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Inspiriert durch den Film "Die Regeln der Gewalt" von Scott Frank
Creep
Samstagnacht auf der Landstraße.
Die Tachonadel vibriert bei einhundertvierzig, offenes Verdeck, nur ich und die Jungs.
Na gut, die Jungs … und Sandra. ›Säändi‹, wie Schmiddi seine Perle nennt. Sie sitzt auf dem Beifahrersitz und singt aus voller Kehle, der Fahrtwind frisiert die blonde Mähne.
Schmiddi ist am Steuer. Wenn er den Kopf, so wie jetzt gerade, zur Seite dreht und lächelt, sehe ich seine perfekten Zähne. Im Mondlicht sieht er seinem Vater sehr ähnlich, dem ›großen‹ Dr. Henning Schmidt.
Neben mir auf dem Rücksitz komplettiert Rafa die Runde. Er sieht seinem Alten zum Glück überhaupt nicht ähnlich, denn der untersetzte Herr Russo trägt Glatze zum Bierbauch und hat einen Gang wie ein säbelbeiniger Jockey. Gerade setzt Rafa die Mische mit Fanta-Korn an, wahrscheinlich, um Säändis ›Gesang‹ besser zu ertragen. Sein Adamsapfel hüpft auf und ab, wortlos reicht er mir die Plastikflasche rüber, schluckt und verzieht das Gesicht.
Aus der Anlage schallt Radiohead’s Creep, und Säändi tut alles dafür, klarzustellen, dass sie den Titel verstanden hat. Auch ich nehme schnell einen großen Schluck. Die lauwarme Plörre schmeckt beschissen, doch der Alkohol hilft.
»But I’m a creep, I’m a weirdo. What the hell am I doing here? I don’t belong here.«, kräht sie, mit geschlossenen Augen, die Arme in die Höhe gestreckt.
›Wie recht du hast, Tussi‹, denke ich, während ich aus dem Fenster schaue. Gleich hinter dem Bahndamm, der parallel zur Straße verläuft, fliegt der Teutoburger Wald im schemenhaften Dunkel vorbei. Unwillkürlich keimt in mir die Frage auf, ob ich mit dieser Anrede Säändi gegenüber das Andenken der legendären Thusnelda beschmutze? Obwohl, bei näherer Überlegung ging die cheruskische Grafentochter wahrscheinlich damals den Gefolgsleuten ihres Mannes Arminius genauso hart auf den Sack, wie Säändi jetzt gerade Rafa und mir. Ich spiele kurz mit dem Gedanken, diese These bis Montag, zur dritten Stunde (Geschichte), im Gedächtnis zu behalten.
»Mach doch mal diesen ›Punk-Scheiß‹ aus!«, schreit Rafa nach vorn und sieht dann mich an.
»Aber echt ey!«, bekräftige ich lautstark. Alles, nur damit die Alte endlich ihr Maul hält.
Schmiddis Blick findet uns im Rückspiegel, er grinst und drückt auf einen Knopf an der Konsole. Ein nahtloser Wechsel zwischen Gitarre und Bass, der Hip-Hop übernimmt und Jay-Z ballert die Wahrheit hinaus in die Nacht: »I got 99 Problems but the Bitch ain’t one!«
Säändi zieht einen Schmollmund. Ich nicke und grinse Rafa verschwörerisch zu. Gut gemacht, Bro. Vielleicht würde der Abend doch noch was werden.
Es hatte alles so vielversprechend angefangen: Schmiddis Vater musste auf einen Ärztekongress nach Wien, damit stand einer Spritztour mit dem AMG nichts mehr im Weg. »Bisschen cruisen, dabei anders vorglühen. Ärsche auf dem Boulevard checken und später noch ins ›Hive‹!«, so lautete Schmiddis Ansage. Die ersten beiden Punkte hatten wir mittlerweile erfolgreich hinter uns gelassen, die Ärsche fielen aufgrund von Säändis ungeplanter Anwesenheit ins Wasser. Von der Großraumdisko trennen uns jetzt bloß noch läppische zwanzig Kilometer.
»Oh, guck mal, das Maisfeld!«, ruft Säändi euphorisch und zeigt nach rechts.
Rafa beugt sich grinsend zu ihr nach vorn: »Du bist leicht zu begeistern, kann das sein?«
Doch sie ignoriert ihn und greift nach Schmiddis Arm. »Weißt du noch, Schatzi? Unsere Wette?«
»Welche Wette?«, ruft Rafa.
Schmiddi zögert, dann antwortet er, an Säändi gewandt: »Du willst es wirklich wissen, was?«
Sie hat ein lüsternes Grinsen aufgesetzt: »Es ist Sommer, wir sitzen im offenen Cabrio, da ist das Maisfeld … jetzt schalt das Licht aus und sei keine verfickte Pussy.«
»Äh … ihr wollt das Licht ausschalten?«, frage ich und schaue Rafa an. Der erwidert den Blick und zuckt mit den Schultern.
Säändi beugt sich zu Schmiddi und flüstert ihm lächelnd etwas ins Ohr. Er sieht sie an, sie fährt mit der Zunge über die Lippen und nickt.
»Versprochen ist versprochen!«, ruft Schmiddi und wirft ein »festhalten, Jungs!« hinterher. Bevor ich reagieren kann, reißt er das Steuer hart herum, der Mercedes rast zwischen zwei Bäumen hindurch und eine flache Böschung hinunter, hinein in das Maisfeld. Schmiddi tritt aufs Gas und schaltet die Scheinwerfer aus. Säändi jauchzt und jubelt.
Ich klammere mich am Türgriff fest, denn innerlich geht mir der Arsch auf Grundeis. Der Allradantrieb greift unmittelbar, um uns herum wirbeln zerfetzte Maiskolben, Blätter und Stängel empor, Teile davon fliegen in den Wagen, prasseln auf uns ein. Das Cabrio brettert mit Vollgas durch die mannshohen Pflanzen, die Sicht ist gleich null.
Schmiddi lacht, er fährt Schlangenlinien, das Heck bricht aus und er driftet im Dunkeln durchs Feld.
»Schneller, Schatzi! Schneller!« Säändis Ekstase scheint erreicht.
Schmiddi tritt aufs Gaspedal, der AMG macht einen Satz.
Ich halte es nicht mehr aus. »Hör mit dem Scheiss auf!«, brülle ich nach vorn. Schmiddi reagiert nicht, also schreie ich erneut und kralle meine Hand in seine Schulter. »Zurück auf die Straße! Sofort!«
Die Antwort wird vom Lärm der Umgebung verschluckt, doch Schmiddi lenkt ein, der Mercedes beschreibt einen Bogen, in Richtung Asphalt. Kurz vor der Böschung tritt er anscheinend erneut aufs Gaspedal, der Motor röhrt auf, das Cabrio schießt aus dem Feld heraus und über die Straße, viel zu schnell für das kurze Stück Teer. Für einen einzigen Moment fühlt es sich an, als würden wir fliegen, neben mir schreit Rafa, ich sehe Säändi, sie lacht noch immer. Der AMG rast den Bahndamm hinauf, ein gebrüllter Fluch vom Fahrersitz. Es schüttelt den Wagen durch, ich drehe den Kopf und plötzlich sind da Schienen, zwei grelle Lichter und ein Signalhorn, so unfassbar laut, dass ich vor Schreck erstarre …
Es gab eine Zeit, da wollte ich des Nachts im Rollstuhl auf den Friedhof fahren, wollte Säändis Grabstein anschreien, ihn beschmutzen und zerstören, für das, was sie in dieser Nacht getan hat. Mein Therapeut bezeichnet diese Wut als ›Mangelsymptom‹. Mittlerweile weiß ich, dass ich, wenn überhaupt, Schmiddis Grab schänden müsste. Er saß am Steuer. Er hätte es verhindern können.
Einmal im Jahr besuche ich die drei. Anstelle von Blumen bringe ich allerdings Fanta-Korn mit und besaufe mich hemmungslos.
Und jedes Mal, wirklich jedes Mal, wenn ›Creep‹ im Radio läuft, fange ich unweigerlich an zu weinen.