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Dämonengeschichten - Der Sankt Nikolaus-Prozess
Nach menschlichen Masstäben war das Wetter scheusslich, aber wen interessieren schon menschliche Masstäbe? Die Menschen interessierten sich ja selbst nicht mehr dafür, im Gegenteil: die meisten orientierten sich an Masstäben, die in keiner Hinsicht menschlich waren. Aber sie mussten weiterhin wie Menschen behandelt werden: als Wesen mit kognitiver und intuitiver Intelligenz und einem freien Willen. Es war zum Auswachsen.
Als er die Mission antrat, hatte er sich alles ganz anders vorgestellt. Er hatte um eine Chance gebeten – um genau zu sein hatte er sie verlangt und einiges dafür getan, dass er sie bekam. Aber die Chance war nur eine Farce, und er bereute es schon lange, dass er sich darauf eingelassen hatte. Leider war das nicht mehr zu ändern. Er war auf der Erde, und da würde er so lange bleiben, bis er eine Erfolgsmeldung bieten konnte.
In den vergangenen Monaten hatte er alles getan, um an eine Seele zu kommen. Die letzten Wochen hatten ihn sogar zu erbärmlichen Verzweiflungstaten getrieben, für die er sich nur schämen konnte. Er hätte alles getan, um dem widerwärtigen Weihnachtsrummel zu entgehen, aber es gab kein Entkommen. Wenigstens hatte er das jetzt überstanden.
Die Dekorationen waren zwar noch nicht aus den Geschäften und von den Strassen verschwunden, aber es gab keine Weihnachtslieder mehr, bei denen sich einem die Klauen aufstellten, keine verkleideten Traditionsknechte, keine scheinheiligen Wünsche. Von all dem waren nur noch die Punschhütten geblieben, und an denen hatte Hermochonde nichts auszusetzen.
Er war nicht das erste Mal auf der Erde, und man hatte ihn auch schon zur Weihnachtszeit hergeschickt. Schon damals hatte er unter dem festlichen Getue gelitten, die zur Schau gestellte Frömmigkeit war ihm ein Gräuel. Aber damals hatte ein Dämon noch seine Chance bekommen – und seine Seele. Heute war das anders. Alles war anders. Heute war kaum jemand glücklich, aber niemand war bereit seine Seele zu verpfänden.
Das Problem war, dass die Menschen nicht mehr daran glaubten, eine Seele zu haben. Das sollte den Handel eigentlich einfacher gestalten, aber sobald man zeigte, dass man sich für die Seele eines anderen interessierte, wurde man für verrückt gehalten. Hermochonde hatte die damit verbundenen Komplikationen kennen gelernt und festgestellt, dass es nicht mal in den Verwirrtenasylen dieser Zeit brauchbare Seelen zu ergattern gab.
Die Verachtung, die jeder Dämon den Menschen gegenüber empfand, hatte sich in Abscheu verwandelt. Er wollte nur noch diese Mission hinter sich bringen, wie auch immer, und dahin zurückkehren, woher er gekommen war. Der Glühwein war dabei vermutlich keine Hilfe, aber er war bestimmt das Beste, was diese Welt einem Dämon zu bieten hatte, und Hermochonde hatte schon gute Aussichten, der Kunde der Saison zu werden.
Gerade bekam der Mann im offenen Mantel den dreiundzwanzigsten Becher hingestellt. Die anderen zweiundzwanzig waren ihm nicht anzusehen, er vertrug offenbar eine ganze Menge. Er hielt den heissen Becher in der Hand und liess die Flüssigkeit mit grossen Schlucken die Kehle runter rinnen. Sie konnte ihm gar nicht heiss genug sein. Der Standler hatte längst gemerkt, dass dieser Kunde nicht ganz normal war, aber hatte keine Ahnung, wie recht er damit hatte.
Hermochonde hätte alle Punsch- und Glühweinstände der Stadt vertilgen können ohne zu schwanken, zu erbrechen oder zu lallen. Ebenso hätte er Badeurlaub in Sibirien machen können, ohne sich zu erkälten, oder er könnte einer Parlamentsdebatte folgen, ohne dass ihm übel wurde. Hermochonde war hart im Nehmen, auch für einen Dämon, aber er wünschte sich aufrichtig er könnte betrunken werden und sein Elend wenigstens für einen Moment vergessen. Er hatte genug davon, sich ununterbrochen nach einem Verdamm-niskandidaten oder einem Höllenanwärter umzuschauen…
„Na, sag schon“, nörgelte ein pummeliger, etwa sieben Jahre alter Junge.
Hermochonde achtete nicht auf die Kinder, die sich dem Punschstand näherten. Die beiden Jungen achteten nicht auf den Mann, der mit offenem Mantel am Punschstand lehnte.
„Babyzeug“, ätzte der andere, etwa fünfjährige Junge, der im Gegensatz zu seinem Freund schlank und blond war, blasse Haut und beinahe farblose Augen hatte und sehr schmale Lippen, die er fest aufeinander presste. „Nichts, was ich mir gewünscht hab’“, fügte er hinzu.
„Hast du denn keinen Wunschzettel geschrieben?“ wunderte sich der pummelige Junge.
„Sicher! In Schönschrift! Alles hab’ ich aufgeschrieben, aber bestimmt keinen Bärenpulli! Weisst du was das ist?“
Der pummelige Junge blickte den anderen erwartungsvoll an. Beide blieben stehen. Hermochonde betrachtete die Kinder gelangweilt.
„Betrug!“ rief der blonde, schlanke, blasse Junge. „Jawohl, das ist Betrug!“
Er zeigte die ganze Empörung, zu der ein entrüstet Kind fähig sein konnte. Er atmete schwer und suchte nach Worten, die seinen aufgebrachten Gefühlen gerecht wurden.
„Wenn ich könnte“, sagte er entschieden, „dann würde ich den Weihnachtsmann verklagen!“
„Aber das geht doch nicht“, meinte sein Freund.
“Warum denn nicht?“
„Weil er der Weihnachtsmann ist, und du bist ein Kind.“
„Na und?“
„Wenn du jemanden verklagen willst, brauchst du einen Anwalt.“
„Das weiss ich doch.“
„Aber du hast kein Geld“, stellte der pummelige Junge fest. „Anwälte kosten viel Geld.“
„Mein Vater hat Geld.“
„Meinst du, dein Vater verklagt den Weihnachtsmann?“ fragte der pummelige Junge spöttisch. „Den Weihnachtsmann kann man nicht verklagen.“
„Mein Vater hat gesagt man kann jeden verklagen.“
„Nicht ohne einen Anwalt.“
Der Punkt ging an den pummeligen Jungen. Der nächste ging an Hermochonde. Er erkannte seine Chance und verlor keine Sekunde. Als die Jungen weiter liefen, ging Hermochonde um die Holzhütte. Der Standler reagierte sofort und setzte dem Mann nach, der noch dreiundzwanzig Becher Glühwein zu zahlen hatte, aber der Kunde der Saison war weit und breit nicht zu sehen, er war einfach verschwunden.
So kam es dem Standler jedenfalls vor. Tatsächlich hatte Hermochonde nur eine Gestalt gewechselt. Als älterer, konservativ gekleideter Herr ging er an der Hütte vorbei und den Jungen nach.
Die Kinder merkten nichts davon, dass sich ihnen ein Dämon an die Fersen geheftet hatte. Sie setzten ihren Disput fort, ihr Verfolger hörte aufmerk-sam zu. Der eine beharrte darauf, dass der Weihnachtsmann verklagt werden konnte, der andere hielt das für unmöglich. Hermochonde beendete die Auseinandersetzung. Er stellte sich den Jungen in den Weg und entschuldigte sich, weil er sich in ihren Streit einmischte.
„Ich habe gehört, dass ihr jemanden verklagen wollt und einen Anwalt braucht, der euch dabei hilft…“
„Ich nicht“, stellte der pummelige Junge sofort fest und zeigte auf seinen Freund: „Er.“
„Du möchtest also jemanden verklagen“, sagte Hermochonde zu dem Blonden.
Der Junge nickte und sein Freund erklärte: „Er will den Weihnachtsmann verklagen, weil der ihm nur Babyzeug gebracht hat. Aber er hat keinen Anwalt.“
„Ich bin Anwalt“, sagte der ältere Herr und hielt dem Blassen eine Karte hin. „Ich könnte deinen Fall übernehmen, junger Mann.“
„Er hat doch gar kein Geld“, meinte der pummelige Junge.
„Von Kindern nehme ich grundsätzlich kein Geld“, erklärte der Anwalt. „Das habe ich nicht nötig, und wenn ich kann, helfe ich Kindern gern.“
Der blasse Junge nahm die Karte und las. Sein Freund versuchte, ihm die Sache auszureden. Es gefiel ihm nicht, auf der Strasse von einem Anwalt angesprochen zu werden, der den Weihnachtsmann verklagen wollte. Aber der andere hatte sich bereits entschlossen. Der ältere Herr erklärte ihm wo er zu finden war. Er wusste, dass er nicht lange auf seinen Klienten warten musste und schaute den Kindern lächelnd nach, als die ihren Weg fortsetzten.
Der Wind blies ihm Schneeregen entgegen. Hermochonde lächelte. Er betrachtete den Punschstand. Sein Lächeln wurde breiter. Ohne diesen Weihnachtsrummel war es hier gar nicht so schlecht, vor allem, wenn man mit einer triumphalen Rückkehr rechnen durfte.
Es sah ganz so aus, als würde Hermochonde viel mehr vorweisen können als eine menschliche Seele. Was er da an der Hand hatte, war ein eindeutiger Sieg über die Gegenseite, die Niederlage eines Heiligen. Am Ende konnte er diese hysterische Weihnachtsheuchelei vielleicht ein für alle mal beenden. Abschaffen. Womöglich sogar ersetzen…
Der Kampf zwischen Himmel und Hölle, Gut und Böse, Engeln und Dämonen begann schon am Anfang der Ewigkeit. Es war ein ewiger Kampf nach göttlichen Regeln, der vornehmlich auf der Erde ausgetragen wurde. Es war ein Kampf, den keine Seite gewinnen konnte, sonst wäre es ja kein ewiger Kampf gewesen. Auf jeden Sieg folgte unweigerlich eine Niederlage.
Würde die Gegenseite den Kampf nicht mit blödsinniger Verbissenheit führen, hätten die Dämonen ihre aussichtslosen Bemühungen in dieser Angelegenheit längst eingestellt und der ewige Kampf hätte sich samt der göttlichen Regeln erledigt. Aber so, wie die Dinge standen, mussten Teufel und Dämonen ihr bestes geben, oder wenigstens das Nötige tun, damit der Himmel sich nicht aufspielen konnte.
Dem Weihnachtsmann eine Pflichtverletzung nachzuweisen, war allerdings eine Menge mehr als das. Das war eine Sensation, die Hölle und Himmel auf den Kopf stellte. Ein Prozess gegen einen Heiligen war einmalig. Hermochonde freute sich schon auf seinen Aufstieg in der höllischen Hierarchie. Wenn der Junge den Pakt unterzeichnete, hatte Hermochonde gute Aussichten, irgendwann noch zu einem Höllenfürsten zu werden…
Die Praxis des freundlichen Anwalts war leicht zu finden, jedenfalls für jene, die sie finden sollten. Andere würden vergeblich danach suchen. Sie lag im ersten Stock eines Hauses, in dem eine Werbeagentur untergebracht war, eine Künstlervermittlung, ein Steuerberatungsbüro und ein Zahnarzt.
Hermochonde sass in einem grauen Anzug hinter dem Schreibtisch und begrüsste seinen Klienten. Er beantwortete die Fragen des Jungen geduldig, er zerstreute seine Bedenken und stärkte seine Entschlossenheit. Sie konnten es dem Weihnachtsmann so richtig zeigen. Bestimmt gab es noch andere Kinder, die von ihm betrogen wurden, auf der ganzen Welt. Das musste aufhören. Jemand musste dafür sorgen, dass es aufhörte.
Ausserdem ging es ja wohl darum, dass der Junge seine Weihnachtsge-schenke bekam – anständige Weihnachtsgeschenke, kein Babyzeug. Alle Kinder sollten anständige Geschenke von Weihnachtsmann bekommen, das war schliesslich sein Job. Der Junge sah das genauso. Der Anwalt holte ein Formular aus einer Schublade, er legte es auf den Tisch und schob es dem Jungen so zu, dass er es hätte lesen können, hätte er lesen können.
„Das“, sagte Hermochonde feierlich, „ist die Mandatserklärung. Die musst du unterschreiben, damit ich die Vertretung übernehmen kann. Reine Formsache, lästig, aber so ist das. Du kannst doch deinen Namen schreiben?“
Der Junge nickte. Der Anwalt lächelte und nahm einen Stift aus der Brusttasche seines Jacketts. Es war ein schwerer, runder, dicker Stift, ein alter Füllfederhalter, der sehr kostbar aussah. Der freundliche Anwalt zeigte dem Jungen wo er unterschreiben musste, um des dem Weihnachtsmann so richtig zu zeigen.
Der Mandant malte seinen Namen auf eine gepunktete Linie. Plötzlich schrie er auf und liess den Stift fallen. Er steckte den Zeigefinger in den Mund. Der Füller hatte den Jungen gestochen. Ein Tropfen Blut war auf das Papier gefallen. Der Anwalt war zufrieden. Er verstaute das vorschriftsmässig unterfertigte Dokument wieder in der Lade und heuchelte Anteilnahme. Die Wunde war winzig. Der Schreck des Jungen war viel grösser als der Schmerz. Der Anwalt versprach, sich bei seinem Mandanten zu melden, wenn die Klage eingereicht war. Er reichte dem Jungen die Hand und brachte ihn zur Tür. Dann verschwand er in einer grünlichen Wolke dämonischer Ausdünstungen, die davon zeugte wie aufgeregt er war.
Hermochonde gehörte zur alten Garde der Hölle. Er war schon lange an am ewigen Kampf beteiligt. Leider nur mit mässigem Erfolg. Das wirkte sich auf seinen Status aus, und um seine Lebensbedingungen zu verbessern, hatte er sich zur Erde schicken lassen. Inzwischen war ihm aufgegangen, dass keiner damit rechnete, dass er irgendeinen Erfolg hatte.
In der Hölle nahm man an, er hätte aufgegeben. Man liess ihn warten. Dann wurde er zu Batamoluk gerufen, dem Fürsten jener Sphäre, der Hermochonde zugeordnet war. Batamoluk war nicht dafür bekannt, dass er sich persönlich mit niederen Chargen abgab. Der Fürst gedachte, an Hermochonde ein Exempel zu statuieren.
Er ragte gewaltig über seinen scheusslichen Thron und erst recht über Hermochonde auf, der um einiges kleiner war als dieses Möbel. Sein Blick war kalt und ätzend, wie man es von einem Höllenfürsten erwarten durfte. Die abscheulichen Züge verzerrten sich zu einem erwartungsvollen Grinsen. Zäher Schleim triefte aus dem unsäglichen Maul und klatschte vor Hermochonde auf
den Boden. Der Dämon verneigte sich.
„Hast du eine Seele mitgebracht?“ fragte Borkamoluk.
Hermochonde wagte es nicht, die Frage zu verneinen. Er hielt die Mandatserklärung hoch, verneigte sich dabei so tief es ging und rief: „Ich habe einen Pakt!“
Dafür musste sich der Dämonenfürst interessieren. Es konnte sein, dass Hermochonde versuchte, sich aus der Affäre zu tricksen. In den letzten Dekaden hatte kein Dämon einen brauchbaren Pakt mit einem Menschen abschliessen können. Batamoluk studierte das Papier mit dem Blutstropfen. Hermochonde verfolgte genau, was in dem schrecklichen Antlitz seines Herrn vorging.
Es dauerte beunruhigend lange, bis sich Batamoluk für eine Reaktion entscheiden konnte. Dann donnerte ein erschütterndes Lachen durch seine Sphäre. Seit Äonen hatte kein Dämonenfürst derart gelacht. Es dauerte nicht lange, bis sich der Grund für diesen Ausbruch verbreitete und Hermochondes Name in aller Munde war, oder besser: in aller Mäuler.
Ein Prozess gegen den Weihnachtsmann – das war eine Sensation. Das war einmalig. Satan selbst nahm sich der Klageschrift an und brachte sie ein. Alle gingen davon aus, dass der Fürst der Fürsten auch die Anklage übernahm, aber das sollte Hermochonde überlassen bleiben.
Die Nachricht von dem Prozess erschütterte auch die himmlischen Gefilde. Die Erzengel berieten sich lange, die Heiligen debattierten, Sankt Nikolaus versicherte allen, sich keiner Schuld bewusst zu sein. Die Regeln verboten es, dass sich der Himmel mit dem Kläger in Verbindung setzte, und von Hermochonde war nicht viel zu erfahren. Die Anklageschrift war so vage wie möglich gehalten, schliesslich wurde sie vom Meister der Täuschung selbst verfasst.
Es lag in beiderseitigem Interesse, den Prozess so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen. Der Gerichtstermin wurde bestimmt, die Vertreter der Anklage und des Beschuldigten benannt. Schliesslich wurde auch der Richter bekannt gegeben. Da Teufel und Dämonen nicht in der Lage waren, unparteiisch zu sein, musste der Richter aus himmlischen Gefilden stammen. Die Wahl fiel auf Gabriel, der darüber nicht gerade glücklich war. Der Gerichtstermin fiel auf den 31.12.
Nun musste Hermochonde sicherstellen, dass der Kläger auch tatsächlich zur Verhandlung erschien. Die Klageabsicht musste vor dem Richter bestätigt werden. Danach konnte Hermochonde die Sache allein in die Hand nehmen.
Der Anwalt passte seinen Klienten auf dem Heimweg ab. Der Junge war nicht überrascht, den Anwalt zu treffen. Er freute sich auf den Prozess und darauf, es dem Weihnachtsmann so richtig zu zeigen. Aber der 31.12. war Sylvester. Dann passte Sonja auf ihn auf, das Hausmädchen. Seine Eltern waren Sylvester nie zuhause. Der Junge hasste Sonja. Sie würde merken, wenn er sich davon machte.
„Diese Frau wird uns keine Schwierigkeiten machen“, versicherte der Anwalt. „Sei einfach bereit. Ich hole dich gegen Mitternacht ab.“
„Sonja wird mich nicht gehen lassen. Sie lässt sie gar nicht erst ins Haus.“
„Ich bin dein Anwalt, Junge, ich mach’ das schon. Vertrau mir einfach.“
„Also um Mitternacht?“ fragte der Junge.
„Sei bereit.“
In der ganzen Hölle gab es kein anderes Thema als den Prozess. Jeder kannte die Geschichte des Jungen, der den Pakt unterzeichnet hatte, alle sprachen über den Höllenanwalt. Hermochonde war der Held des Zeitalters. Wenn er ein Urteil über den Weihnachtsmann zustande brachte, bekam er bestimmt eine eigene Sphäre.
Kein Dämon hatte vergleichbares erreicht. Das konnten die Höllenfürsten nicht bestreiten. Aber sie sahen in Hermochonde niemanden ihresgleichen. Sie wussten nicht, wie man Hermochonde belohnen würde, aber sie waren sich einige, welche Strafe ihn erwartete, wenn er versagte.
Hermochonde konnte sich das nur zu gut vorstellen, aber das wollte er nicht. Er stellte sich lieber vor, wie er den Weihnachtsmann nieder machte. Er stellte sich vor, wie der Himmel einen ihrer Heiligen verstiess und die Hölle einen neuen Fürsten bekam. Er liess sich feiern, wohin er auch kam. Ein paar Tage in der Menschenwelt waren da schnell vorbei. Der Prozesstermin rückte heran.
Frank Berger war ein erfolgreicher Vermögensverwalter. Lisa Berger bekleidete eine Führungsposition beim ORF. Sie bewohnten mit ihrem Sohn eine grosszügige Eigentumswohnung im achtzehnten Wiener Gemeindebezirk und beschäftigten ein Hausmädchen, das alljährlich dazu verpflichtet wurde, den bergerschen Sprössling in der Sylvesternacht zu hüten.
Mark Berger, Grundschüler mit unerschütterlichem Weltbild, hasste das Hausmädchen Sonja. Vor ihr hatte er schon andere Hausmädchen gehasst, aber Sonja hasste er besonders. Er sprach ihr jegliche Autorität ab, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab. Sonja konnte schreien und ihm drohen und gegen die Kinderzimmertür treten, so lange sie wollte, Mark dachte gar nicht daran zu öffnen, ehe sein Anwalt da war.
Er hatte sich mit allem versorgt was er brauchte, um ein paar Stunden in seinem Zimmer verbringen zu können und Sonja zur Weissglut zu reizen. Sie brachte die Tür nicht auf, ohne bleibende Schäden anzurichten. Sonja schien sich mit ihrer Niederlage abzufinden. Mark lauschte auf die polyphone Türglocke, aber sein Anwalt liess auf sich warten. Um kurz vor zwölf stand der ältere Herr plötzlich neben dem Bett. Er lächelte freundlich und es roch schlecht. Es stank furchtbar. Der Junge war völlig verdattert.
„Also gut“, sagte Hermochonde schlicht, „gehen wir.“
Im nächsten Moment waren das Kinderzimmer und alles, was rundum zu sein hätte, verschwunden. Wenn ausser dem Jungen und seinem Anwalt überhaupt noch etwas gab, war davon nichts zu sehen. Es war nämlich nichts zu sehen. Sie sahen Nichts. Wie auch immer. So weit sie Nichts sehen konnten, taten sie das, irgendwo mitten im Nichts. Der Anwalt schenkte dem keine Beachtung. Hermochonde machte dem Jungen klar, worauf es jetzt ankam. Er musste das Mandat bestätigen. Die Gegenseite würde alles Erdenkliche tun, um ihn davon abzuhalten, und diesen Heiligen war einfach alles zuzutrauen.
„Der Weihnachtsmann ist ein Heiliger?“ wunderte sich Mark Berger.
„Das macht seine Versäumnisse doch so schlimm“, meinte Hermochonde. „Der Kerl denkt, er kann sich alles erlauben, weil er ein Heiliger ist. Aber der wird schon noch sehen wo’s langgeht, mach dir da mal keine Sorgen. Dafür hast du deinen Anwalt.“
„Und wo sind wir hier?“ wollte Mark wissen.
„Nirgends. Ich wollte dich noch mal in Ruhe sprechen, ehe es losgeht. Bei dem Prozess werden viele Leute sein, und zwar keine gewöhnlichen Leute.“
„Heilige?“ fragte der Junge.
„Auch.“
Weiteren Fragen des Siebenjährigen entging Hermochonde, indem er sich mit dem Kläger direkt in den Gerichtssaal versetzte. Von jetzt auf gleich befanden sie sich in einem anderen, lichtdurchfluteten Nichts, wo sich Himmel und Hölle versammelt hatten, um den Prozess gegen den Weihnachtsmann zu erleben.
Mark sah Engel und traurige Heilige, er sah Teufelsgestalten und geifernde Dämonen. Der Platz des Beschuldigten lag auf der anderen Seite des Richtertisches. Sankt Nikolaus hatte seinen Platz bereits eingenommen. Der Engel Azrael war sein Verteidiger.
Für einen Moment waren alle Blicke auf den Kläger gerichtet. Dann erschien Gabriel und nahm seinen Platz ein. Es war ihm anzusehen, dass er nicht besonders glücklich über sein Amt war.
Der Erzengel eröffnete die Verhandlung und benannte den Kläger. Mark Berger musste seine Absicht bestätigen. Er tat es. Er wurde gefragt, ob er Hermochonde das Mandat gab, ihn zu vertreten. Mark Berger zögerte nicht eine Sekunde. Der Richter nickte traurig.
„Dann soll sich der Klagevertreter in seiner wirklichen Gestalt zeigen“, verlangte Azrael.
„Das würde meinen Mandanten nur unnötig erschrecken“, widersprach Hermochonde, „ausserdem geht es hier nicht um mich…“
„Wenn dieser Junge mit einem Dämon paktiert, wird er wohl auch seinen Anblick ertragen“, entschied Gabriel. „Zeige dich.“
Hermochonde machte eine gleichgültige Geste und raunte dem Jungen zu, er sollte nicht erschrecken. Dann gab er die Täuschung auf und der ältere Herr verschwand. Mark Berger sass nun neben einem leibhaftigen Dämon. Verglichen mit anderen Dämonen lieferte er eher eine bescheidene Erscheinung, aber immerhin war der Anwalt ein Dämon. Der Junge schaute ihn an. Dann schaute er den Richter an. Sein Blick glitt durch den Saal und wurde schliesslich auf den Weihnachtsmann gerichtet.
Bestimmt war Hermochonde nicht der einzige, der erleichtert aufatmete. Ein Raunen ging durch die Reihen der Zuschauer. Azrael raunte dem Weihnachtsmann etwas zu. Der Richter gab das Wort an Hermochonde.
Der Dämon schilderte die enttäuschte Erwartung seines Mandanten. Er berichtete von der Wut und den Zweifeln des Kindes, das vom Weihnachtsmann sträflich vernachlässigt wurde, während andere Kinder ihre Wünsche erfüllt bekamen. Er beschrieb, wie das Kind seinen Glauben verlor. Nichts davon war wirklich spektakulär, aber Hermochonde war mit seinem Vortrag zufrieden.
Das Wort ging an Azrael. Der Engel sagte, was zu sagen war. Er nahm den Weihnachtsmann in schutz und bestritt die Klagevorwürfe. Er sprach über die Bedeutung des Weihnachtsmanns und über seine Funktion. Es war keineswegs die Aufgabe, alle Wünsche des Klägers zu erfüllen. Wunschlisten waren nicht mehr als eine Anregung, einen Anspruch auf gewünschte Dinge gab es nicht, auch nicht für den Kläger.
Der Engel verwies auf das Reglement für Heilige und Engel im irdischen Dienst. Der Weihnachtsmann sah dabei aus, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Hermochonde folgte Azraels Argumentation ungerührt.
Dem Weihnachtsmann wurde Gelegenheit gegeben sich zu äussern, aber der schüttelte bloss den Kopf und richtete sich den Bart. Vermutlich hatte Azrael ihm eingeschärft nicht mehr zu sprechen als unbedingt nötig. Der Richter gab das Wort wieder an Hermochonde. Wenn die Klage nicht abgewiesen werden sollte, musste der Klagevertreter dem Weihnachtsmann ein Versäumnis nachweisen. Genau das hatte der Dämon vor.
„Hochehrwürdiges Gericht, natürlich ist mir das Reglement der Gegenseite bekannt. Jeder weiss, dass die Weihnachtslobby einen Irrglauben unter den Menschenkindern zulässt, um das Desinteresse an der eigentlichen Intention des Festes zu kaschieren. Aber auch der Weihnachtsmann hat Pflichten. Sie sind nicht mit denen anderer Heiliger zu vergleichen, aber sie sind festgeschrieben.“
„Ich habe meine Pflicht immer erfüllt!“ meldete sich der Weihnachtsmann zu Wort.
„Warum sind wir dann hier?“ hielt Hermochonde dagegen. „Warum ist Mark Berger dann so unglücklich? Warum hat er dann anderen Kindern erzählt, der Weihnachtsmann sei ein Betrüger?“
Ein Raunen ging durch die Reihen. Wieder zog der Junge die Blicke der Zuschauer auf sich. Mark reckt trotzig das Kinn vor und vermied es sich umzusehen. Hermochonde konnte stolz auf seinen Mandanten sein. Mark Berger spielte seine Rolle gut. Der Anwalt fuhr fort. Er wandte sich direkt an den Beklagten.
„Mark Berger ist dir doch bekannt, oder?“
Azrael bestätigte das. Seinem Mandant war jedes Kind der Erde bekannt, das war eine rein rhetorische Frage.
„Wenn du ihn kennst, dann hast du auch gewusst, dass Mark Berger unglücklich war. Am Heiligen Abend hätte er am liebsten geweint, aber er wollte seine Gefühle nicht zeigen, damit seine Eltern nicht traurig waren. Wenn du Mark Berger kennst, dann hast du gewusst, wie sehr ihn deine Geschenke enttäuschen mussten. Du hattest doch seine Wunschliste, oder nicht?“
„Ja, aber…“
„Du hast nichts getan, um wenigstens einen Wunsch des Jungen zu erfüllen“, stellte Hermochonde fest.
„Nein, aber…“
„Hast du wenigstens versucht, dieses enttäuschte, um nicht zu sagen: dieses verletzte Kind zu trösten? Ihm zu zeigen, was der Sinn des Weihnachtsfestes ist?“
„Nein“, sagte der Weihnachtsmann wieder, und: „aber“, dann wurde er wieder unterbrochen.
„Aber das wäre deine Aufgabe gewesen“, brillierte Hermochonde und brachte das Regelwerk der Engel und Heiligen im irdischen Dienst zum Vorschein, an der richtigen Stelle aufgeschlagen und deutlich sichtbar markiert. „Soll ich daraus vorlesen?“ fragte der Dämon hämisch.
Azrael machte eine abweisende Geste. Der Richter verlangte trotzdem eine Präzisierung der Anschuldigung. Dazu war Hermochonde nur zu gern bereit. Er setzte das Kreuzverhör fort, bei dem Sankt Nikolaus selbst antworten musste.
„Der Junge hatte ein verhältnismässig schönes Fest“, führte er an. „Er war im Kreis seiner Familie, er bekam gutes Essen und Geschenke. Anderen Kindern ging es leider viel schlechter.“
„Darum geht es nicht“, sagte Hermochonde scharf, dann fügte er hinzu: „Noch nicht. Reden wir von Mark Berger. Du hattest seine Wunschliste. Du hast ihn wissentlich enttäuscht.“
„Aber nichts auf der Liste war ein angemessener Weihnachtswunsch“, hielt Sankt Nikolaus dagegen.
„Gar nichts?“ forschte Hermochonde.
„Gar nichts“, ereiferte sich der Heilige. „Dieses Kind ist schon jetzt verloren. Es ist schlecht.“
„Schlecht“, wiederholte Hermochonde mit gespielter Verwunderung. „Das ist aber keine Kategorie, die in den Regeln erwähnt wird. Da steht, du sollst zwischen artig und unartig unterscheiden. Das ist zwar albern, aber so ist es nun mal. Willst du dem Gericht sagen, dass Mark Berger unartig war und deshalb enttäuscht werden musste?“
„Nein, unartig war er nicht“, antwortete der Weihnachtsmann.
„Dann stellst du also deine eigenen Kategorien zur Beurteilung von Kindern auf“, stellte der Dämon fest.
„Der Klagevertreter verdreht meinem Mandanten das Wort im Mund!“ empörte sich Azrael.
„Den Eindruck habe ich leider nicht“, sagte Gabriel. „Die Anschuldigungen scheinen berechtigt zu sein. Sprich weiter, Hermochonde.“
Der Dämon genoss seine Rolle. Sein Mandant konnte zufrieden sein. Noch nie hatte sich ein Vertreter der Hölle so vehement für die Interessen eines Sterblichen eingesetzt. Hermochonde führte aus, das Mark Berger bloss wegen der Eigenmächtigkeit eines Heiligen enttäuscht wurde, eines Heiligen, der sich seinen festgeschriebenen Pflichten auf beschämende Weise entzog.
Das Gericht wurde aufgefordert, die Konsequenzen aus dem Verhalten des Beklagten zu ziehen. Der Richter sollte eine Entschädigung des Klägers feststellen und ansuchen, ob es weitere Geschädigte gab, denen sich die himmlische Gerechtigkeit unverzüglich anzunehmen hätte. Der Engel widersprach nicht. Er hatte Hermochonde unterschätzt, aber er war noch nicht am Ende. Die Verteidigung wollte die Wunschliste des Klägers vorlegen. Die war schon nötig, um eine Entschädigung festzulegen und konnte vielleicht etwas Licht in diese Angelegenheit bringen. Die Verhandlung sollte vertagt werden.
Nach irdischen Masstäben war es noch immer der Sylvesterabend, kurz nach Mitternacht, aber wen interessierten schon irdische Masstäbe? An diesem Ort verging die Zeit anders. Die Unterbrechung war vorbei, wenn das Gericht wieder zusammen kam. Bis dahin musste Mark Berger wieder zurück in sein Kinderzimmer. Hermochonde liess dem Jungen keine Gelegenheit sich dazu zu äussern. Im nächsten Moment waren sie bereits in seinem Zimmer. Der Anwalt stand wieder in Gestalt des älteren Herrn neben ihm.
„Das hast du wirklich gut gemacht“, lobte Hermochonde den Jungen. „Wir haben’s dem Kerl so richtig gezeigt. Aber jetzt brauche ich deine Wunschliste.“
„Die hat doch der Weihnachtsmann“, sagte Mark Berger.
„Das ist schon in Ordnung, der wird tun, was der Richter ihm sagt.“
„Und dann?“ fragte Mark Berger.
Hermochonde hätte darauf gleich tausend Antworten gehabt, aber die verkniff er sich. Er schenkte dem Jungen ein grossväterliches Lächeln, legte ihm eine Hand auf die Schulter und versprach, alles würde gut werden.
Im nächsten Augenblick war er verschwunden.
Im nächsten Augenblick stand Sonja im Raum.
Im nächsten Augenblick legte Azrael dem Richter Marks Wunschliste vor.
Im nächsten Augenblick bekam der Weihnachtsmann eine Nachricht von einem befreundeten Engel.
„Was treibst du hier?“ blaffte Sonja den Jungen an.
Sie hatte geduldig im Türschloss rumgepörkelt, bis sie Marks Festung endlich stürmen konnte. Nun wich sie vor dem Gestank zurück, der im Zimmer lag. Ehe sie etwas sagen konnte, ragte eine Gestalt zwischen ihr und dem Jungen auf. Sie sah die schreckliche Manifestation nur einen Augenblick, dann war sie verschwunden – und Mark Berger ebenfalls.
„Ich hab’ nicht gewusst, dass sie reinkommt“, entschuldigte sich der Junge.
Eigentlich hatte Hermochonde ihn gerade erst in seinem Zimmer abgesetzt, aber in der jenseitigen Sphäre ging der Prozess bereits weiter.
„Du musst jetzt bestätigten, dass der Weihnachtsmann tatsächlich deine Wunschliste vorgelegt hat“, sagte Hermochonde. „Vielleicht musst du ein paar Fragen beantworten. Es würde mich wundern, wenn die Gegenseite so leicht beigibt. Irgendwas versuchen die bestimmt noch – aber keine Sorge: du hast einen Anwalt.“
„Und was dann?“
„Dann? Dann wird der Richter es dem Weihnachtsmann so richtig zeigen. Dann kriegst du deine Geschenke. Alle Kinder kriegen dann ihre Geschenke. Wir siegen auf der ganzen Linie. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das heisst.“
„Nein“, gab Mark Berger zu.
„Na, du wirst schon sehen.“
Der Junge bekam einen Klaps auf die Schulter. Sie setzten sich. Sankt Nikolaus besprach sich mit Azrael. Hermochonde schirmte den Jungen vor ihren Blicken ab, so gut er konnte. Mark Berger war der geborene Mistkerl: egozentrisch, materialistisch, nachtragend und machthungrig. Aber er war erst sieben, er konnte nicht übersehen, wie traurig die Engel waren, wie betrübt die Heiligen dreinschauten und wie teuflisch sich die Teufel freuten, die Hermochonde Glück wünschten.
Der Erzengel hatte ein geradezu satanisches Timing. Er betrat den Raum gerade, als Hermochonde noch mal auf Mark Berger einreden wollte. Der Richter forderte Ruhe und nahm seinen Platz ein. Er rief den Kläger auf, der den Wunschzettel bestätigen sollte. Mark Berger tat, was von ihm erwartet wurde. Er sagte die Wahrheit. Das war sein Wunschzettel. Der Weihnachtsmann atmete auf. Diesem Kind hätte er jede Lüge zugetraut. Der Richter vertiefte sich in die Weihnachtswünsche des Jungen und fragte beide Parteien, ob sie noch etwas vorzubringen hatten.
Die Urteilsfindung brauchte nicht lange. Ein zur Unparteilichkeit verpflichteter Erzengel konnte die Rechtslage auch ohne ausschweifende Überlegungen einschätzen. Gabriel hatte mehr als genug Zeit gehabt, sein Urteil zu überlegen. Himmel und Hölle hielten den Atem an und warteten auf seinen Spruch. Was die Menschen auf der Erde anging, die wussten nicht das Geringste von dieser Verhandlung und feierten noch immer den Jahreswechsel. Der Blick des Richters wurde auf den Weihnachtsmann gerichtet, dann auf den Kläger. Sein Anwalt hatte keine Chance, diesen Blick abzuschirmen oder davon abzulenken.
„Entsprechend der für Sankt Nikolaus verbindlichen Regeln, auf die sich die Klage stützt, muss ich der Anschuldigung der Pflichtverletzung zustimmen. Sankt Nikolaus hat auf Grund eigener Einschätzung gegen grundsätzliche Prinzipien des Weihnachtsfestes verstossen. Das Gericht ist deshalb gehalten,
Sankt Nikolaus seines Status als aktiver Heiliger zu entheben. Damit ist ihm der irdische Dienst versagt. Mangels ersatzfähiger Heiliger, die sich der Weihnachtstradition annehmen könnten, wird diese mit sofortiger Wirkung ausgesetzt.“
Der Jubel der Höllenwesen und die Zwischenrufe einiger Apostel zwangen das Gericht zu einer Pause. Der Aufruhr legt sich nur langsam, aber die Urteilsverkündung stand noch aus.
„Was die Weigerung des Weihnachtsmanns angeht, die Wunschliste des Klägers zu erfüllen, folgt das Gericht der Argumentation des Beklagten. Dem Schadensersatzbegehren wird mit Verweis auf die Hinfälligkeit der Weihnachtstradition widersprochen. Eine Revision des Urteils ist nur möglich, wenn sie von beiden Parteien unterstützt wird.“
Nie hatte ein Richterspruch solchen Jubel verursacht. Nie hatte es in dieser Sphäre so viele Tränen gegeben. Gabriel machte, dass er verschwand. Hermochonde genoss seinen Sieg. Selbst Satan applaudierte ihm. Als sein Blick auf Azrael fiel, runzelten sich die schuppigen Falten auf der Dämonenstirn. Der Engel machte einen verdächtig zuversichtlichen Eindruck. In seinem Blick lag ein gar nicht engelhaftes Glitzern. Dem Dämon blieb keine Zeit darauf zu achten. Er wurde von Gratulanten umringt. Sogar Batamoluk kam auf ihn zu. Der Fürst warf einen abfälligen Blick auf den Jungen und wies den Dämon zurecht.
„Was macht dieser Wicht denn noch hier?“ donnerte der Dämonenfürst. „Schaff ihn fort, wir wollen feiern!“
Hermochonde sagte nichts. Er versetzte sich und seinen Mandanten zurück in das Kinderzimmer und manifestierte neben dem Bett. Noch ein paar boshafte Floskeln, um die Angelegenheit abzuschliessen, dann konnte er sich bis ans Ende der Zeit feiern lassen…
Genau genommen konnte er das nicht. Genau genommen konnte er gar nichts, ausser sich angaffen zu lassen. Er stand in der Mitte eines Pentagramms, das seine Bewegungsfreiheit erschreckend einschränkte. Jenseits der Kreidelinie stand das Hausmädchen Sonja und starrte den Dämon an.
Mark Berger starrte abwechselnd Sonja und Hermochonde an, der seine Dämonengestalt annahm. Er sagte nichts. Er wusste, dass er Mist gebaut hatte und Sonja gerade die besseren Karten hatte. Eigentlich war ihm das ganz recht. Als das Hausmädchen ihn barsch in die Küche schickte, gehorchte er sofort. Hermochonde begann zu toben, aber das brachte Sonja nicht aus der Ruhe. Sie warf dem Dämon einen verächtlichen Blick zu und folgte dem Jungen. Hermochonde konnte es nicht fassen. Als nächstes betrat ein Menschenpaar den Raum. Es waren Marks Eltern. Es gehörte keine dämonische Schläue dazu zu kapieren, dass sie über ihn bescheid wussten.
Deshalb dachte Hermochonde noch lange nicht daran, sich zu beruhigen. Jeder Dämon gerät in Raserei, wenn er in einem Pentagramm gefangen ist. Etwas unwürdigeres gab es gar nicht. Herrn und Frau Berger waren nicht beeindruckt. Sie standen da und warteten auf das Hausmädchen. Der Dämon konnte ihnen ansehen, dass sie es ihm so richtig zeigen wollten. Der Dämon stiess schreckliche Drohungen und Flüche aus. Seine schuppige Haut bekam dunkele, grünliche und violette Flecken. Geifer spritzte aus dem Maul mit gebleckten Zähnen.
„Du bist also Hermochonde“, sagte das Zimmermädchen zufrieden, als es wieder zurück war. „Ein mickeriger, grosspuriger Dämon, der kleine Kinder entführt.“
Hermochonde wusste, dass er sich nicht aus dieser Falle befreien konnte. Er gab seinen Widerstand auf und fügte sich den Gegebenheiten.
„Was wollt ihr von mir?“ zischte er die Menschen an.
„Das wird sich noch zeigen“, antwortete Sonja, stellvertretend für die Bergers. „Erstmal reicht es, dich hier zu haben.“
„Du hast meinen Sohn entführt“, sagte Frank Berger. „Das wirst du bereuen, ganz gleich wer oder was du bist.“
„Büssen wirst du das“, versicherte Lisa Berger.
„Ich habe dem Jungen nur geholfen“, grollte der Dämon. „Fragt ihn doch.“
„Das werden wir“, sagte der Vater. „Er wird uns alles sagen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie dir das helfen soll.“
Die Eltern verliessen den Raum. Sonja blieb. Sie setzte sich auf Marks Bett und musterte den Dämon neugierig. Nebenan sprachen die Eltern mit Mark. Wegen des Pentagramms konnte Hermochonde nur hören, wenn er angesprochen wurde.
„Dumm gelaufen, was?“ fragte Sonja hämisch.
„Das werden wir noch sehen“, knurrte der Dämon. „Ihr solltet euch besser nicht mit der Hölle anlegen.“
Das Zimmermädchen lachte und erwiderte: „Das tun wir doch gar nicht. Wir legen uns nur mit dir an, und du hast dabei die schlechteren Karten.“
„Mag sein, aber ihr kennt die Regeln nicht.“
„Mach dir nichts vor, Dämon. Wir haben dich gebannt. Wir kennen deinen Namen. Was meinst du was als nächstes kommt?“
„Nein“, raunte Hermochonde. „Das wagt ihr nicht.“
Ohne die magische Wirkung des Pentagramms hätte der Ruf das ganze Haus erschüttert. Der Dämon erkannte, dass diese Menschen nicht allein waren. Sie hatten Hilfe von der Gegenseite. Hermochonde war davon überzeugt, dass Azrael hinter dieser Falle steckte. Das war ein Regelverstoss, aber das half Hermochonde wenig. Er war in die Gewalt von Menschen geraten, und wenn sich die an die Regeln hielten, war er ihnen ausgeliefert. Sonja wusste das. Der Dämon konnte es nicht bestreiten.
Er musste das beste aus der Situation machen. Er musste sich mit den Menschen arrangieren und einen Weg finden sie zu täuschen. Schliesslich war er ein Dämon und die Menschen waren schwach. Sonjas Schwächen waren nicht schwer zu erraten und der Dämon hoffte sehr, sie für sich nutzen zu können. Bis dahin musste er sich fügen, in was auch immer. Nur ein kleiner Fehler, und er würde es diesen Menschen so richtig zeigen – und dann in die Hölle zurückkehren. Er wollte lieber nicht darüber nachdenken was passierte, wenn sie keinen Fehler machten. Auch nicht darüber, was Azrael wohl bezweckt hatte, als er mit diesen Menschen sprach.
Irgendwann tauchte Frank Berger wieder auf. Er erklärte dem Dämon, dass er bescheid wusste. Hermochonde konnte mit einem einfachen Ritual versklavt werden. Er konnte den Rest der Ewigkeit in diesem Pentagramm verbringen. Er konnte sogar vernichtet werden.
Hermochonde nahm diese Ausführungen gelassen hin. Er wollte wissen, was Frank Berger forderte. Er wollte wissen, was Azrael ihm eingeredet hatte. Es ging natürlich darum, den Prozess ungeschehen zu machen. Die Revision war eine Sache, aber Azrael wollte mehr. Dahinter musste Gabriel stecken. Der Dämon durfte das auf keinen Fall zulassen.
Frank Berger hörte sich die Weigerung an, er hob die Schultern, liess sie fallen und ging. Das Hausmädchen grinste den Dämon an. In ihren Augen glitzerte Niedertracht. Trotz des Pentagramms spürte Hermochonde ihre Gier - weil sie ihn anging. Es sah so aus, als müsste er nicht mehr lange auf seine Chance warten…
„Du bist also ein Dämon“, sagte Sonja nach einer Weile. „Hässlich und hilflos.“
„Was weisst denn du, Weib? Ich habe mehr Macht, als du dir vorstellen kannst!“
„Ach ja? Und was kannst du mit deiner Macht tun? Nicht viel, wenn ich mich nicht irre.“
Sie lachte Hermochonde aus. Der Dämon hörte die Falschheit in dem Lachen. Er hatte wirklich eine Chance.
„Ich könnte dich reich machen“, sagte er trocken. „Ich könnte dir jeden Wunsch erfüllen.“
„Den Eindruck habe ich nicht.“
„Ich könnte dich berühmt machen“, fuhr Hermochonde ungerührt fort.
„Dazu müsste ich dich nur frei lassen, oder?“
„Nein. Um einen Dämon dazu zu bringen etwas für dich zu tun, musst du einen Pakt schliessen. Reine Formsache, aber so sind die Regeln.“
„Ein Pakt mit dir?“ Sonja lachte wieder. „Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„Ich habe dir auch keinen Pakt vorgeschlagen, Weib. In diesem Haus hast du nichts zu sagen.“
„Mehr als du“, entgegnete Sonja.
In einem anderen Raum erzählte Mark seinen Eltern von dem jenseitigen Gerichtssaal, von Erzengeln und Teufeln und Heiligen, von Dämonen und von dem Weihnachtsmann.
„Was bedeutet Revision?“ fragte Mark.
Der Vater erklärte es ihm. Der Dämon erklärte dem Hausmädchen, wie ein Pakt aussehen müsste, der sie reich, mächtig und so gut wie unsterblich machte. In einer himmlischen Sphäre erklärte Azrael dem niedergeschlagenen Weihnachtsmann, dass Weihnachten noch nicht vorbei war und sie es der Dämonenbrut noch so richtig zeigen würden. In einer höllischen Sphäre wunderte sich Fürst Batamoluk, dass Hermochonde nirgends zu finden war. Anderen Höllenfürsten erklärte er, dass er strikt dagegen war, Hermochonde zu adeln.
„Lasst sie ruhig feiern“, beruhigten die Erzengel die Apostel.
Die ganze Hölle feierte den Sieg über Sankt Nikolaus; nur ein Dämon war auf der Erde, gefangen im Haus eines Vermögensberaters, bewacht von einem Hausmädchen.
„Hier, bitte“, sagte Hermochonde feierlich und überreichte Sonja das Dokument.
Sie nahm es. Sie nahm auch den Stift, der sehr alt und sehr wertvoll aussah. Sie schrieb. Der Stich überraschte sie nicht. Sie liess das Blut aus der kleinen Wunde quellen und lächelte.
„Nun befreie mich“, verlangte der Dämon.
„Noch nicht, mein Freund. Ich habe nicht vor, mich mit irgendwelchen Engeln anzulegen. Dann ist da noch die Sache mit Weihnachten. Mir kann’s egal sein, ich hasse Weihnachten, aber die Engel sehen das anders. Sie wollen die Angelegenheit am liebsten vergessen.“
„Das kommt gar nicht in frage“, widersprach Hermochonde.
„Wie ich das sehe, hast du gar keine Wahl.“
„Vergiss es.“
„Von mir aus. Wie du meinst. Ich habe nichts gegen einen Dämonensklaven im Haus, und auf Weihnachten kann ich verzichten…“
Nach menschlichen Masstäben war das Wetter scheusslich, aber wen interessierten schon menschliche Masstäbe? Den Himmel so wenig wie die Hölle, und Hermochonde schon gar nicht.
Es kam ihm so vor, als ob er schon seit einer Ewigkeit auf der Erde war. Er hatte um eine Chance gebeten, er hatte sie bekommen. Er hatte sie verspielt. Er war der einzige, der sich daran erinnerte, umgeben von wimmernden Weihnachtsliedern, Tannenduft und Glitzertand. Zum Glück war das bald vorbei, aber Hermochonde befürchtete, dass er ein weiteres Jahr auf der Erde verbringen musste.
Er stand mit offenem Mantel an einem Punschstand. Sein Blick suchte nach einer Gelegenheit. Zwei Kinder kamen vorbei, so aufgeregt in ein Gespräch vertieft, wie es nur Siebenjährige sein können. Es ging um Weihnachten. Hermochonde hörte nicht zu. Er leerte seinen Becher und wollte gerade einen weiteren bestellen – seinen vierundzwanzigsten – als sein Blick auf eine Frau fiel, die den Jungen folgte.
Der Dämon ging kurz um die Hütte. Der Standler rannte ihm nach, aber der Kunde der Saison war spurlos verschwunden. Ein eleganter, junger Mann ging an der Hütte vorbei und folgte der Frau. Sie war heimtückisch und gierig, sie war verbittert und sie hasste Weihnachten. Hermochonde ging davon aus, dass sie trotzdem wusste, dass sie eine Seele hatte, die Seele eines hasserfüllten Hausmädchens. Er erkannte eine Gelegenheit, wenn sie sich ergab - und er kannte Sonja, auch, wenn die sich nicht an ihn erinnerte.