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Dämmerung
Dunkelheit
Es war dunkel. Schon lange.
Der Erste wusste nicht, wie lange.
Er war eingesperrt.
Der Raum war nicht groß, vielleicht 13 oder 15 Quadratmeter. Er saß mitten im Raum in einem weichen, tiefen Sessel. Er wusste, daß hinter ihm die Tür sein musste, obwohl er sich nicht sicher sein konnte. Er hatte sich schon lang nicht mehr nach ihr umgedreht.
Links von ihm war ein Fenster. Es war vernagelt. Zwischen zwei Brettern drang ein feiner Lichtstrahl durch einen Spalt. Er erhellte den Raum gerade genug, um das Bild an der gegenüberliegenden Wand sichtbar zu machen. Das Bild beunruhigte ihn. Dennoch, oder gerade deshalb konnte er nicht wegsehen.
Am Fenster stand der Zweite. Oft versuchte dieser zu erkennen, was jenseits des Fensters war. Im Moment kehrte er der Lichtquelle den Rücken zu. Er blickte hinüber zum Dritten, der an dem Regal lehnte. Es stand neben der Tür. Es war staubig.
Genauso staubig, wie die ledergebundenen Bücher, die das Regal füllten. Der Dritte stand oft dort.
Es schien ihm nicht nur in physischer Hinsicht eine Stütze zu sein.
Sie waren zusammen hierher gekommen, obwohl keiner mehr genau wusste, wie und wann das geschehen war. So lang sie sich zurückerinnern konnten, waren sie schon hier.
Trotzdem wusste der Erste, dass es nicht immer so gewesen war. Irgendwann einmal konnten sie frei aus dem Zimmer heraus gehen und wieder zurückkehren.
Doch irgendwann hatten sie die Tür nicht mehr öffnen können.
Er konnte sich daran erinnern, schon eimal durch das Fenster gesehen zu haben. Aber er wusste nicht mehr, was er gesehen hatte. Der Dritte hatte es nach einem besonders heftigen Streit mit dem Zweiten verbarrikadiert.
Wieder einmal diskutierten die beiden. Es würde nicht lange dauen. Der Dritte würde den Zweiten schlagen. Wieder einmal. Das Thema war immer das selbe:
Der Zweite stellte sich regelmäßig vor, wie es wohl wäre, herauszukommen. In schillernden Farben beschrieb er eine Welt, an die er sich selbst kaum erinnern konnte.
Der Dritte wurde ebenso regelmäßig wütend. Er war schon vor langer Zeit zu der Überzeugung gelangt, dass sie niemals dort herauskommen würden. Es machte ihn rasend, daß der Zweite nicht zur Vernunft kommen wollte.
"Wieso siehst du es nicht ein?" Der Dritte schrie mehr, als er sprach.
"Warum gibst du immer so schnell auf?", entgegnete der Zweite.
Der Erste fühlte sich hilflos. Schon lange hielt er sich aus den Streitigkeiten der anderen heraus. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Irgendwie hatten beide recht, und er konnte sich nicht entscheiden, zu wem er halten sollte.
Der Zweite konnte sein Herz mit Sehnsucht füllen, wenn er seine Visionen beschrieb: "Stell dir doch vor, wie es wäre. Wir könnten die Sonne sehen. Es wäre warm. Stell dir vor, wie du unter einem grünen Baum sitzt und einen sußen, roten Apfel isst. Stell dir vor, du könntest gehen, wohnin du willst. Und wenn es dir dort nicht gefällt, kannst du weiterziehen. Wie wäre das, wenn du Kontakt zu anderen Menschen haben könntest? Ihr könntet Ideen austauschen. Vielleicht würde dort jemand zuhören. Sicher gibt es da draußen jemanden, der nicht gleich alles mies macht."
Mit den letzten Worten schoss der Zweite seine gleichermaßen wütenden wie ängstlichen Blicke in Richtung des Dritten. Und der Erste fühlte, wie die Energie, die ihn während der Träumereien des Zweiten erfüllt hatte, unter dem geringschätzigen Blick des Dritten dahinzuschmelzen begann. "Aber die Sache ist nun mal die, daß du nicht hier heraus kommen kannst. Sie das doch endlich ein! Wir sind schon immer hier, und das wird auch immer so bleiben. Wir können hier nicht weg. Mit deinen Fantasien wirst du das nicht ändern!" Der Dritte steigerte sich in seine Wut hinen. "Du Nichtsnutz! Versager! Wenn du doch mal einen vernünftigen Beitrag leisten würdest. Aber nein!" Sein Gesicht verzerrte sich zur Fratze während sein Kopf hochrot wurde. Schon ballte sich seine Rechte. Die Knöchel und Adern traten hervor. Würde er nackt dort stehen, könnte man sehen, wie sich alle Muskeln in seinem Körper spannten. "Du produzierst nur nutzlose Bilder ohne jeden Bezug zur Realität."
Der Erste spürte, wie sich proportional zur sprühenden Aggression des Dritten ein Kloß in seinen Hals schob und wuchs. Umso heftiger die Auseinandersetung der anderen wurde, desto hilfloser fühlte er sich. "Bezug zur Realität" äffte der Zweite. "Was ist denn schon Realität? Was in deinen ach so wichtigen Büchern steht?"
"In ihnen wird alles erklärt. Alles. Es ist so, wie es dort steht. So und nicht anders. Unsere Welt ist dieser Raum. Wäre die Welt größer, könnten wir uns auch weiter bewegen. Aber die Tür ist zu. Hörst du? Sie ist zu! Und du bekommst sie nicht auf."
"Der Erste könnte sie aufbekommen." Der Erste ahnte, dass der Zweite mit dieser Bemerkung recht haben könnte. Doch er konnte sich nicht rühren. Wie immer, wenn die beiden anderen stritten, starrte er auf das Bild. Es hing ihm direkt gegenüber. Es war groß. Es zeigte ein Gesicht. Er wußte nicht mehr, wessen Gesicht dies war, aber er spürte, daß es ihm einmal wichtig gewesen war. Seine Wirkung entfaltete es noch immer. Es lähmte ihn. Wenn er es anstarrte, konnte er sich nicht rühren. Und weil er sich nicht rühren konnte, starrte er es immer weiter an. Selbst wenn er eine Idee gehabt hätte, die den Streit der anderen hätte beenden können - er hätte sie nicht aussprechen oder gar umsetzen können.
Aber er hatte keine Ideen. Schon aus Angst, denn er hatte wenig Lust, sich genau wie der Zweite dem Zorn des Dritten auszusetzen. Sein Bewusstsein war mit zwei Gedanken gefüllt: Angst vor Strafe, und dem Bild. Sie gehörten zusammen, und sie ließen keinen Platz für irgendetwas anderes. Er war steif.
"Sieh ihn doch an!" Der Dritte war völlig außer sich. Er verließ den Schutz seiner gesammelten Wahrheiten und stürmte auf den Zweiten zu, packte ihn mit groben Fingern am Nacken und drehte ihn in Richtung des Ersten. Der saß bewegungslos in seinem Sessel und starrte auf das Bild.
"Der rührt sich nicht. Der rührt sich nie!"Die Stimme des Dritten überschlug sich fast.
"Aber er konnte es mal! Ich weiß genau, daß er früher die Tür aufmachen konnte."
"Hör endlich auf zu träumen!" Dann ging es los. Die Faust des Dritten schnellte in einem tiefen Bogen durch die Luft und fand ihr Ziel im Magen des Zweiten. Der krümmte sich, als ihm der Atem weg blieb. "Sei doch realistisch!" Der Dritte heulte, während er weiter auf den Zweiten einprügelte." Irgendwann würde der auf dem Boden liegen und sich nicht mehr rühren. Erst dann würde der Dritte wieder zur Ruhe kommen. So war es immer gewesen. Und so würde es auch jetzt kommen. Das jedenfalls dachte der Erste, während er auf das Bild starrte. Er sah nichts anderes. Die Schreie der Streitenden drangen wie aus großer Entfernung zu ihm. Es war ihm, als würde das Bild zurückstarren. Es war, als würde es ihm versichern: "Wenn du still sitzen bleibst, wird dir nichts passieren. Alles wird gut, wenn du nichts tust." Es war gleichermaßen Rat und Befehl.
Der Erste konnte sich nicht dagegen streuben.
Es war der einzige Weg.
Genau auf diese Weise war der Streit schon hunderte von Malen abgelaufen, und alle waren sicher, daß es so bleiben würde.
Doch dann änderte sich etwas.
Licht
Es war nur eine Kleinigkeit.
Die Auswirkungen waren größer.
Der Dritte stolperte.
Er versuchte, sich am Zweiten festzuhalten. Doch der war so überascht, daß er dem Zug nachgab. Aneinander geklammert stürzten sie durch den Raum.
Auf den Sessel.
Der Erste versteifte sich noch mehr, als er spürte, wie sein Sitzmöbel nach hinten überkippte. Einen Moment lang schien die Zeit still zu stehen und es sah so aus, als würde der Sessel sich wieder aufrichten. Doch schließlich füllte ein dumpfer Schlag den Raum.
Dann war Ruhe.
Der aufgewirbelte Staub leuchtete im Licht des feinen Sonnenstrahls und sank langsam zu Boden. Dort lagen die drei, still ineinander verkeilt.
Das hätte nicht passieren dürfen. Das war noch nie passiert.
Der Dritte war etwas panisch. Sein Puls raste. Sein Kopf war diesmal nicht aus Wut rot.
Seine Sicherheit wankte. Da war etwas, das nicht so war wie immer. Er glaubte nicht an Veränderung, und plötzlich gab es sie. Der Zweite rang noch nach Atem.
Der Erste hatte die Augen geschlossen.
Eine Ungeheuerlichkeit war geschehen.
Sie hatte sein ganzes Leben verändert.
Er sah das Bild nicht mehr.
Dieses Gesicht, dass ihm Ruhe vermittelte und befahl - plötzlich bestimmte es nicht mehr seinen Verstand. Er fühlte sich leer. Wie ein achtlos umgeworfenes Wasserglas, seines Inhaltes beraubt. Doch er spürte auch, wie in seinem Inneren eine Quelle zu sprudeln begann, die durch dem übermächtigen Druck von außen verschüttet gewesen war. Er schlug die Augen auf, und drehte ganz langsam den Kopf. Er blickte auf das benommene Gesicht des Zweiten.
"Der Erste hat sich bewegt!" Das war so lange nicht passiert, dass der Dritte schon eine seiner scheinbar unumstößlichen Regeln daraus gemacht hatte: Der Erste kann sich nicht bewegen. - Schon gar nicht reden.
"Was war das?" Die Stimme war kratzig, eingerostet wie der Motor eines alten Autos in einer vergessenen Garage. Der Dritte starrte den Ersten mit weit aufgerissenen Augen an.
Der Zweite fasste sich am schnellsten. Wie lange hatte er sich eine Änderung erträumt. "Du hast dich bewegt, Erster. Der Dritte hat behauptet, das geht nicht. Er hatte unrecht. Wie viele seiner Regeln sind wohl noch falsch?"
"Aber es war doch immer so gewesen. Wie kann es plötzlich anders sein?" Der Dritte war verzweifelt. Er hatte doch immer das Beste für alle gewollt.
"Das Bild ist weg." Der Erste konnte an nichts anderes denken.
"Nein, es ist noch da, Erster." versicherte der Dritte, wohl am meisten, um sich selbst zu beruhigen. Noch eine Veränderung hätte er nicht verkraftet. "Du kannst es nur im Moment nicht sehen. Warte, ich richte dich wieder auf. Umso schneller alles wieder beim alten ist, umso besser."
"Warte mal, Dritter. Vielleicht erinnert sich der Erste daran, wie die Tür aufgeht. Er war es doch, der diesen Trick einmal kannte."
"Nur weil er den Kopf gedreht hat, bedeutet das nicht, daß er auch aufstehen kann."
"Lass es uns doch wenigstens versuchen."
"Nein, das geht nicht! Wir müssen den Ersten wieder hinsetzen! Es war schon immer so. Ordnung muß sein!"
Doch der Zweite hatte Ideen. Er hatte immer so viele Ideen gehabt und nie gedacht, daß er selbst etwas zu deren Verwirklichung hätte tun können. Der Dritte hatte immer behauptet, dass es nicht ginge. "Erster, kannst du deine Hand bewegen?" Er starrte gebannt auf dessen Hände. Der Dritte folgte seinen Blicken.
Eine Weile tat sich nichts, und der Zweite begann schon zu resignieren. Doch dann, ganz langsam bewegte sich der Erste. Begeistert tauschte er mit dem Zweiten freudestrahlende Blicke aus. Er drehte das Handgelenk, er beugte den Ellenbogen. Es funktionierte. Der Erste spürte, wie ihn die Freude und der Stolz mit einer Energie durchfluteten, die er nicht für möglich gehalten hätte. Der Zweite streckte ihm den Arm entgegen. Zögerlich, als gälte es, einen Zitter-Aal mit der Hand zu fangen, bot auch der Dritte seine Hand. Als der Erste schließlich zugriff, floss seine neu gewonnene Energie auf die beiden anderen über. Die drei sahen sich an. Sollten sie etwa gemeinsam hier heraus kommen können?
Der Erste stand unsicher auf seinen Beinen. Die anderen mussten ihn noch stützen. Aber er stand, und er sah sich um. "Ich wünschte, es wäre heller hier drin.", bemerkte der Zweite. Mit einem Elan, der ihn selbst überraschte, strebte der Erste auf das Fenster zu. "Dann müssen wir das hier eben aufmachen." Er zerrte an den Brettern. Die anderen starrten ihn an. Der Zweite hatte das mal versucht, aber nichts erreicht. Der Dritte hatte recht behalten, als er sagte, dass sie das Fenster nicht wieder aufbekommen würden. Er hatte es nie wieder versucht. Auch der Erste erreichte nichts, und der Dritte spürte seine Macht zurückfließen. "Seht ihr, ich habe es euch ja gesagt. Aber auf mich hört ja keiner."
"Du hast recht, allein schaffe ich es nicht. Wie wäre es, wenn ihr mit anfasst?"
Die beiden sahen sich an. Wie lang hatten sie schon nichts mehr gemeinsam gemacht? Der Erste tat so, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. "Vielleicht finden wir etwas, das wir als Hebel benutzen können." Der Zweite hatte schon wieder Ideen.
Normalerweise hätte der Dritte sofort widersprochen, aber irgendwie konnte er es nicht. Statt dessen hörte er sich einen konstruktiven Beitrag leisten: "Ich habe dort drüben am Ofen eine Eisenstange gesehen." Der Erste holte sie und stemmte sie hinter eines der Bretter, die das Fenster versperrten. Gemeinsam zogen sie an dem Eisen und schrien begeistert auf, als das Holz sich löste. "Es funktioniert!" Der Dritte war vollkommen erstaunt. Noch zwei mal nachgefasst, schon fiel das erste Brett zu Boden.
Gleißendes Licht blendete ihre Augen. Der Zweite blinzelte. "Es ist noch schöner, als ich es mir vorgestellt hatte. Seht nur, den leuchtenden Ball. Das muß die Sonne sein. Wie warm sie ist."
Nachdem sie sich aus ihrem Staunen gelöst hatten, entfernten sie die übrigen Latten. Das Zimmer war nun hell erleuchtet.
Sie sahen sich um.
Das Bild war nicht so groß, wie es dem Ersten immer vorgekommen war. Auch war der Blick nicht so streng, wie er ihn in Erinnerung hatte. Jetzt, bei vollem Tageslicht, erkannte er darin seinen Vater. Das Gesicht, das ihn immer geängstigt hatte, schien ihm nun voller Vertrauen, als wollte es ihm sagen, dass er alles erreichen könne, wenn er nur wolle. Er wusste, das er dort immer Rückhalt finden konnte.
Der Dritte war bei seinem Regal. Gedankenverloren betrachtete er die Buchrücken. "Regeln, Band eins bis zwölf. So viele gesammelte Gesetze, alle unwirksam?" Er konnte es noch nicht recht glauben. Darunter standen fünf Bücher, auf denen "Wahrheiten" geschrieben stand, daneben vier mit dem Aufdruck: "Unmöglich" und schließlich ein schmales Bändchen, auf dem "Möglichkeiten" stand.
Er nam es heraus und schlug es auf. Es war verstaubt.
"Es ist leer," stellte er nachdenklich fest. "Mir scheint, ich muß meine Bücher gründlich überarbeiten."
Er grinste. "Wie kommen wir jetzt hier heraus?"
"Oh, das ist leicht!" Der Erste erinnerte sich an so viele Dinge, die ihm mal möglich gewesen waren. "Seht ihr, hier an der Tür ist ein waagerechtes Stück Holz befestigt. Es nennt sich ´Klinke´. Man drückt darauf, und... viola. Sie ist offen." Mit einem leichten Stöhnen schwang die Tür zur Seite und gab den Blick auf eine Treppe frei, die drei Meter tiefer auf einem hellen Dielenboden endete. Sie gingen hinaus.
In der Tür blieb der Zweite stehen und drehte sich herum. All die Jahre... dabei wäre es so leicht gewesen. Er hatte sich vom Dritten zu sehr einschüchtern lassen. Sicher hatte er in vielen Dingen recht, doch ohne die vermittelnde Hilfe des Ersten schien eine Einigung zwischen seinen Ideen und den Bedenken des Dritten unmöglich.
Wie sehr hatte er diesen Raum gehasst. Jetzt, da das Zimmer hell erleuchtet war und er die Möglichkeit hatte, es zu verlassen, wirkte es nicht mehr so bedrohlich. Im Gegenteil. Es war so vertraut. Bei Licht besehen, wirkte es freundlich und einladend. Es musste nur mal gründlich gereinigt und von unnütz gewordenem Ballast befreit werden.
Der Zweite wusste, dass er gern hierher zurückkehren würde, um sich auszuruhen und Kraft zu schöpfen, wann immer er das brauchte.
Doch jetzt gab es eine Welt zu entdecken.
Was konnten sie alles erreichen, wenn sie alle drei zusammen hielten.
Schließlich waren sie Geschwister.