- Anmerkungen zum Text
Das ist der erste Teil zur Serie Crimson Town und soll quasi die Origin darstellen. Dies ist das unüberarbeitete erste Draft.
Crimson Town - Das Ende ist erst der Anfang
»Wenn Jesus in einem moralischen Dilemma gesteckt hätte, könnte er einfach dich fragen«, sagte Harold Boiled einmal zu seinem Partner Lucas Mills.
Harold wirkte oft zynisch, doch er war im Grunde ein guter Mann. Auch wenn Lucas ihn oft daran erinnern musste, dass sie das Gesetz vertraten und nicht ihre eigenen Wertvorstellungen. Lucas dagegen war idealistisch, freundlich und wusste stets, was zu tun ist. Doch auch der beste Ermittler kann ins Schleudern geraten, wenn er vor einem Fall steht, der ihn persönlich beschäftigt.
Am besten lässt sich dieser Konflikt wohl erklären, indem man sich den Fall der Felicia Lance ansieht. Sie rief die Polizei, als sie einen toten Mann in ihrer Küche gefunden hatte. Kurioserweise kannte sie das Opfer nicht und konnte sich nicht erklären, weshalb er ausgerechnet in ihrer Küche lag. Ein sehr seltsamer Umstand, der nicht nur aufgrund dieser unüblichen Tatsache nach der Expertise von Mills und Boiled rief, sondern auch weil einige Indizien auf einen derzeit laufenden Fall der beiden hinwiesen.
Als sie am Tatort ankamen, war die Spurensicherung bereits vor Ort und tat, was die Spurensicherung nun einmal so tat: sie sicherte Spuren und sammelte Indizien.
»Was haben wir hier, Johnson«, fragte Lucas den Leiter der Spurensicherung. Er zog seine Sonnenbrille ab und betrachtete die Leiche. Die Brille wanderte in die Innentasche seines maßgeschneiderten, hellgrauen Jacketts. Dann zog er seinen Hut ab und offenbarte sein glänzendes, frisch gekämmtes und pomadiertes Haar.
»Ein männlicher Weißer, Anfang 40, Schnitt durch die Kehle und dann ein Stich ins Herz. Tatwaffe war offensichtlich das Küchenmesser in seiner Brust. Der Todeszeitpunkt dürfte heute Nacht zwischen elf und ein Uhr gewesen sein«, antwortete Johnson.
Harold sah sich die vermeintliche Mordwaffe an. Er ging in die Knie, der untere Saum seines dunklen Trenchcoats legte sich lautlos auf den Boden. Bei dem Blick auf die Waffe zogen sich seine Mundwinkel nach unten, wie sie es oft taten, wenn er scharf nachdachte. Im linken Mundwinkel hing eine Zigarette. Harold hatte mit dem Rauchen aufgehört, doch er hatte stets eine Zigarette dabei, die er sich ab und an zwischen die Lippen klemmte. Er gab es nie zu, doch er fühlte sich dadurch verwegener. Ebenso gab ihm sein 3-Tage-Bart ein Gefühl von Härte. Nach dem prüfenden Blick auf die Leiche und das Messer, mit dem das Opfer getötet wurde, sah er sich in der Küche um. Im Müll lag eine Zeitung auf der er noch die Schlagzeile erkennen konnte: Wann wird der Messerkiller endlich geschnappt?
Tja, dachte Harold, wie es aussieht hat er erstmal wieder zugeschlagen, bevor wir ihn stellen konnten.
Der Modus Operandi passte zu den anderen Opfern, die es in den letzten Monaten gab. Lucas dachte immer wieder, dass der Messerkiller wirklich ein bescheuerter und sehr unpräziser Name war. Schließlich haben doch schon viele Mörder mit einem Messer getötet. Aber es machte ihn wütend, dass sie ihn noch immer nicht geschnappt hatten. Er mordete ungehemmt, es gab schon so viele Tote seinetwegen und sie hatten nicht die geringste Spur. Es kam ihm vor, als tanze ihnen der Killer auf der Nase herum.
»Wissen wir schon, wer das Opfer ist«, fragte er.
»Er hat nichts bei sich gehabt, was seine Identität bestätigen würde. Und da die Bewohnerin scheinbar auch nicht weiß, wer das ist, tappen wir noch im Dunkeln.«
Lucas und Harold gingen zu Felicia. Sie saß auf einem Stuhl im Zimmer nebenan, den Kopf in die Hände gelegt. Ihre blonden Haare waren nur locker hochgesteckt, eher aus nützlichen, denn aus ästhetischen Gründen. Ihr Kleid war unordentlich aber nicht dreckig. Die Nacht muss sehr hart für sie gewesen sein. Sie sah erschöpft und verwirrt aus.
»Miss Lance«, eröffnete Lucas, »es tut mir leid, dass Sie das alles erleben müssen. Würden Sie uns bitte dennoch ein paar Fragen beantworten?«
Felicia stand noch immer sichtlich unter Schock, doch sie nickte zur Bestätigung.
»Also, Sie haben diesen Mann noch nie zuvor gesehen?«
»Nein. Ich weiß nicht, wer das ist, oder wie er hierher gekommen ist.«
»Wo waren Sie denn letzte Nacht«, fragte Harold und nahm die Zigarette aus dem Mund.
»Ich … ich war letzte Nacht bei meiner Schwester. Sie brauchte Hilfe mit ihren Kindern, weil ihr Mann auf Geschäftsreise war und ihr jüngster Sohn mit Fieber im Bett lag. Als ich heute Morgen nach Hause gekommen bin, fand ich diesen Mann tot in der Küche.«
»Und Sie wohnen alleine«, hakte der Detective nach, »sind nicht verheiratet oder so?«
»Nein. Ich bin ledig.«
Wie wäre es denn mit 'nem Typen mit Marke, dachte Harold bei sich. Als hätte er seine Gedanken gelesen, sah Lucas seinen Partner mit einem Blick an, der sagte: Ernsthaft jetzt?
Tatsächlich könnte man den Eindruck gewinnen, dass sie wirklich ihre gegenseitigen Gedanken lesen können, wenn man auf ihre Blicke und Gesten achten würde. Beinahe wie ein Liebespaar konnten sie sogar den Satz des jeweils anderen beenden, doch das taten sie nicht mehr, denn das irritierte die Leute immer so sehr.
Harold erwiderte Lucas Blick mit einem Blick der sagte: Hey, ich hab doch nur dran gedacht. Ich sag's ja nicht.
Sie beendeten die Befragung der Zeugin ohne unpassende Kommentare von Harold und verließen dann den Tatort. Im Auto auf dem Weg zurück ins Revier unterbrach Lucas das Schweigen zuerst.
»Meinst du auch, dass unser Serienmörder wieder zugestochen hat?«
»Weiß nicht. Die Schnitte passen, aber hat er jemals nicht sein eigenes Messer benutzt? Wieso sollte er diesmal ein Küchenmesser benutzen? Und wieso ausgerechnet in einer fremden Küche? Irgendwas passt hier doch nicht zusammen.«
»Hm ... vielleicht hast du Recht«, gab Lucas zu, »Also ein Trittbrettfahrer?«
»Wäre doch möglich.«
»Aber zu welchem Sinn und Zweck? Wieso sollte man den Mord wie eine Tat eines Serienkillers aussehen lassen, wenn man ihn doch auch der Frau anhängen könnte, der die Küche gehört?«
Harold dachte nach. Er hatte ein ungutes Gefühl bei diesem Fall.
»Wir müssen herausfinden, wer das Opfer ist«, knurrte er.
Da sie zu dem Zeitpunkt keine weiteren Hinweise hatten, beschlossen sie zuerst zu Felicias Schwester zu gehen, um ihr Alibi zu überprüfen.
Die Schwester hieß Sarah Wilson und wohnte in einem Haus am Rande des Viertels. Sie war verheiratet und hatte zwei Kinder.
»Guten Tag Miss Wilson. Ich bin Detective Mills, das ist mein Partner Boiled. Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen zu letzter Nacht stellen?«
»Hallo. Ja, natürlich. Worum geht es denn«, fragte die Frau verblüfft, lud die Beamten aber ins Haus ein.
Sie wirkte sehr müde und unter Stress. Scheinbar waren weder ihre Kinder noch ihr Mann gerade zu Hause.
»Sie sind die Schwester von Miss Felicia Lance, ist das richtig«, stellte Harold gleich die erste Frage.
»Das bin ich, ja. Ist etwas mit ihr passiert?«
Sarah wirkte nun ängstlich.
»Nun, nicht direkt«, antwortete Lucas, »es wurde eine unbekannte Leiche in ihrer Küche gefunden. Ihre Schwester behauptet, sie wäre während der Mordzeit hier gewesen. Wir wollen ihr Alibi nur überprüfen. Wenn Sie uns also sagen könnten, ob sie letzte Nacht hier war, würden Sie uns sehr helfen.«
Harold sah sich unterdessen unauffällig im Wohnzimmer um, in dem sie sich unterhielten. Er sah einige Fotos von Sarah und ihren Kindern sowie kitschige Dekorationen. Harold verstand nie, weshalb manche Leute ihre Wohnungen mit so viel Krempel zumüllten. Das war weder schön noch praktisch, für ihn sah das einfach nur unordentlich aus.
»Ja, sie war gestern hier, um mir mit den Kindern zu helfen. Mein Jüngster hatte bis gestern Fieber und mein Mann ist auf Geschäftsreise.«
»Okay, verstehe«, murmelte Lucas, während er etwas in seinen Notizblock kritzelte. Dann blickte er wieder auf: »Und wann hat sie Ihr Haus wieder verlassen?«
»Das war erst heute Morgen. Gegen 7 Uhr«, antwortete Sarah.
»Alles klar. Das war es dann auch schon. Vielen Dank.«
Boiled und Mills verabschiedeten sich und machten sich wieder auf den Weg ins Revier.
»Tja, damit war das wie erwartet wohl eine Sackgasse«, sagte Mills.
»Nicht wirklich«, entgegnete Harold, »Ich habe da etwas gefunden.«
»Achja? Und was?«
»Im ganzen Wohnzimmer waren Fotos von dieser Sarah und ihren Kids aufgestellt. Aber seltsamerweise war auf keinem von ihnen ihr Mann zu sehen. Als würde sie verstecken wollen, dass sie noch verheiratet ist. Ihren Ring hat sie allerdings nicht abgenommen.«
»Und weiter?«
»Ich glaube wir haben sie dabei unterbrochen, wie sie Beweise versteckt hat. Denn dieses Bild hat sie noch übersehen«, sagte Harold und zog ein Foto unter seinem Mantel hervor.
Auf dem Bild waren nicht nur Sarah und ihre Kinder zu sehen, sondern auch ein Mann, den Lucas sofort erkannte.
»Der Ehemann ist das Opfer«, rief Lucas erstaunt.
»Wie es aussieht hat Felicia gelogen«, stimmte Harold zu.
Lucas und Harold fuhren zuerst zurück zum Revier, um zu sehen, ob das Labor bereits etwas herausgefunden hatte. Obwohl sie wussten, dass Felicia gelogen hat, hatten sie noch keinen Beweis dafür, dass sie auch die Mörderin war. Dennoch war sie eine Verdächtige.
»Ich will trotzdem nochmal zu Felicia gehen und mit ihr reden«, sagte Harold, als sie am Revier angekommen waren, »so können wir auch sicher sein, dass sie nicht abhaut.«
»Na gut«, entgegnete Lucas und nickte, »Ich werde hier nochmal die Indizien durchgehen und sehen, was die Spurensicherung noch herausgefunden hat.«
Dann ging er ins Revier. Er suchte den jungen Kollegen Lloyd Francis auf. Der kam vor Kurzem von der Akademie und war noch voller Tatendrang. Lucas band ihn gerne in seine Fälle ein, um ihn zu fördern. Lloyd gehörte zu den jungen Idealisten und so einen Officer wollte Lucas nicht an die gleichgültigen Kollegen verlieren, von denen es in dieser Stadt zu viele gab. Manchmal hatte er das Gefühl alleine auf verlorenem Posten zu stehen, denn viele Kollegen kamen ihm faul oder korrupt vor. Aber mit neuem, jungen Nachwuchs wie diesem Officer Francis sah er noch Hoffnung für diese Stadt.
»Hallo Lloyd, wie geht's dir?«
»Ach, kann nicht klagen, danke. Kann ich etwas für Sie tun?«
»Ja, würdest du zu Johnson gehen und mir die Laborergebnisse der Spurensicherung vom Tatort heute morgen holen? Ich bin in meinem Büro.«
»Natürlich, Detective«, sagte er und ging zügig los.
Lucas betrat sein Büro und holte die Fallakten zum Messerkiller hervor. Ihm hing schon die ganze Zeit ein Gedanke im Kopf, seit er die frische Leiche gesehen hat, doch er konnte diesen Gedanken nicht ganz fassen. Deshalb sah er sich die aktuellen Akten noch einmal an. Vielleicht hatte er etwas übersehen.
Die Wunden schienen alle übereinzustimmen. Keine Fingerabdrücke. Oder? In den Fallakten waren Teilfingerabdrücke abgebildet. Nicht genug, um einen Verdächtigen damit zu finden, aber dennoch. Hatte er sie vorher übersehen? Oder hatte er sie nur vergessen?
»Detective Mills? Hier sind die Ergebnisse.«
Officer Francis riss ihn aus seinen Gedanken. Er stand in der Tür und wedelte mit den Akten.
»Wie? Oh ja. Vielen Dank«, sagte Lucas etwas durch den Wind und nahm die Akten an sich, »sagen Sie, haben Sie zufällig gesehen, ob jemand mein Büro betreten hat?«
»Ähm, nein. Wieso denn?«
»Ach, nicht so wichtig. Danke, Lloyd.«
Lucas sah sich die Ergebnisse an.
Harold war in der Zwischenzeit bei Felicia angekommen. Sie öffnete ihm die Tür.
»Oh? Hallo nochmal, Detective«, sagte sie überrascht, »Haben Sie noch etwas vergessen?«
»Wohl eher etwas herausgefunden, wenn ich ehrlich bin. Darf ich vielleicht noch einmal reinkommen?«
Felicia zögerte kurz. Doch dann nickte sie und gab den Weg frei.
»Ja natürlich. Kommen Sie nur rein.«
»Danke. Wissen Sie, wir haben eben Ihre Schwester besucht. Ein einfaches Standardprozedere, um Ihr Alibi zu bestätigen.«
»Ich verstehe. Und ... was hat sie gesagt?«
»Es war nicht, was sie gesagt hat. Eher etwas, das Sie beide verschwiegen haben.«
Felicia sah ihn mit besorgtem Blick an, dann senkte sie die Augen und schwieg.
»Wieso haben Sie verschwiegen, dass Sie das Opfer kannten«, fragte er und hielt ihr das Foto entgegen.
Felicia seufzte.
»Hätten Sie mir denn geglaubt, dass ich unschuldig bin, wenn mein Schwager tot in meiner Küche liegt?«
»Es macht Sie auf jeden Fall verdächtig. Und das Alibi bei Ihrer Schwester können wir wohl auch vergessen.«
»Aber es ist wahr. Ich war bei ihr, kam heute Morgen nach Hause und fand ihn tot in der Küche«, sagte sie. Verzweiflung lag in ihrer Stimme. Sie fuhr fort.
»Ich habe natürlich sofort die Polizei angerufen, doch ich wusste nicht, wie ich das erklären sollte. Da habe ich einfach behauptet, ihn nicht zu kennen. Ich habe nicht nachgedacht und es tut mir leid.«
Während sie Harold erzählte, was passiert war und in ihr vorging, ging sie auf ihn zu und sah ihn aus großen, angsterfüllten Augen an.
»Ich bitte Sie, Mister Boiled. Sie müssen mir einfach glauben.«
Sie flehte ihn an und legte dabei ihre Hände auf seine Brust. Er sah sie mit ernstem Blick an, unsicher, was er tun sollte. Er versuchte kontrolliert zu atmen. Sie sah ihm tief in die Augen.
Es war kaum zu fassen. Wie konnte er das nur übersehen haben? Lucas starrte ungläubig auf die Berichte auf seinem Tisch. In mehreren Fällen hatte der Messerkiller Teilabdrücke seiner Fingerspitzen hinterlassen. Aus den Teilabdrücken konnte man noch kein komplettes Muster bilden, doch bei dem neuen Tatort wurde etwas Unglaubliches gefunden: Ein fast vollständiger Abdruck eines Fingers! Lucas legte die Teilabdrücke zusammen und glich sie mit dem neuen Abdruck ab. Und tatsächlich. Aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz passten sie nicht nur zusammen, sie ergaben sogar ein komplettes Bild, nach dem er fahnden lassen konnte. War das der nötige, finale Hinweis, der noch gefehlt hatte, um den Messerkiller zu stellen?
Lucas hätte sich beinahe von seiner Euphorie übermannen lassen. Dennoch zweifelte er. Es konnte doch unmöglich so einfach sein. Seit Monaten waren sie diesem Serienkiller auf der Spur, der nie genug Indizien zurückließ, um auch nur einen Verdächtigen zu finden. Und nun hatte er plötzlich einen so eindeutigen Beweis hinterlassen? Das passte doch nicht zusammen! Dennoch gab er den zusammengesetzten Fingerabdruck ins Labor und ließ nach einem Verdächtigen suchen.
Harold konnte kaum begreifen, was er da gerade getan hatte. Mit offenen Augen lag er da und starrte an die Decke. Er spürte ihren Finger über seine Brust gleiten.
»Weißt du, er war nicht einmal ein besonders netter Kerl. Er war ungehobelt und grob. Und er hat jedem Rock hinterher geglotzt«, hauchte Sara. Harold konnte ihre Abscheu deutlich heraushören, obwohl ihre Stimme noch immer wohlig erschöpft klang.
»Klingt doch eigentlich nach mir«, brummte er.
Sie erhob sich und beugte sich über ihn. Dann lächelte sie ihn verführerisch an und sagte: »Aber du bist dabei sehr viel charmanter.«
Sie küsste ihn.
»Aber egal, was für ein Mistkerl er vielleicht gewesen sein mag«, sagte er plötzlich, »den Mord müssen wir trotzdem aufklären. Dann können wir dich auch sicher entlasten.«
Sie seufzte.
»Ja, da hast du wohl recht.«
In diesem Moment klingelte das Telefon. Felicia sprang vom Bett auf und lief zum Apparat in der Küche.
Harold setzte sich auf. Er stellte die Füße auf den Boden und rieb sich die Augen. Als er sie wieder öffnete, fiel ihm etwas ins Blickfeld. Zwischen dem Bett und dem Nachttisch glänzte etwas. Er ließ den Blick darauf fallen. Es war ein Schlüsselbund, den er sofort aufhob.
Aus der Küche hörte er Felicia telefonieren: »Ja, hallo? ... Oh, Sie sind es. Was kann ich für Sie tun?«
Neben Schlüsseln war noch einer dieser Anhänger an dem Bund befestigt, den man öffnen konnte. Als Harold die darin eingesetzten Bilder sah, runzelte er die Stirn.
»Detective Boiled«, rief Felicia aus der Küche und Harold steckte den Schlüsselbund schnell in die Tasche seiner Hose, die er bei der Gelegenheit gleich wieder überstreifte.
Dann eilte er in die Küche.
»Das ist Detective Mills. Er möchte mit Ihnen sprechen.«
Felicia hielt ihm den Hörer entgegen. Harold nahm ihn an sich und nickte ihr zum Dank zu, bevor er den Hörer ansetzte.
»Ja, Lucas? Was hast du rausgefunden?«
Er sah zu, wie Felicia die Küche verließ und ihn mit dem Telefon alleine ließ.
»Du wirst es kaum glauben. An dem Messer von heute Morgen hat die Spurensicherung tatsächlich einen Fingerabdruck gefunden. Und als ich die Fallakten von unserem Messerkiller durchgegangen bin, habe ich gesehen, dass an einigen anderen Tatorten tatsächlich Teilabdrücke gefunden wurden. Und die passen alle zusammen!«
»Was? Aber«, erwiderte Harold und flüsterte, »das ist doch gar nicht möglich.«
Er legte seine Hand auf den Schlüsselbund in seiner Tasche.
»Wir haben den Fingerabdruck tatsächlich in der Datenbank. Er gehört wohl zu einem Frank Bullock. Ich habe seine Adresse.«
»Lucas, warte mal! Ich glaube da stimmt etwas nicht. Wir hatten doch noch nie auch nur einen einzigen Teilabdruck vom Killer. Woher kommen diese Hinweise plötzlich? Außerdem glaube ich, dass die Leiche von heute Morgen nicht auf sein Konto geht.«
»Ich weiß, das ist alles mehr als nur fragwürdig. Aber ich muss die Adresse einfach untersuchen. Ich hab da einfach so ein Gefühl, dass es wichtig ist.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Harold zweifelnd, »dann solltest du nicht alleine gehen. Ich sollte mitkommen. Dir Rückendeckung geben.«
»Nein, bleib du bei Miss Lance. Wenn du Recht hast, ist sie immer noch eine Verdächtige. Ich werde ein paar Officer mitnehmen, um mir Rückendeckung zu geben.«
»Na schön. Aber ich habe wirklich ein mieses Gefühl bei der Sache«, sagte Harold.
Lucas versicherte ihm, dass er das hinkriegen würde und legte dann auf. Harold blieb noch einen Moment mit dem Hörer in der Hand stehen. Was sollte er nur tun? Er hatte immer auf Lucas Bauchgefühl gehört und es nie bereut. Sie hatten so viele Fälle abgeschlossen, weil er die richtige Spürnase im rechten Moment hatte. Aber dennoch hatte Harold das unangenehme Gefühl, dass es diesmal irgendwie anders war.
Seine Hand fuhr wieder in seine Hosentasche und griff nach dem Schlüsselbund. Er nahm ihn heraus und sah ihn an. Dann ging er entschlossen zu Felicia.
Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und zog sich gerade ihr Kleid wieder an.
»Du spielst deine Rolle wirklich verdammt gut, das muss ich schon sagen.«
Felicia hielt inne. Sie streifte sich das Kleid über ihre Schultern und sah Harold über die Schultern an.
»Was meinst du denn«, fragte sie mit Verblüffung in der Stimme.
Harold ging auf sie zu. Er hielt das Kleid mit einer Hand fest und schloss dann den Reißverschluss. Dann griff er in seine Tasche, nahm den Schlüsselbund heraus und hob ihn über ihre Schulter.
»Was ist das«, fragte sie verwirrt.
»Mach den Anhänger auf.«
Mit zitternden Fingern nahm sie den Anhänger und öffnete ihn. In dem Anhänger kamen Fotos des Opfers Mister Wilson, Felicias Schwester und deren Kinder zum Vorschein. Harold sah, wie ihr Gesicht ausdruckslos und starr wurde.
»Wo hast du das her«, fragte sie.
»Er lag hier hinter deinem Nachttisch. Willst du mir etwas dazu sagen?«
Sie drehte sich zu ihm um. Tränen stiegen in ihre weit aufgerissenen Augen.
»Ich ... ich weiß nicht, wie er da hingekommen ist.«
»Dann versuche ich mal eine Erklärung zu finden und du sagst mir, was du davon hältst. Du und dein Schwager, ihr hattet eine Affäre. Er war heute Nacht hier und ihr seid im Schlafzimmer gelandet. Dann habt ihr euch gestritten. Ihr seid in die Küche gegangen, wo du so wütend auf ihn wurdest, dass du nach einem Messer gegriffen und ihn erstochen hast. Aus Panik wusstest du nicht, was du tun solltest dann fiel dir die Zeitung ins Auge. Dort hast du den Artikel über den Messerkiller gesehen und es so aussehen lassen, als wäre er es gewesen. Anschließend hast du deine Schwester angerufen, damit sie dir ein Alibi gibt.«
Felicia setzte sich resigniert auf ihr Bett. Tränen rannen über ihre Wangen.
»Wir wollten es beenden. Er kam nicht mehr damit klar, Sarah zu betrügen. Und ich auch nicht. Aber er wollte ihr alles sagen. Und ich wollte nicht, dass er meiner Schwester wehtut. Das hätte sie sicher nicht verkraftet. Es war ein Fehler von uns, das sehe ich ein, aber es hätte unser Geheimnis bleiben sollen. Ich flehte ihn an, ihr nichts zu sagen und wir haben deswegen gestritten. Irgendwann wurde er so wütend, dass ich Angst bekam. Er wollte mich schlagen. Es war Notwehr.«
Harold nickte. Er ging in die Küche und rief das Revier an. Wenig später kamen einige Officer und nahmen Felicia fest. Harold selbst war auf der Fahrt ins Revier wie betäubt. Beinahe hätte sie ihn vorgeführt. Er war wirklich geneigt, ihr zu glauben. Sie hätte es weiter abstreiten können. Der Schlüsselanhänger wäre noch kein ausreichender Beweis, aber er hatte sie durchschaut.
Den Erfolg der Verhaftung konnte er nicht lange genießen. Im Revier gab es eine böse Überraschung. Lloyd erwartete ihn bereits mit der schrecklichen Neuigkeit.
»Harold, da sind Sie ja. Ich muss ihnen etwas sagen«, begrüßte er ihn. Die Sorge stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Was ist los, Lloyd? Hast du etwas von Lucas gehört?«
»Darum geht es ja. Die Männer sind eben zurück gekommen. Die Adresse, die Lucas gefunden hat ... Es war ein Hinterhalt.«
»Ich wusste es! Was ist passiert?«
»Sie gingen in das Haus und wurden angegriffen. Lucas ... er hat es nicht geschafft.«
Harold wusste nicht, was er in diesem Moment fühlte. Er rannte los und suchte die Truppe auf, die Lucas Rückendeckung gegeben hatte. Als er sie fand, wandte er sich an einen Polizisten mit einer Schnittwunde am Arm.
»Was ist passiert«, fragte er unvermittelt.
»Es ging so schnell. Wir haben ihn nicht kommen sehen. Lucas war auf der Stelle tot. Einige von uns hat er auch erwischt, bevor er entkommen ist. Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat. Es war, als wäre er an mehreren Stellen gleichzeitig. Ein Wunder, dass es nicht noch mehr Tote gab.«
Harold verließ das Revier. Wie betäubt ging er durch die Straßen der Stadt. Er hatte einen Fall gelöst, aber zu welchem Preis? Wieso hatte er Lucas nicht davon abgehalten, zu dieser Adresse zu fahren? Es hatte ihn doch schon so stutzig gemacht. Allein der Fingerabdruck auf Felicias Messer. Niemals hätte er an diesen Tatort gelangen können. Der Hinweis musste dort platziert worden sein. Von jemandem im Department. Aber wieso sollte ein Kollege Lucas tot sehen wollen? Es ergab keinen Sinn. Nur eines war sicher: Er konnte niemandem trauen. Wenn er den Mörder seines Partners finden wollte, war er auf sich allein gestellt.