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Cybermobbing
Liebe Mama, lieber Papa,
über meinen Brief werdet ihr euch sicher wundern. Lest ihn, ich hoffe ihr werdet ihn verstehen. Also, an dieser Stelle begann alles:
Wie jeden Morgen unter der Woche, traf ich mich mit Jonas und Sascha (Meinen beiden besten Kumpels). Wir liefen morgens zusammen zur Schule. Normalerweise trafen wir dort immer auf Julia. Sie besuchte ebenfalls unsere Klasse, wie ihr ja sicher wisst. An diesem Tag war das anders. Wir warteten sogar auf sie, aber sie kam nicht. „Lass gehen. Die kommt doch eh nicht mehr“, meinte Sascha. „Stimmt. Sie macht sich bestimmt ins Hemd wegen uns“, lachte Jonas. Ich grinste nur und stimmte meinen beiden Freunden zu. Zu dem Zeitpunkt kannte ich natürlich noch nicht den Grund ihres Fehlens. Aber wenn ich es gewusst hätte, wäre mir das Lachen vergangen!
Nach der Schule gingen wir drei auch wieder zusammen nach Hause. Zu Hause angekommen, reichtest du, Mama, mir wortlos die Zeitung. „Was soll ich denn damit, du weißt doch, dass ich keine Zeitung lese. Das interessiert mich nicht!“ sagte ich genervt zu dir, aber irgendetwas an deinem Gesichtsausdruck gefiel mir nicht und so warf ich doch einen Blick in die Zeitung. Was ich da sah, ließ mir den Atem stocken. Auf der Titelseite war ein Bild von Julia. Erhängt. Ich las den Abschnitt der unter dem Bild stand, aber in Wirklichkeit schaute ich nur darauf, denn ich konnte nicht mehr sagen, was ich da gelesen hatte. Es waren nur Wortfetzen. In etwa so: „14-jähriges Mädchen erhängt. Grund unbekannt. Polizei ermittelt.“ An etwas anderes kann ich mich nicht mehr erinnern. Natürlich war es ein großer Schock für mich und ich ging in mein Zimmer. Nach Mittagessen war mir im Moment gar nicht zumute. Ich rief sofort Sascha und Jonas an und erzählte ihnen die Geschichte von Julia. Entgeistert hörten sie mir zu. „Meinst du es ist wegen uns?“, fragte Jonas verängstigt. „was, wenn wir es übertrieben haben?“ setzte Sascha noch eins drauf. Ich sagte nichts. Ich hätte gerne gesagt, dass das doch der totale Unsinn sei, aber ich konnte nicht, denn ich wusste, dass wir an ihrem Tod schuld sein könnten. „Ei Mann, jetzt sag doch auch mal was!“, schrie Jonas panisch. „Was sollte ich denn sagen? Vielleicht: Ja, ihr habt Recht und wir haben sie in den Tod getrieben?“ Ich hatte keine Lust mehr mich mit den beiden zu unterhalten. Ich legte einfach auf und warf mich auf mein Bett. Ich konnte an nichts anderes denken, als an Julias Gesicht, das vor meinen Augen schwebte und mir mit trauriger stimme sagte:“ Joel, es ist alles deine Schuld! Wie konntest du mir das nur antun? Warum hast du Lügen über mich im Internet erzählt? Wegen dir habe ich keine Freunde mehr. Ich habe keinen anderen Ausweg mehr gesehen. Jetzt hast du was du wolltest. Du hast es einfach übertrieben. Wie konntest du nur. Du hast allen erzählt, dass ich in dich verliebt war. Ich habe mich so in dir getäuscht. Wir waren beste Freunde, jedenfalls warst du das für mich. Früher warst du immer so nett zu mir und dann, ja, dann hast du angefangen, dich mit Jonas und Sascha anzufreunden. Hast du nicht gesehen, was sie mit dir machen? Sie haben einen brutalen Mobber aus dir gemacht. Wie konntest du nur?“ Dieser letzte Satz tauchte immer wieder auf. Irgendwann kamst du herein Mama und fragtest mich, ob alles in Ordnung sei. Wie ein Roboter antwortete ich, dass alles in Ordnung wäre. Dabei war nichts, aber auch gar nichts in Ordnung. Ich hatte Geschichten, die Julia mir im Vertrauen erzählt hatte, ins Internet geschrieben, nur um Aufsehen zu erregen und um cool rüberzukommen. Mama, du dachtest wahrscheinlich immer noch, ich wäre ein kleiner Engel, über den sie alles wisse. Aber in Wirklichkeit wusstest du nichts. Du wusstest nicht, wie das ist, wenn man als Außenseiter immer alleine dasteht. Man sollte meinen, alle Außenseiter schließen sich zusammen und bilden eine Gemeinschaft. Stärken sich zusammen den Rücken. Aber so ist es nicht. Jeder will zu den coolen gehören. Und dafür tut man einfach alles. Das so etwas wie das passieren könnte, war mir nicht einmal im Traum eingefallen. Aber jetzt konnte ich an nichts anderes denken und erst jetzt merkte ich, dass ich Julia echt gerne hatte. Ich habe ihr ins Gesicht gesagt, dass sie hässlich sei und wahrscheinlich nie einen Freund haben würde. Wie schrecklich sich das im Nachhinein anhört, aber da erschien es mir fast selbstverständlich. Meine Kumpels waren dabei. Zusammen sind wir stark! Sie hatten gelacht. Julia war schon immer das Mobbing Opfer gewesen. Sie war sehr gut in der Schule, hatte super liebe Eltern, die sich immer um sie kümmerten und sie hatten Geld. Eine Traum Familie und die anderen waren neidisch. So beschlossen sie, alle gegen einen, Julia zu mobben. Sie wollten, dass sie nichts Besseres mehr war, als wir alle. Von diesem Moment an, hatte sie keine Chance mehr. Sogar ihre Freunde, so wie ich, stellten sich gegen sie, nur, um keine Außenseiter zu sein. Von diesem Moment an, war Julias Schicksal besiegelt. Das ist jetzt schon vier Jahre her. Seit Mitte der fünften Klasse, als sich alle zusammenschlossen…
So, jetzt kennt ihr den Grund. Jetzt könnt ihr über mich entscheiden. Ich könnte jetzt sagen, dass ich keine andere Wahl gehabt hätte. Aber das wäre gelogen. Ich war nur zu feige, mich gegen die anderen zu stellen. Jetzt hatte ich nur noch Angst. Angst, vor dem was mich morgen erwarten würde. Vielleicht würde die Polizei kommen. Sie würden merken, dass ich etwas mit dem Tod Julias zu tun hätte. Dann wäre ich dran. Aber ich wollte nicht in den Knast. Ich wollte, dass alles so werden würde, wie es früher war. Auch wenn das niemals mehr so sein würde!
Am nächsten Morgen machte ich alles wie immer, doch ich war nicht ich selbst. Wieder war es dieser Roboter, der alles für mich tat. Ich rannte zur Schule. Auf Sascha und Jonas hatte ich jetzt keinen Nerv. Sorgen wegen der Polizei hatte ich mir um Sonst gemacht. Stattdessen gingen wir zur Beerdigung von Julia. Auf dem Friedhof sah ich ihre Eltern. Ich kenne sie noch gut, von früher. Als wir noch Freunde waren. Julias Mutter weinte. Ihr Vater hielt seine Frau liebevoll in den Armen. Auch er hatte Tränen in den Augen. Sie konnten sich nicht erklären, warum ihre Tochter sich das Leben nahm. Ich könnte es und ich weiß auch, dass ich es ihnen schuldig wäre aber ich tue es nicht. Hier anbei, ich habe es ihnen bis jetzt noch nicht gesagt und ich bitte euch, es ihnen zu erzählen. Versucht es ihnen zu erklären, so wie ich versuche, euch meine Tat zu erklären. Ich wäre euch sehr dankbar dafür, denn sie haben es verdient zu erfahren, weswegen sich ihr Kind umbrachte! So zurück zu meiner Erklärung: Stattdessen rannte ich wieder weg. Wie immer. Und wieder ging das Warten los. Und nichts passierte. Ich dachte wohl, wenn ich lange genug warten würde, würde ich die Geschichte vergessen. Aber dem war nicht so. Vier Monate schleppte ich mich so herum. Ich dachte an nichts mehr. Nur noch an Julia. Früher war ich sehr gut in der Schule. Jetzt war ich der Schlechteste. Aber es war mir alles egal. Ich redete kein Wort mehr mit Sascha und Jonas. Nach einer Woche war für die beiden die Welt wieder in Ordnung. Sie hatten nur Angst gehabt, von der Polizei erwischt zu werden. Irgendwann fingen sie an mich zu mobben. Ihr Lieblingsopfer Julia gab es nicht mehr und somit war ich wieder dran. Aber, es hört sich bestimmt blöd an, ich war froh darüber. So konnte ich verstehen wie sich Julia gefühlt haben musste. Bevor sie den wohl schlimmsten Schritt in ihrem so kurzen Leben beging. Ich fuhr damals den Computer hoch, um zu sehen, was sie über mich geschrieben hatten. Da standen so Sachen wie, Joel ist in Julia verliebt. Deswegen läuft er immer wie in Trance herum. Er steht auf Tote. Ich starrte nur auf den Bildschirm und dachte, das war so freundlich im Gegensatz zu dem, was wir über Julia geschrieben hatten. Während ich so regungslos dasitze dachte ich nur, wie es soweit kommen konnte. Julia war meine beste und, ehrlich gesagt, auch einzige Freundin. Um cool zu sein habe ich sie verraten. Obwohl sie immer zu mir gehalten hatte. Wenn ich ein Problem mit meinen Mitschülern hatte, was so gut wie jeden Tag vorkam, setzte sie sich für mich ein. Wenn sie ein Problem hatte, war ich nirgends aufzufinden. Trotzdem war sie mir nie böse. Bis ich angefangen hatte, sie zu benutzen. Als Schlüssel in eine andere Welt. Im Grunde meines Herzens wusste ich, dass es irgendwann ein neues Opfer geben würde. Dann wäre ich wieder der Loser. Aber das interessierte mich damals nicht. Ich wollte so lange wie möglich von meiner neuen Stelle im Rang kosten. Erst vor ein paar Tagen fing ich an, zu begreifen, dass alleine ich an dem Tod meiner Freundin, Julia schuld war, versteht ihr? Ist das nicht ein Skandal? Ich, als ihr bester und einziger Freund habe mich gegen sie entschieden. Sie hat das natürlich auch verstanden. Sie sah keinen anderen Ausweg mehr. Ich bin mir sicher. Wegen mir ist sie gestorben. Ich habe sie umgebracht. Ich bin ein gottverdammter Mörder! Deshalb kann ich so nicht weiterleben. Mir muss das Selbe geschehen wie ihr, sonst geht es nicht weiter. Ihr zum Beispiel dachtet, bis vor meinem Brief, dass Julia immer noch meine beste Freundin war. Ihr wusstet nichts. Deswegen könnt ihr mir auch nicht mehr helfen. Inzwischen ist es fast ein Jahr, seit sie sich umgebracht hat. Ich habe lange über meinen Schritt nachgedacht, aber es geht nicht anders. Das habe ich jetzt begriffen. Ich hoffe, ihr versteht mich. Ich liebe euch über alles, aber es geht nicht anders. Bis (hoffentlich) irgendwann…
In Liebe, euer Joel