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Dämonen
Acht Kinder waren wir. Eine irische Familie, in einem der Arbeiterhäuser mit den räudigen Wänden: Nässe, Salpeter, Schimmel. Die Straßen schwarz von Ruß und Dreck.
Es war irrsinnig laut, ständig wurde gestritten und geschrien. Vier Jungen und vier Mädchen immerfort im Krieg, mit allen Gemeinheiten, fiesen Tricks und Hinterhältigkeiten, die man sich nur denken konnte. Unser Vater fuhr zur See, war selten zu Hause und kümmerte sich um nichts. Mutter hatte ständig die Teetasse in der Hand, doch wir wussten, da war etwas anderes drin. Und ich? Ich war leider der Jüngste.
Meine Schwestern machten mich zum Sklaven. Hyra, Verena, Ada und Katie – vier hundsgemeine Luder; was die eine nicht wusste, fiel der anderen ein.
Am schlimmsten waren ihre Stimmen. Grell und durchdringend; wie Bohrer marterten sie mein Hirn. Selbst nachts waren sie in meinem Kopf. In diesen Momenten hätte ich sie am liebsten umgebracht. Doch ich wusste, mein Tag würde kommen.
Auch meine Brüder nahmen mich halbe Portion nicht ernst. Ich musste spuren, sie hatten das Kommando. Trat einer in Hundescheiße oder hatte sich nachts bekotzt - ich musste das immer sauber machen.
Meine Mutter saß am Küchentisch, schälte Zwiebeln und Kartoffeln, legte dann den Kopf auf die verschränkten Arme und schlief ein.
Ringsumher tobte die Hölle. Raufereien mit ausgekugelten Armen, Modeschauen mit vor Wut und Neid zerfetzten Kleidern, Handgemenge um die letzten Bratkartoffeln – ein Irrenhaus, das niemals zur Ruhe kam. Ich tat das einzig Richtige und haute ab. Irland war nicht mein Land, machte ich mir weis – und hatte doch Kopf, Brust, Herz und Seele strotzend voll von unseren Liedern.
Die trage ich noch heute in mir. Keine leichte Bürde. Dieses Ziehen am Herzen mag ich nicht, auch nicht den Druck in den Augen.
Es musste Australien sein. Ich dachte damals, in den Staaten wären alle Chancen schon vergeben. Viele aus unserer Siedlung hatten es dort nicht geschafft; das Geld, was sie nach Hause schicken wollten, kam nie an.
Merkwürdig, dass ich an meine jungen Jahre solch glasklaren Erinnerungen habe, manches Mal aber nicht weiß, was ich gestern getan habe.
Jetzt, nach unvorstellbar langer Zeit, bin ich Aussie – und leider schon schwer in die Jahre gekommen. Ich fühle, wie ich feststecke und in Gedanken immer mehr in Irland lebe, so beschissen es auch war. Vielleicht ist’s nur Träumerei, ich weiß es nicht.
Ich habe die alten Melodien im Kopf. Aber auch die alten Schrecken.
Bufford sitzt schon am Frühstückstisch und durchforstet die ‚Airlie News’ nach Neuigkeiten.
„Na, altes Haus“, sage ich, „gut geschlafen?“
„Morning, Barron!“, sagt er. „Leider nicht. Ich träum’ immer so komisches Zeugs.“ Er legt die Zeitung auf den Toastkorb.
„Entschuldige bitte“, werbe ich um Verständnis für mein Eingreifen und lege die „AN“ neben den Korb, „Toast muss atmen.“
„Ja, wie ein Mensch“, sagt er gedehnt und gähnt. „Hast ja recht.“
Bufford stochert pikiert im Rührei, ein winziges Stück Eierschale stört ihn gewaltig. Fehlende Sorgfalt in der Küche? Aber das wird er Betty Nightingale, unserer Wirtin, nicht sagen. Er streicht seine eisgrauen Locken zurück, salzt noch einmal, kostet und schiebt den Teller beiseite.
Ein Hüne mit Hosenträgern. Gegen ihn wirke ich winzig, er hat australische Steaks gegessen und ich Kohl und Kartoffeln. Wahrscheinlich wirken wir zwei wie ein Komikerpaar: ich mit meinem kahlen Vogelkopf, er mit seinem markanten Künstlerschädel. Bufford ist Bass, ich bin Tenor.
Dieser Gegensatz ist wohl die Basis für unsere Männerfreundschaft: Wir sind zu unterschiedlich, um miteinander zu konkurrieren.
Als er hier einzog, diskutierten wir nächtelang die großen Dinge: den Sinn des Lebens, die Irrtümer der Liebe. Endlich hatte ich einen Gesprächspartner gefunden.
Wir sind Pensionäre. Im Gegensatz zu mir hat Bufford eine Höhere Schule besucht, doch er macht kein Aufhebens davon. In der letzten Zeit bemerke ich allerdings, wie er sich unaufhaltsam von mir entfernt, jeden Tag ein bisschen mehr. Sein Interesse an der Welt lässt spürbar nach.
Das fällt auf, weil uns im Hause Betty Nightingales nichts von der Unruhe der Welt erreicht. Hier hat das Wenige eine größere Bedeutung, jede Bewegung, jede Veränderung, jedes Wort. Auch das nichtgesagte.
Wir leben wie in einem Terrarium, aber mir gefällt das.
Mein Zimmer hat Charme: große Fenster zum Garten, Mahagoni-Schreibtisch, blühender Hibiskus und eine ganze Wand voller Bücher über Pferde, Jagd und Angelsport. Einen Teil des Regals kann man beiseite schieben und dahinter wichtige und wertvolle Sachen deponieren.
Ich habe dieses Geheimverlies beim Suchen nach dem interessantesten Buch entdeckt. Da ist ein kleiner Hebel, der auf den ersten Blick keinen Sinn ergibt. Ich bin mir sicher, Missis Betty weiß nichts davon. Sie ist die zweite Ehefrau des dahingegangenen Hausherrn.
Der hatte sich hier ein erotisches Kabinett eingerichtet: weit gespreizte Beine, spitze Brüste und manches mir Unbekannte.
Ich hab mir alles angeschaut, doch in meinem Alter wirkt der ganze Krempel wie Kuriosa.
Doppelt kurios, denn Erotik brachte früher oft Unruhe in mein Leben.
Die Sonne sticht und Betty Nightingale lässt die Jalousien halb herunter; das gefilterte Tageslicht ist wie unser Leben, gedämpft und indirekt.
Am Nachmittag bezieht sich der Himmel, Windböen bringen die Eukalyptusbäume zum Ächzen und Dachschindeln fliegen wie Vögel davon. Blitze zucken, es kracht wie im Krieg. Bufford und ich haben die Siesta abgebrochen und treffen im Salon auf unsere Wirtin. Es scheint, dass wir zusammenrücken, wenn Gefahr im Verzug ist. Die Hauskatze verschwindet unter der Couch.
Bald jedoch ist der Spuk vorbei, aber es schüttet, dass die Dachrinnen überlaufen.
Ich trete ans Fenster, um das Unwetter zu beobachten, mir fällt ein grüner Buick auf. Ein Ehepaar mit einem kleinen Mädchen balanciert mit Trippelschritten zwischen den Pfützen und strebt unserem Haus zu – „Rooms to let“.
Der Türklopfer dröhnt wie der Nachhall des Donners.
Selbstverständlich öffnet unsere Wirtin den patschnassen Leuten die Tür. Ihr Auto streikt. Das Mädchen schreit wie irre. Eine Frequenz, die mich wie ein Stromschlag trifft. Die Kleine ist nass und friert, die Eltern ziehen sie mit sich, folgen der Hausherrin auf das Zimmer.
Ich gehe ebenfalls nach oben und lasse Bufford wissen, dass ich mir nur was zum Lesen hole und gleich zurück sein werde. Missis Betty sagt ihren neuen Gästen, sie brächte ihnen gleich heißen Tee und bald gäbe es Dinner.
Minuten später knallt eine Tür. Wieder hallt grässliches Geschrei durchs Haus. Die Kleine rast bis zum Ende des Gangs, genau vor meine offenstehende Zimmertür. Zornig tobt und stampft sie mit den Füßen, will essen und trinken, ein heißes Bad, Honig, fernsehen. Eine nervtötende Prinzessin, ein kleines Monster, rücksichtslos, egoistisch, tyrannisch.
In meinem Hirn platzt eine Drüse mit ätzender Lake. Honig habe ich nicht, aber irische Sahnetoffees.
Gierig greift sie danach und schreit dabei in den höchsten Tönen: „ Ja, ja, ja – ich will alle!“ Langsam ziehe ich meine Hand zurück. Danach grapschend folgt sie mir. Ich werfe die Tür zu, Sekunden später ruft draußen die Mutter „Susan, Susan! Wo steckst du schon wieder?“ Das Mädchen öffnet den Mund.
Vor meinen Augen drehen sich rote Spiralen. Hyra, Verena, Ada und Katie – mein Kopf ist aus Porzellan und zerspringt.
Nur langsam komme ich wieder zu Verstand. Ich nehme das nächstbeste Buch und gehe nach unten.
„Ah“, sagt Bufford, „ich dachte schon, du wärst eingeschlafen. Hast du deinen Schmöker gefunden?“
„Na hör mal“, sage ich, „dieses Buch hat Anspruch. Edle Pferde!“
Erst jetzt sehe ich, dass es ein Fachbuch übers Fliegenfischen ist und lege es mit der Rückseite nach oben neben mich. Susans Eltern hasten durch den Salon, Betty Nightingale zeigt ihnen den Weg in den Keller. Ich beteilige mich an der Suche
Bald ist der Teufel los. Polizei überall. Eine Hundestaffel sucht das Gelände ab. Die kleine Susan ist und bleibt verschwunden. Auch ich werde verhört. Der Inspektor kommt in mein Zimmer und ist stinksauer: „Vielleicht haben Aliens das Mädchen entführt? Sie können mir nicht erzählen, dass Sie nichts gesehen oder gehört haben! Die Kleine hat sich doch nicht in Luft aufgelöst!“
„Aber Inspektor, ich verlasse das Haus fast nie, bin entweder in diesem Zimmer oder im Salon. Ich bin sehr betroffen vom plötzlichen Verschwinden des Mädchens.“ Kopfschüttelnd füge ich hinzu: „Dass ihre Eltern aber auch nicht acht gegeben haben!“
Vor der Bücherwand liegt ein Toffee. Ich trete drauf und beteuere: “Tut mir leid, selbst wenn Sie mir ein Loch in den Bauch fragen, ich kann Ihnen wirklich nichts sagen.“ Wütend steckt er sein Notizbuch weg und verlässt mich grußlos. Liebend gern hätte er die Tür ins Schloss gepfeffert, das weiß ich. Aber es ist nicht sein Haus.
Nach der Mittagsruhe komme ich die Treppe runtergeschlendert und freue mich auf den Nachmittags-Tee.
Betty Nightingale läuft geschäftig hin und her, als ob die Küchenarbeit sie nie zur Ruhe kommen ließe, wischt ihre Finger in einem fort an der gestreiften Schürze ab; ihr gütiges Gesicht glänzt. Manchmal serviert sie noch eine Nettigkeit, die uns eigentlich gar nicht zusteht. Glasiertes Sandgebäck, einfach unwiderstehlich! Ein anderes Mal sind es Welsh rarebits. Bufford und ich reißen dann immer die Arme hoch und rufen: „My Goodness! Das können wir unmöglich annehmen. Betty, Sie machen sich immer so viele Umstände wegen uns!“
Bufford steht am Fenster. Ich will ihn mit einem Klaps auf die Schulter begrüßen, aber Betty Nightingale hält mit Verschwörermiene den Zeigefinger vor die verschlossenen Lippen. Ja, natürlich – ich weiß Bescheid. Seine arme Enkelin!
Oft überkommt es ihn und dann empfiehlt es sich, ihn nicht anzusprechen. Ich halte mich daran, Betty natürlich auch.
Jenen Tag habe ich so klar in Erinnerung, als wäre es gerade erst geschehen:
Bufford hat Besuch aus Sydney - seine Tochter, ihr Mann und die kleine Abi.
Der Tag ist heiß und drückend, die schicken Sommersachen kleben am Körper. Sie wollen ans Meer. Missis Nightingale, Bufford und ich kommen mit.
Wir essen Fish ’n Chips. Abi ist entsetzlich laut, schreit herum, will lieber Süßes, drangsaliert ihre Eltern bis aufs Blut – immer in den höchsten Tönen. Wie meine Schwestern. Das ist grausam für meine Nerven.
Unsere Strand-Mahlzeit ist üppig, wir spazieren die Pier entlang, um mit den Resten die Möwen zu füttern.
Ich soll ein paar Fotos von ihnen machen. Das tue ich natürlich gerne. Abis Mutter lehnt sich in Starpose ans Geländer. Das endet hier, obwohl die Pier noch weiter ins Meer führt. Ein rotes Schild besagt, dass nach diesem Punkt jegliche Aktivität auf eigene Verantwortung geschieht. Der Windsack steht prall vom Mast ab, die See ist rau.
Wieder schreit das Mädchen ganz schrecklich. Mühelos übertönt sie die Möwen, reißt mir die Chips aus der Hand, wirft sie hoch in die Luft und quiekt vor Vergnügen – so hoch und schrill, dass es mich schaudert. Ich spüre ihre fettigen Finger an meiner Jacke. Meine Kopfhaut zieht sich zusammen, ich fühle einen reißenden Schmerz. Unbarmherzig kreischt sie weiter: eine Kreissäge, die aufjault. Eine chinesische Folter, sinnlos und gellend laut, in meinem Kopf tausendfach wie mit einem Megafon verstärkt.
Ein fliegender Händler kommt vorbei und ich kaufe einen balinesischen Drachen – den mit der grausamsten Fratze.
Der Wind steht gut, er steigt hoch hinauf, auch wir Älteren haben unseren Spaß. Der bunte Dämon reißt wie ein Gefangener an der Leine, er könnte genauso gut in meiner Seele verankert sein. Sein Schuppenschwanz ruckt und schüttelt sich.
Abis Gekreisch macht mich wahnsinnig.
Ich übergebe ihrem Vater die Leine. Er ist stolz wie ein Kapitän und meint, diesen Kobold dirigieren zu können. Ich habe die Hände frei. Alle schauen gebannt nach oben, gefesselt von den Flugkünsten dieses papiernen Ungeheuers.
In unvermuteten Turbulenzen wirbelt und schießt der Balinese über ihren Köpfen, stürzt aber dann wie ein Stein ins Meer.
Da war Abi schon nicht mehr da. Haie sind schlimmer als Piranhas. Das Wasser hat rosa aufgeschäumt. Bei dem hohen Wellengang wäre sie wohl auch so ertrunken.
Viel später erzählte mir Bufford, dass seine Tochter wahnsinnig geworden sei. Den halben Kopf habe sie sich scheren lassen, darauf ließ sie den Namen ihres Mädchens in allen Schriftarten der Erde tätowieren. Die Haare der anderen Hälfte hingen ihr runter bis zum Gesäß, durchzogen von schwarzen und weißen Strähnen.
Weiß ist in China die Farbe der Trauer.