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Crescendo in d-moll
Crescendo in d-moll
Sie lief am Fluss entlang. Die Nacht war warm und klar, und die Sterne zwinkerten ihr zu. Es roch nach frisch gemähtem Gras, Blumen und nach dem Fluss, der sich träge durch die Stadt zog. Die Grillen zirpten ihre kleine Nachtmusik, ein sanfter Wind strich ihr durch das Haar, und von fern hörte sie den Lärm der Kerb. Sie lief jetzt schon beinahe drei Stunden nur am Fluss entlang, ohne ein genaues Ziel zu haben.
Sie kam aus der Innenstadt. An der alten Stadtmauer hatte sie ihre Schuhe in ein Gebüsch geworfen, weil sie sie zu sehr an den Füßen drückten. Es waren neue Schuhe gewesen, aber sie hatten ihr ohnehin nicht so gefallen. Sie war barfuss weiter gelaufen, und jetzt kam sie allmählich in die Vororte, wo es nur wenig oder sogar keine Laternen an der Uferpromenade gab.
Ein Boot der Wasserschutzpolizei schoss an ihr vorbei, und der Fluss warf seine schmatzenden Wellen an die Ufermauer zu ihrer Rechten. Zu ihrer Linken wuchsen Fliederbüsche. Sie sah sie nicht; sie erkannte es an diesem schweren, betörenden Duft. Flieder war ihr unter allen blühenden Pflanzen die liebste, und jetzt pflückte sie sich im Dunkeln ein paar große Dolden ab. Träumend lief sie weiter, sah gelegentlich zum sternenübersäten Himmel auf, von wo Orion auf sie herabsah und die Sichel des abnehmenden Mondes sanft strahlte. Leise summte sie ein Lied aus ihrer Kinderzeit.
Vor ihr hoppelte ein Kaninchen langsam über den sandigen Weg. Es setzte sich vor einen Strauch, bereit, sofort wegzurennen, und sah die junge Frau an. Sie hockte sich in den Sand und fing an, leise mit dem kleinen Tier zu reden. Das Kaninchen spitze die Ohren und kam langsam, Hüpfer für Hüpfer, näher, wie verzaubert.
Vorsichtig streckte sie die Hand aus und streichelte das Kaninchen. Das sandbraune Fell war seidig weich, und die schwarzen Knopfaugen waren klug und wachsam. Ein unermessliches Glücksgefühl durchströmte sie, und sie fühlte sich, als würde sie schweben.
Auf einmal erklang Gesang, klar und rein, doch ohne Worte, nur eine fließende Melodie, ruhig wie der Fluss. Das Kaninchen rannte verschreckt weg, und die Grillen verstummten verschämt. Die junge Frau stand auf und sah sich um. Sie konnte niemanden entdecken, und doch war da dieser Gesang...
’Das müssen Engel sein’, dachte sie wie betäubt. Es erschien ihr die einzige Möglichkeit. Kein Mensch konnte so eine wundervolle Stimme haben, klar und rein wie kristallenes Glas.
Jemand trat aus dem Schatten eines Fliederbusches. Es war ein alter Mann mit langen, weißen Haaren, einem schwarzen Anzug mit schneeweißem Hemd und seltsam grünen Augen, die im Dunkel der Nacht zu leuchten schienen. Seine Lippen waren leicht geöffnet, und aus seinem Mund kamen diese wunderschönen, überirdischen Klänge. Langsam trat er auf die junge Frau zu, die ihn wie hypnotisiert ansah.
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Ein Teil von ihr wollte diesen Mann, der sie da so unverwandt ansah, begehren; der andere Teil wollte so schnell wie möglich wegrennen.
Doch sie konnte sich nicht rühren. Was hatte dieser Mann an sich, dass sie sich ihm am liebsten in die Arme geworfen hätte? Noch immer hörte sie diesen seltsamen Gesang, und jetzt schien er direkt in ihrem Kopf zu entspringen. Es gab nichts mehr auf der Welt - nur noch sie, den Mann vor ihr und den Gesang in ihrem Kopf.
Er kam Schritt für Schritt näher, ohne seinen Blick von ihr zu wenden. Der Wind zog leicht an ihrem Kleid, so dass ihre schlanken Formen sichtbar wurden. Unverhohlen begutachtete er ihren geschmeidigen Körper, der sich unter dem dünnen Stoff abzeichnete.
Sie war wie elektrisiert. Sie spürte, wie sich ihre Brustwarzen aufrichteten und hart wurden. Eine plötzliche Panik überfiel sie. In letzter Zeit hatte man wieder öfter von Vergewaltigungen in der Zeitung lesen können. Doch nur kurz, sofort fiel wieder der Zauber dieser schönen Stimme über sie, und sie wurde ganz ruhig. Sie betrachtete den Fremden nun ebenfalls, während seine Blicke über ihre Haut streichelten.
Er war etwas größer als sie, schlank und muskulös, soweit sie das unter dem Anzug erkennen konnte, und hatte feingliedrige Hände mit langen Fingern. Das weiße Haar war glatt und gepflegt, aber trotz der sanften Frühlingsbrise hing es unbewegt über seine Schultern herab. Seine Gesichtszüge waren markant, doch sehr fein, und einige Falten hatten sich bereits in das blasse Antlitz eingegraben. Zwar lächelte er, seine Augen wurden jedoch nicht davon berührt.
Er ergriff ihren Arm und führte sie fort von dem Sandweg, auf dem sie standen. Sie folgte ihm ohne nachzudenken, während in ihrem Unterbewusstsein eine unbestimmte Angst um Aufmerksamkeit bettelte. Doch sie begehrte diesen Fremden, wollte ihn, um jeden Preis.
Er führte sie in ein kleines Gehölz. Sie blieb stehen, sobald er sie losließ. Sie sah nichts, sie dachte nichts; sie war nur noch flammende Begierde, die so stark war, dass sie sich nicht rühren konnte.
Behutsam löste er die Schleifen an ihren Schultern, die das Kleid zusammenhielten. Das Oberteil fiel herunter, und sie war vom Hals bis zur Taille nackt. Zärtlich strich er über ihren kleinen, festen Busen, über ihren Bauch und ihre Hüften. Sie erzitterte. Dann zog er mit einer einzigen Bewegung den Rest des Kleides herunter und ließ es zu Boden fallen.
Sie stand da, der warme Nachtwind streichelte ihre weiche Haut und feuchte Wärme breitete sich in ihrem Höschen aus. Sie legte den Kopf in den Nacken und wartete. Doch der Fremde ließ sich Zeit.
Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sie genüsslich, einen Finger an die schmalen Lippen gelegt. Ihre langen, geraden Beine, ihre sanften Rundungen, ihren schlanken Hals. Sie hatte die Augen geschlossen, doch fühlte sie seine Blicke auf ihrer Haut.
Der überirdische Gesang schwoll in ihrem Kopf zu einem himmlischen Chor an, als er ihre Schulter berührte und sie sacht in das trockene Laub auf dem Boden drückte. Er streichelte, küsste ihren Körper, und feurige Schauer der Erregung durchzuckten sie bei jeder Berührung. Während seine Zunge mit den Knospen ihrer Brüste spielte, streichelte er ihre Schenkel, und ihr Becken hob sich ihm voller Begierde entgegen. Als sein Mund ihren Nabel erforschte und seine Hände überall zugleich zu sein schienen, wand sie sich vor Lust. Sie wollte ihn, mehr, als irgendjemanden je zuvor, doch wenn sie ihn berühren, seine Kleidung zerreißen wollte, hielt er sie sacht, aber bestimmt davon ab. Nicht einmal berührte sie seine Haut.
Seine schwarzen Haare strichen über ihren Bauch, während die schlanken Hände wie kleine Vögel über ihre Haut flatterten, sie mal sanft betupften, mal fordernd drückten. Seine Finger fanden ihr Zentrum der Wollust und spielten mit dem kleinen Knopf, und sie schrie und stöhnte ihre Erregung in die Nacht hinaus. Der Chor in ihrem Kopf stimmte ein unirdisches Crescendo an.
Er liebkoste sie eine Ewigkeit lang, und sie erlebte einen Höhepunkt nach dem anderen, ohne dass er jedoch einmal in sie eindrang.
Mit der Zeit wurde sie schwächer, die Farbe wich aus ihrem Gesicht und die Erregung verflog, als er schließlich von ihr ließ. Das war nicht die wohlige Mattigkeit nach einem Orgasmus. Sie fühlte sich schrecklich alt, kam sich vor wie vertrocknetes Herbstlaub.
Als sie sich ihren fremden Liebhaber ansah, kam er ihr verändert vor.
Er sah sie an, und ihr fiel seine makellos glatte Haut auf. Waren da nicht vorhin noch Falten gewesen? Es war ihr gleichgültig. Nie gekannte Müdigkeit hüllte sie ein und machte das Denken schwer.
Der Fremde stand auf. Der Morgen dämmerte bereits, und die ersten Sonnenstrahlen fielen auf seine jugendlichen Züge. Er lächelte ihr noch einmal zu, dann ging er schweigend davon.
Sie war zu schwach, um ihm noch hinterher zusehen. Er war fort, und mit ihm auch der wundervolle Gesang, der sie die Nacht hindurch begleitet hatte. Als ihre letzten Kräfte sie verließen, schloss sie die Augen, und sie erinnerte sich an das kleine Kaninchen mit den klugen schwarzen Augen. Es war noch so jung gewesen...
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Frankfurt.dpa Am Morgen des 17.Mai wurde von Spaziergängern am Schwanheimer Mainufer eine Frauenleiche gefunden. Die Tote ist etwa 80 Jahre alt und hatte keine Personalien bei sich. Nach ersten Untersuchungen wird ein Sexualvergehen ausgeschlossen; vermutliche Todesursache war Herzversagen. Sachdienliche Hinweise zur Identität der Toten werden unter der Rufnummer 069/121-54XX und in jeder Polizeidienststelle entgegengenommen.