Dämmerung
Der Regen hatte nachgelassen. Sanjay nimmt die Hände aus seiner Hosentasche und zündet sich mit seinem letzten Streichholz die erste Zigarette des Tages an. Er bläst den Rauch in die Luft und versucht, langsam zu sich kommen.
Er tritt unter dem Vordach hervor und geht mit ruhigem Schritt die Strasse entlang, in Richtung aus der er am Abend zuvor gekommen war. Die Gegend kommt ihm vertraut vor, obwohl er sich zu dem Zeitpunkt unsicher ist, jemals zuvor hier gewesen zu sein. Die Luft ist kalt und sein Atem schwer. Seine Gedanken sind leer. Er genießt die Ruhe. Keine einzige Menschenseele weit und breit. Nur Häuser mit verschlossenen Fenstern. In der Ferne nimmt er die rauschende Großstadt wahr, gleichmäßig wie brechende Wellen, die ans Ufer treiben. Das helle Rauschen erfüllt seine Ohren, ebenmäßig wie die Regentropfen, die ihn umschließen. Er kann das Quietschen der U-Bahn hören, die sich unweit von der Wohnung aus der Tiefe in den Himmel bewegt. Er hört das Geräusch von rasenden Autos auf der Stadtautobahn, die irgendwo durch das Viertel geht. Er hört den Regen von den Dächern tropfen. Er hört die ganze Stadt auf ihn einwirken. Das erste Licht des Tages lässt einzelne Wolken in hellem grau erscheinen. Er sieht den kalten Asphalt vor sich und läuft gleichmütig und ziellos die Strasse hinab, die geradewegs zu den Häuserschluchten führt. Er läuft geradeaus, sein Blick auf die Pfützen gerichtet, die alle paar Meter vor ihm auftauchen. Ab und zu kann er darin flüchtig seine Umrisse erkennen, bevor er mit einem Schritt das Bild zerstört. Er sieht die Regentropfen auf den Pfützen tanzen und wünscht sich, darin versinken zu können. Einzutauchen in den See, um unter dem Regen begraben zu werden. Er kommt an den ersten Läden vorbei, die nach wenigen Minuten auf seiner Straßenseite erscheinen. Vorbei an dem kleinen Park mit dem Spielplatz, der im Sommer mit Müttern und Kinder überfüllt ist. Vorbei an der Kreuzung, an der die Hochbahn über der Strasse schwebt. Die U-Bahn donnert über ihn hinweg, wenn er zwischen den hupenden Autos ohne auf den Verkehr zu achten die Straßenseite wechselt. Er läuft geradeaus weiter und lässt die Kreuzung hinter sich. Die Straße wird ruhiger, sein Schritt wird langsamer. Er fängt an, gleichmäßiger zu atmen. Als er die nächste Bank vor sich erblickt, setzt er sich hin und schließt die Augen. Er nimmt den letzten Zug von seiner Zigarette, spürt die sanften Regentropfen auf seinen Wangen und schmeckt Salz auf seinen Lippen.
Der Lärm von Polizeisirenen lässt ihn erzittern. Sein Herz schlägt aus. Er weiß nicht, wie lang er auf der Bank gesessen ist. Wenn er aufsteht, sind seine Kleider klamm. Ein Polizeiwagen rast an ihm vorbei. In der Ferne kann er mehrere Polizeisirenen hören. Er bleibt seltsam gelassen und steigt in den nächsten Bus ein, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite hält. Er setzt sich in die vorletzte Reihe und blickt verloren aus dem Fenster in den dämmernden Nebel.
Der Bus hält an der ersten Kreuzung, fährt unter der Hochbahn durch, biegt links ab, folgt dem Straßenverlauf am Häuserblock entlang, biegt rechts ab, und befindet sich wieder auf der Hauptstraße. Nach wenigen Minuten hält er vor der Wohnung. Sanjay steigt aus. Er sieht mehrere Polizeiwagen und geht auf sie zu. Ein Polizist taucht vor ihm auf und stellt sich ihm in den Weg. „Herr Polizist“ murmelt er, ein wenig über seine Ausdrucksweise irritiert. „Herr Polizist“ wiederholt er mit gequält lächelndem Ausdruck, „ich glaub’, ich hab etwas für sie.“ Der Polizist nähert sich ihm mit skeptischem Blick. Ein weiterer kommt hinzu und beobachtet ihn wachsam. „Vielleicht hilft ihnen das weiter“ sagt er mit jetzt ruhiger Stimme.
Er greift in seine Jackentasche, holt eine 9mm Kleinkaliberpistole heraus und will sie auf den Polizisten richten. Er hört Schreie. „Waffe fallen lassen!“. Er denkt an das Meer. „Waffe fallen lassen, oder ich schieße!“. Er hört wie die brechenden Wellen ans Ufer treiben und im Sand versickern. Das vertraute Rauschen umhüllt seinen Kopf mit Dunkelheit. Er fühlt sich frei. Zu weit entfernt von allem, um noch etwas wahrzunehmen. Er senkt den Kopf und hebt langsam seinen Arm.
Wenn er seinen rechten Ellbogen aufrichtet, um die Mündung auf den Polizisten zu richten, spürt er die Kugel des Polizisten in seine Schulter eindringen, noch bevor er deren Knall wahrnehmen kann. Er sinkt zusammen. Die Waffe gleitet aus seinen Händen und er verliert sein Bewusstsein. Er kann sich später nur noch an Bruchstücke erinnern. Die Bank auf der er saß bevor er in den Bus eingestiegen ist, das Erblicken des Polizisten vor seiner Wohnung. Einzelne unzusammenhängende Szenen. Bilder, an denen man selbst nicht teilgenommen hat. Nur das Gefühl, in sich zusammenzubrechen, den Halt zu verlieren, den Moment, in dem sein Geist seinen Körper verlässt, den vergisst er nicht.
Wenn der Krankenwagen eintrifft und der Notarzt ihn versorgt, haben die Polizisten die Wohnungstür aufgebrochen. Die Wohnung ist leer. Lediglich eine Matratze auf dem Boden deutet darauf hin, dass sie bewohnt ist. An der Wand sind mehrere Einschusslöcher zu sehen. Alles was die Polizisten finden können sind zerrissene Papierseiten, handschriftlich beschrieben. Hunderte davon. Verteilt über die ganze Wohnung. Manche voll beschrieben. Manche mit nur wenigen Wörtern. Zertrümmertes Mobiliar und Glasscherben liegen auf dem Boden. Die Männer durchsuchen die Wohnung, sichern etwaige Spuren, während der Notarzt versucht, seinen Kreislauf zu stabilisieren.
Die Nachbarin beschreibt ihn später als zuvorkommenden jungen Mann. Zurück gezogen, aber freundlich. Lediglich über die nächtlichen Eskapaden hatte sie sich manchmal echauffiert. Er sei viel allein gewesen. Das sei nicht gut in dem Alter. Als sie in den frühen Morgenstunden vermeintliche Schüsse gehört hatte, alarmierte sie die Polizei.
Manchmal fragt er sich, warum er zurückgekommen ist. Manchmal fragt er sich, warum er zum Teufel nicht einfach die nächste U-Bahn genommen hat und einfach irgendwo hin gefahren ist, wie er es so oft zuvor gemacht hatte, wenn das Rauschen seinen Kopf erfüllt hatte. Manchmal bereut er es, nicht abgedrückt zu haben, damit der Polizist ihn getötet hätte. Was er selbst nicht fertig gebracht hatte, hätte ein anderer für ihn erledigen können. Er hat jetzt genügend Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.