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Déjà Vu
Die Kneipe stank nach altem Zigarettenrauch, die Lampenschirme der über den fünf kleinen Tischen hängenden Lampen waren so stark ver-staubt, daß man nur raten konnte welche Farbe sie einmal gehabt haben könnten. An einem der Tische, direkt gegenüber der in dunklem Holz gehaltenen Bar, saß ein etwa fünfunddreißig Jahre alter, unscheinbarer Mann. In Gedanken versunken starrte er in das vor ihm stehende, nur noch halbvolle Bierglas. Der Barkeeper beachtete den einzigen Gast kaum, er war damit beschäftigt hinter der Bar alles auf Vordermann zu bringen, in Erwartung der Gästeschwämme, die immer bei Büroschluß einzusetzen pflegte.
Die sich öffnende Eingangstür und das Hereintreten eines weite-ren Gastes entgingen dem einsam vor sich hin grübelnden Mann ebenso wie der Barkeeper, der nunmehr zum dritten Mal nachfragte, ob er noch etwas bringen solle. Erst als das mittlerweile leere Glas auf Verdacht durch ein neues volles ausgetauscht wurde nahm der Gast wieder Notiz von seiner Umwelt und dankte dem Barkeeper wortlos.
“Darf ich mich zu ihnen setzen?” fragte unvermittelt eine neue Stimme.
Der einsame Trinker blickte hoch, ein Allerweltsgesicht sah ihm entgegen. Typischer Büromensch, schoß es ihm durch den Kopf, grauer Anzug, schwarze Aktentasche, leichte Stirnglatze, so um die vierzig. Mit einer weit ausholenden Armbewegung wies er auf die leeren Plätze rund um den Tisch. “Bitte, es ist mehr als genug Platz vorhanden. Darf ich sie einladen?” Ohne eine Antwort abzuwarten winkte er dem Barkeeper noch einmal dasselbe zu bringen.
“Sie haben ein Problem?” fragte der so Eingeladene.
“Das ist doch wohl offensichtlich,” antwortete der Gefragte leise während er sein Gegenüber mit den Augen fixierte. “Wollen sie es hören? - Aber, wenn ich so darüber nachdenke, dann ist es ja ohnehin egal...”
Nach einer kurzen Pause fühlte sich der hinzugekommene Gast befleißigt weiter zu fragen. “Wieso ist es egal? - Ich höre gerne zu, wenn sie etwas erzählen möchten...”
Nach einem tiefen Zug aus dem Glas und einem weiteren for-schenden Blick in das Gesicht des ihm gegenüber sitzenden Mannes, begann der bereits seit einiger Zeit still in sich versunkene Gast zu reden.
“Kennen sie dieses Gefühl, das man Déjà Vu nennt?” wollte er wissen. “Ich meine das Gefühl eine Situation bereits einmal erlebt zu haben?” Der Zuhörer nickte sanft während der Redner bereits fortfuhr. “Nun bei mir hat sich dieses Gefühl fast zur ständigen Gewohnheit entwi-ckelt. Nein, nein, nicht so wie sie jetzt meinen,” fügte er schnell hinzu. “Ich bin kein Hellseher oder so etwas, der jede Situation vorhersieht und beschreiben kann was passieren wird. Nein, ich meine das viel subtiler, verstehen sie?”
“Nicht ganz, ich kann ihnen da nicht so recht folgen,” beantwor-tete der so Gefragte die Frage.
“Natürlich, natürlich, es muß ihnen schrecklich konfus erschei-nen, was ich hier erzähle. - Ich weiß selbst nicht mehr so recht ob ich noch normal bin. - Vielleicht sollte ich einfach von Beginn an berichten.” Wie um sich Mut anzutrinken nahm er erneut einen tiefen Schluck aus seinem Glas und begann mit seiner Geschichte.
“Alles begann als ich ungefähr zehn Jahre alt war. Damals fuhr ich mit meinen Eltern das erste Mal bewußt in den Urlaub, ich meine damit in diesem Urlaub passierte es das erste Mal! Ich erinnere mich noch so daran als sei es gestern gewesen.
Wir fuhren mit dem Auto in den Süden, nach Italien. Eine ver-dammt lange Strecke, die mich als Kind auf eine harte Probe stellte - sind sie schon einmal so lange Strecken im Auto gefahren? - Ohne nennens-werte Pause versteht sich!
Ich versuchte mir die Zeit zu vertreiben indem ich viel aus dem Fenster sah, und plötzlich hatte ich das Gefühl eine bestimmte Gegend bereits einmal gesehen zu haben. Die Hügel, die Straße, die Häuser - alles bis ins kleinste Detail kam mir bekannt vor. Ich sprach meine Eltern dar-auf an, aber sie taten es als kindliche Phantastereien ab.
Ich hatte den Vorfall fast vergessen als einige Jahre später das-selbe wieder passierte. Es war in der Einkaufszone einer Großstadt in den Niederlanden. Wir hatten einen Schulausflug dorthin gemacht und zogen nun in kleinen Gruppen durch die Straßen. Die Gruppe in der ich mich befand hatte sich dafür entschieden einen Ausflug in einen der Coffee Shops zu machen, die in den Nebenstraßen zahlreich vertreten waren. Ich war plötzlich sicher, daß ich eine dieser Nebenstraßen, so wie sie dort stand, bereits einmal gesehen hatte, bitte verstehen sie mich richtig, bis zu diesem Zeitpunkt war ich noch nie in den Niederlanden gewesen!
Es ging unablässig so weiter, ständig hatte ich diese Déjà Vus. Nach einiger Zeit beschloß ich das Schicksal herauszufordern. Nachdem ich ein eigenes Auto besaß unternahm ich so oft es ging Spritztouren durch die nähere und weitere Umgebung, vor allem aber in diverseste Städte, wobei der Radius mit der Zeit immer größer wurde.
Ich konnte feststellen, daß gerade in Städten die Déjà Vus immer häufiger wurden. Oft hatte ich pro Tag mehrere Male die Erkenntnis, die eine oder andere Straße oder auch nur einzelne Häuser bereits des öfteren, in anderen Städten versteht sich, gesehen zu haben.
Nach und nach beschlich mich der Verdacht evtl. verrückt zu sein oder zu werden. Ich konsultierte mehrfach Psychiater und Psycholo-gen welche mir aber auch keine Erklärung oder gar Hilfestellung geben konnten.
Auch die Esoterik, der ich mich zeitweise zugewandt hatte liefer-te keine befriedigende Erklärung für die Déjà Vus.
Ich war ein sehr einsamer Mensch, verstehen sie? Durch Zufall lernte ich meine jetzige Frau auf einer meiner Spritztouren kennen. Für eine Zeitlang verdrängte ich meine Probleme und widmete mich ganz unserer gerade erst keimenden Beziehung. Aber bereits wenige Wochen nachdem wir zusammengezogen waren zog es mich wieder hinaus - und die Déjà Vus begannen von neuem.
Durch meine Frau kam ich zur Science-Fiction-Literatur, einem Genre welchem ich bis dato nichts oder nur wenig abgewinnen konnte. Die dort produzierten phantastischen Gedankengebilde ließen nach und nach eine Vorstellung dessen in meinem Gehirn entstehen, was evtl. mit meiner Umwelt los war, ich hatte nämlich mittlerweile beschlossen, daß nicht ich es war, mit dem etwas nicht stimmte, sondern meine Umwelt!
Ich krempelte mein Weltbild vollständig um!
Stellen sie sich doch einmal vor, ich meine nur so hypothetisch, daß die Welt wie sie sie kennen gar nicht existiert. Vielleicht ist die Erde in Wirklichkeit tatsächlich eine Scheibe, haben sie selbst sich denn schon einmal vom Gegenteil überzeugen können?
Wenn sie dieser Meinung sein sollten, so kann ich sie sofort entkräften, alles nur Konditionierung von Kindesbeinen an. Was ist wenn alles um sie herum nur für sie persönlich aufgebaut wurde, alles nur um ihnen diese Welt und Wirklichkeit vorzugaukeln?
Ich meine, waren sie schon einmal in Asien? Nein? Ich auch nicht, aber sie sind sicher, daß es existiert - und das nur, weil sie von seiner Existenz aus den Nachrichten täglich erfahren.
Glauben sie mir, ich weiß wovon ich rede. Asien existiert im Moment ebensowenig wie viele andere Orte dieser vermeintlichen Welt.
Genaugenommen existiert wahrscheinlich immer nur so viel “Umgebung” wie ich sie innerhalb einer gewissen Zeitspanne erreichen kann. Der Rest wird immer wieder abgebaut und an den Stellen wieder errichtet, die ich bald besuchen werde, dies erklärt meine Déjà Vus.
Sie meinen diese Hypothese würde meinen freien Willen ein-schränken, ich könne doch morgen in ein Flugzeug nach China einsteigen und mich von seiner Existenz überzeugen? Ich wette mit ihnen, daß, sollte ich diesen Plan in die Tat umsetzen, morgen die Fluglotsen streiken oder die Bundesregierung eine Empfehlung ausgibt alle Flüge nach China wegen der sich dort plötzlich ändernden politischen Lage zu unterlassen und alle Flüge plötzlich abgesagt werden, - zumindest so lange bis China aufgebaut worden ist,” der Mann winkte dem Barkeeper zu noch ein neu-es Glas zu bringen.
“Ich meine wirklich alles um mich herum wird nur für mich aufgebaut um mir diese Wirklichkeit hier vorzugaukeln. - Eine ganz schöne Paranoia, was?”
Der andere Gast betrachtete ihn lange bevor er sich zu einer Antwort hinreißen ließ. “Mal unterstellt ich würde ihnen glauben, wäre dies nicht etwas viel Aufwand, ich meine diese Städte aufbauen etc. nur für sie? Welchen Zweck sollte dies alles haben und vor allem wer sind die anderen Leute die hier leben, es gibt schließlich nicht nur sie?”
“Das sind die elementaren Fragen, die ich mir auch immer wie-der stelle. Was ist mit den anderen Menschen? Sind es vielleicht alles nur Roboter? Statisten die mir eine große Population vorgaukeln sollen? Oder gibt es vielleicht noch eine Handvoll anderer Individuen denen es ähnlich wie mir ergeht? - Ich meine vielleicht bin ich ja als Baby von Außerirdi-schen entführt worden, die jetzt meine Reaktionen auf verschiedene Situa-tionen testen wollen bevor sie mit der Menschheit direkt Kontakt aufneh-men, oder es handelt sich hier um eine Interstellarreise, vielleicht befinde ich mich ja in einem gigantischen Raumschiff und mir und den potentiel-len anderen Insassen wird ein Planet mit entsprechenden Gesellschafts-strukturen vorgegaukelt? - Ich habe meinen Kopf wahrlich schon oft dar-über zerbrochen,” er hielt inne und sah sein Gegenüber forschend an. “Sie halten mich für verrückt, nicht wahr?” fragte er.
“Nicht direkt für verrückt, nein das glaube ich nicht. Aber viel-leicht geht ihnen ja die Phantasie ein wenig durch. Sie sagten doch, daß sie gerne Science Fiction lesen, evtl. wurden sie dort etwas über das übli-che Maß hinaus beeinflußt. Ich würde mir nicht solche Gedanken machen. Vielleicht sollten sie mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen statt ständig in der Gegend herumzufahren und diese Déjà Vus zu suchen, man kann sich da auch viel einreden, wissen sie...”
Der einsame Gast trank schweigend sein Glas aus, blickte sein Gegenüber noch einmal forschend an, legte Geld auf den Tisch und ver-abschiedete sich dann wortlos nur mit einem Kopfnicken. Zurück blieb ein nachdenklich gewordener, durchschnittlich aussehender Mann mittle-ren Alters dem sich nun der Barkeeper zugesellte.
“Du hast einen Fehler gemacht,” sagte der Barkeeper leise wäh-rend er das Geld und die leeren Gläser vom Tisch nahm.
“Ich weiß, seine Kinder. Davon hätte ich eigentlich nichts wissen dürfen, er hatte sie mit keinem Wort erwähnt. Meinst du er wird Verdacht schöpfen?” antwortete der Gast während er nach seiner hinter ihm liegen-den Jacke griff.
“Ich vermute ja, wenn er so weitermacht gefährdet er das Pro-jekt, denk mal drüber nach, aber ich meine wir müssen den Vorfall mel-den. Schätze diesmal müssen wir seine Persönlichkeitsstruktur sehr stark umkrempeln, er hat sich bereits viel zu viel zusammengereimt.”
“Diesmal? Ach ja, ich vergaß die Besuche beim Psychiater. Na ja, das würde uns aber erheblich in der Forschung zurückwerfen. - Ich werde mal mit dem Chef reden, aber ich glaube kaum, daß er sehr begeis-tert davon sein wird wenn das Projekt unterbrochen werden muß. Ihm liegt viel daran das Projekt möglichst bald abzuschließen und die Ergeb-nisse zu verwerten.”
“Natürlich, aber ohne Feldversuche wird es ein Desaster,” ent-gegnete der Barkeeper.
“Meinst du nicht, daß er zumindest noch einige Zeit durchhält? Zumindest so lange bis die nächste Testreihe abgeschlossen ist? - Man könnte ihn doch mit irgendwelchen Problemen belasten die ihn irgendwie ablenken, Tod der Kinder zum Beispiel oder berufliche Probleme. Die Science Fiction war damals doch auch eine gute Idee, er gibt ja noch jetzt quasi zu, daß er unter Umständen von ihr in seiner Einstellung beeinflußt wurde...”
“Du weist genau, daß er sich nur so wie er jetzt ist repräsentativ verhält, veränderst du etwas gefährdest du die Testergebnisse. - Nein wir können nur warten und hoffen, daß er sich fängt.”
Der Gast nickte und ging nachdenklich gemessenen Schrittes zum Ausgang der Bar. Er würde etwas unternehmen müssen, soweit war alles klar, aber was, das stand im wahrsten Sinne des Wortes noch in den Sternen.