seufzen verabreicht hast, genügte dir nicht mehr. Du brauchtest einen zusätzlichen Katalysator.
Welch treffender Vergleich! Ein Stoff, der chemische Reaktionen ermöglicht oder ihre Geschwindigkeit beeinflusst.
Ja, diese nach dem Seufzen hingeworfenen Worte oder auch nur Laute haben bei mir tatsächlich eine chemische Reaktion beschleunigt.
„Ach ja,“ war so ein Katalysator.
„Wie soll es mir schon gehen,“ ein anderer.
Ich habe die chemischen Reaktionen in meinem Körper förmlich gespürt, Helga. Was mich vorher zur Verzweiflung gebracht hat, fing an, mich wütend zu machen. Ich begann, dich anzuschreien nach deinem Seufzen und deinem ‚ach ja’.
Dann hast du mich nur stumm angesehen und noch mehr Schiffe auffahren lassen in deinen Augen. Schiffe, die aufbrachen und ihre ganze Ladung Leid in deine Augen ergossen.
Ich hatte mich isoliert von allem, was vielleicht der Auslöser für dein Leid hätte sein können. Ich bin nicht mehr zu meinem Schachabend gegangen. Das Singen im Kirchenchor, mein liebstes Hobby, hatte ich schon viel früher an den Nagel gehängt.
Ich war nur noch zu Hause bei dir.
Und du gabst mir immer mehr davon.
Heute morgen habe ich wieder einmal versucht, mit dir zu reden. Habe dich angefleht, endlich dein großes Geheimnis zu lüften.
Du hast nur da gestanden und - geseufzt. Und dann hast du gesagt: “Ich ertrage mein Schicksal ohne mich zu beklagen.“
Du hast dich umgedreht und wolltest gehen. Da habe ich dich angeschrien. Habe gebrüllt, dass ich merke, wie ich verrückt werde. Dass du mein Leben ruiniert hast mit deinem verdammten Schicksal.
Du hast mich angesehen und gesagt: “Ach ja, vielleicht wäre es für alle besser, ich wäre tot.“
Da habe ich es einfach getan.