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Dämon der Freiheit
Wach auf, Cassandra.
„Wer bist du?“, fragte ich verwirrt.
Ich bin du, bekam ich zur Antwort.
„Du kannst nicht ich sein, sonst wäre ich niemand!“, gab ich verwirrt zurück.
Eine Münze hat zwei Seiten und trotzdem ist sie eins, antwortete die Stimme gleichmütig.
Und jetzt, öffne die Augen.
„Was werde ich sehen?“
Deine Zukunft, bekam ich zur Antwort.
Als ich die Augen öffnete, sah ich nichts.
Unvermittelt überkam mich die Angst, mein gegenwärtig treuster Begleiter. Sie war da, wenn ich nicht alles sehen konnte. Sie war da, wenn ich das, was ich hörte, nicht zuordnen konnte. Sie war immer da.
Steh auf.
„Ich kann nicht“, gab ich zurück. „Ich bin es leid aufzustehen.“
Der Schmerz kam ohne Vorwarnung. Mein Kopf begann zu pochen, als hätte ich mir den Schädel gerade sehr hart angestoßen. Ich drückte hilflos meine Finger an die Schläfen.
Möchtest du, dass die Schmerzen aufhören, Cassandra?
„Ja! Bitte!“, flehte ich.
Dann steh auf.
Ich quälte mich aus dem Bett. Als ich schließlich auf wackeligen Beinen stand, kam zu den Kopfschmerzen noch Schwindel dazu. Urplötzlich bohrten sich Nadeln in mein Gehirn. Der Schmerz war unerträglich und ließ mich zu Boden sinken. „Ich habe doch gemacht, was du wolltest! Bitte, lass es aufhören!“, wimmerte ich.
Du bist schwach. Du versuchst nicht einmal mich zu bekämpfen, sagte die Stimme in einem eisigen Tonfall. Und du vertraust zu schnell. Menschen lügen. Ich lüge. Traue Niemandem. Niemals. Auf einmal waren die Nadeln aus meinem Kopf verschwunden. Zurück blieb nur ein dumpfes Pochen.
Zieh dich an.
„Warum?“
Weil die Zeit gekommen ist, uns zu befreien.
Eine Stunde später stand ich im Schatten eines Häuserblocks. Es musste gegen drei Uhr sein und die Straßen waren wie ausgestorben. Mein neuer Begleiter hatte mir bis hierhin nur knappe Befehle erteilt, die ich aus Angst vor weiteren Schmerzen befolgte. Einer dieser Befehle schlummerte in meiner Manteltasche. Ich wartete.
Da.
Um eine Ecke torkelte ein Mann mittlerer Statur. Aus seiner Richtung drangen gedämpfte, lallende Geräusche zu mir.
Sprich ihn an.
„Er … er ist betrunken. Ich möchte das nicht, bitte. Ich habe Angst.“
Du sollst zu ihm hingehen und ihn ansprechen, wiederholte die Stimme bedrohlich.
Ich setzte mich zitternd in Bewegung. Als ich ungefähr zwei Meter vor ihm war, blieb er stehen und blickte mich aus glasigen Augen an.
„Guten Abend, schöne Dame“, lallte er in meine Richtung. „Suchst du Gesellschaft?“ Selbst über diese Entfernung erfüllte der Geruch nach Alkohol den Raum zwischen uns.
Näher.
„Nein, bitte, ich möchte nicht“, sagte ich laut.
„Ach komm schon, ich tu dir nichts“, grinste mein Gegenüber mich an und torkelte in meine Richtung. Noch anderthalb Meter zwischen uns.
Du weißt, was er mit dir vorhat.
„Ich bin auch ganz lieb zu dir, wenn du lieb zu mir bist.“
Noch einen Meter Abstand.
Panik stieg in mir auf. Ich wollte nicht angefasst werden. Ich wollte diese stinkenden Hände nicht an mir spüren und versuchte einen Schritt rückwärts zu machen, aber mein Körper gehorchte meinen Anweisungen nicht.
Wir laufen nicht weg. Nie wieder. Kämpf endlich!, schrie mich die Stimme an.
Noch ein halber Meter zwischen uns.
„Nein, bitte, ich will nicht. Lass mich weglaufen, bitte“, flehte ich. Seine rechte Hand erreichte plötzlich meinen linken Arm.
„Oh nein, Häschen. Du läufst gerade nirgendwo hin“, trug sein stinkender Atem die Worte in meine Richtung. Kein Abstand mehr.
Seine Hand führte meinen Arm langsam in Richtung seines Schritts, während er höhnisch grinste.
Ich wusste, was jetzt kommen würde. Es würde mit Berührungen beginnen. Ich würde versuchen, Widerstand zu leisten. Dann würde mein Widerstand gebrochen werden, denn mein Körper war nicht stark genug. Meine Welt würde zu einem Schatten über mir schrumpfen, der rhythmisch stöhnend in mich eindrang. Ich gab auf und erwartete mein Schicksal.
Urplötzlich zuckte ein Blitz durch meinen Körper.
Jeder schmiedet sein Schicksal selbst. Du hattest die Wahl.
Dann ging alles rasend schnell, als mir die Kontrolle über meinen Körper entzogen wurde. Cassandra zog den Brieföffner mit der rechten Hand aus der Manteltasche und stach mit aller Wucht von der Seite in seinen Hals. Der Ausdruck in den Augen des Gegenübers veränderte sich schlagartig von glasig zu überrascht und dann zu schmerzverzerrt. Sie zog die Klinge erbarmungslos wieder heraus. Es gab es ein schmatzendes Geräusch und Blut begann fast augenblicklich, aus der Wunde zu spritzen. Er ließ sie los und hielt sich seinen Hals mit beiden Händen, als er auf die Knie fiel.
Was auch immer er ihr sagen wollte, er war lediglich zu einem japsenden, gluckernden Geräusch fähig. Blut quoll nun aus seinem Mund und er begann zu zucken, als müsse er sich übergeben.
„Du hättest handeln können, aber das hast du nicht. Du bist und bleibst schwach. Deswegen bin ich gekommen. Um dich von dir selbst und deiner Schwäche zu befreien“, sagte Cassandra.
Ich spürte, wie ich von Minute zu Minute mehr verschwand. Ich habe Angst, sagte ich leise.
„Ich weiß“, sagte Cassandra ruhig, fast schon liebevoll. Vom Bordstein hörte man ein letztes Seufzen, als der Unbekannte sein Leben aushauchte.
„Aber das ist jetzt vorbei. Du bist … frei.“
Danke, war das letzte, was ich jemals sagte.
Als Cassandra sich eine Stunde später Zugang zum Haus durch ein halboffenes Kellerfenster verschaffte, kam es ihr vor, als wäre keine Zeit vergangen. Das gleiche Fahrrad an der gleichen Stelle. Die Mülltüten an der Treppe. Das dumpfe Licht im Hausflur, dass durch eine Zeitschaltuhr gesteuert wurde. Der Aufzug, immer noch kaputt. Sie ging in den zweiten Stock und klingelte. Einmal, dann ein zweites Mal. Nach fünf Minuten hörte sie schlurfende Geräusche und die Tür wurde geöffnet. Sie schaute in blaublasse, allzu vertraute Augen.
„Cassi? Was zum … was machst du um diese Zeit hier? Und wie siehst du überhaupt aus?“, erwiderten der Mann hinter der Tür.
„Hör mal, wenn du wegen neulich hier bist … mir sind da etwas die Pferde durchgegangen, aber ich meine, ich war echt voll und … und du hast dich auch an mich rangemacht, oder? Cassi? Alles ok?“
Als das Licht im Hausflur plötzlich erlosch, wurde erneut ein Schicksal geschmiedet.