Cybersex
Sein Herz rast. Eigentlich ist er nur aus Langeweile in den Chat eingestiegen, als kleine Abwechslung im Einerlei der alltäglichen Arbeit. Doch da ist er wieder, der Nickname, den er jetzt gut eineinhalb Jahre nicht gesehen hat. Er hat geglaubt, das alles vergessen zu haben, verarbeitet, doch nun sind sie wieder da, die Erinnerungen, die Bilder ...
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Es war ein langweiliger Abend. Seine Frau, schwanger im 6. Monat, saß vor dem Fernseher, sah irgend eine Seifenoper. Er war in den lokalen Chat der Stadt eingeloggt und vertrieb sich die Zeit damit, Frauen anzubaggern. Er betrachtete das als harmloses Spiel, denn erstens machte er nie ein Hehl daraus, verheiratat zu sein, und zweitens hatte er nicht vor, reale Treffen auszumachen. Es ging ihm um Cybersex, den er im Gegensatz zu realem Sex mit anderen Frauen nicht als Untreue betrachtete.
Er betrachtete also die Avatars, die Bilder, die die Chatterinnen zu ihrer Repräsentation am Bildschirm gewählt hatten. Er glaubte fest, bei Frauen aus der Auswahl dieser Bilder auf den Charakter schließen zu können – niemand verwendete hier sein echtes Bild, man konnte sie in sogenannten Prop Rooms herunterladen und später nach Belieben verwenden, meist Bilder unbekannter Fotomodelle, die sich dagegen nicht wehren konnten oder wollten.
Da war eines, das in anzog. Kurzer frecher Haarschnitt, ein Lächeln auf den Lippen. Also nicht lange gezögert, einfach angeflüstert. „Hallo und schönen guten Abend, wie geht’s?“. Immer schön höflich sein, das mochten die Frauen, hatte er gelernt.
Man kam schnell zur Sache, routiniert checkte man sich gegenseitig ab. Beide verheiratet, sie zwei Kinder, wohnte auch in der Stadt, ähnliches Alter. Schließlich lenkte er das Gespräch langsam in die Richtung, die er ansteuerte. Nie zu schnell auf das Ziel losgehen, Frauen mussten erst warm werden, sonst verlor man sie gleich wieder.
Doch irgend etwas war anders. Unmerklich entspann sich etwas zwischen den beiden, was er noch nie erlebt hatte. Echtes Interesse an dem Menschen am anderen Ende. Es war, als säße sie real vor ihm, er konnte sie fast vor sich sehen, ihre Gefühle spüren, die mit ihren knappen Antworten mitkamen. Das Ziel hatte er schon lang aus den Augen verloren, er wollte nur diese faszinierende Frau kennenlernen, die ihn über das Internet so in ihren Bann schlagen konnte. „Ich möchte dich kennenlernen“, tippte er schließlich spontan. „Ja, ich weiß“ kam zurück, und das Lächeln auf ihren Lippen konnte er ganz deutlich spüren.
Man verabredete sich für den nächsten Nachmittag, in einem abgelegenen Cafe am Rande der Stadt. Nach einigen Minuten oberflächlicher Konversation berührte er sanft ihre Hand. Es durchfuhr beide wie ein Stromschlag. Sie verbrachten die nächsten Stunden weltvergessen in der Ecke dieses Cafes, eng umschlungen, wie in längst vergessen geglaubten Teenagertagen, versunken in der Vollkommenheit des Glücks. Das zu tun, was sie beide wollten, gab es an diesem Tag keine Gelegenheit, sie musste schon bald wieder zurück, doch sie tauschten email-Adressen und Telefonnummern aus, wollten sich bald für einen Abend zu zweit verabreden.
Es war nie dazu gekommen. Immer, wenn er bereit gewesen wäre, das Wagnis einzugehen, hatte sie Zweifel, und umgekehrt war es genauso. Nach ein paar Wochen verabschiedeten sie sich endgültig voneinander am Telefon, beide mit Tränen in den Augen, aber entschlossen, ihre Verantwortung ihren Familien gegenüber höher zu bewerten als das eigene Glück.
Er hatte alles vernichtet, emails, Adressen, Telefonnummern. Nur das Bild in seinem Kopf, das hatte er nie vernichten können.
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Unwiderstehlich zieht ihn das Avatar über dem Nick an. Er klickt darauf, wählt den Flüstermodus. „Hallo“, tippt er, „bist du A.J.?“ - „Ja, ich hab dich schon gesehen“, kommt zurück, das Lächeln ist deutlich zu spüren.
[Beitrag editiert von: Strider am 09.03.2002 um 04:48]