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Cousine Jessica
Ich habe immer noch eine Mordswut. Mann, habe ich Angst gehabt, und Mama hat mich auch noch ausgeschimpft. Dabei war alles Jessicas Schuld. Sie ist echt die Seuche. Aber am Besten ich erzähle mal von Anfang an.
Letzten Sonntag haben wir gemeinsam mit Tante Christa, Onkel Bernd und ihren drei Kindern, Simon, Leon und Jessica einen Ausflug in den Wald gemacht.
Meinen Cousin Simon finde ich voll okay. Er ist zehn und geht in die vierte Klasse. Somit ist er ein Jahr älter als ich. Leon ist fast vier und kann schon mal eine kleine Nervensäge sein. Wenn er was will und es nicht sofort bekommt, geht sein grauenhaftes Geheule los. Außerdem war er an dem Unglück am Sonntag maßgeblich beteiligt.
Tja, und dann gibt es da noch meine Cousine Jessica. Jessica ist genau so alt wie meine kleine Schwester Edda. Beide sind sieben, aber das ist auch schon das Einzige, was sie gemeinsam haben. Jessica ist einfach ätzend.
Als wir neulich bei ihr zu Besuch waren, hat sie erst einmal bestimmt, was wir spielen sollten:
„Ich bin die schöne Prinzessin und Edda ist mein Hofdame. Du, Katinka bist der gemeine Ritter, der mich entführen will.“
Klar, wir sind immer die Bösen und Jessica die Gute. Trotzdem waren Edda und ich erst mal einverstanden, und so haben wir angefangen uns zu verkleiden. Edda hat sich aus ein paar bunten Tüchern ein Kleid gewickelt. Ich bekam einen alten Filzhut und das Plastikschwert von Simon. Der Besen war mein Pferd. Mit dem Hut sah ich aus wie ein alter Opa, ich gefiel mir gar nicht. Jessica hatte natürlich die beste Verkleidung. Sie darf mit dem Hochzeitskleid ihrer Mutter spielen. Es ist ein wunderschönes, weißes Kleid mit vielen Perlen bestickt. Der Rock ist weit ausgestellt, so dass er sich aufbläht, wenn man sich mit ihm dreht. Ein traumhaftes Prinzessinenkleid. Natürlich wollten Edda und ich auch mal die Prinzessin sein.
Aber Jessica meinte: „Nein, das geht nicht. Das erlaubt meine Mutter nicht. Nachher macht ihr noch Flecken drauf.“
Als ob ihr das nicht auch passieren könnte. Dauernd schrieb sie uns vor, was wir sagen und tun sollten.
„Edda, du bist ganz neidisch auf mich, weil ich so schön bin. Vor lauter Neid und weil du so böse bist, hättest Du heimlich versucht mein Kleid zu zerreißen“, sagte sie zu Edda.
Zu mir sagte sie: „Katinka, du heißt Ambrosius und bist in mich verliebt.“
„Ambrosius ist aber ein doofer Name, ich will lieber Eisenherz heißen.“
„Nein, das geht nicht“ kommandierte sie, „Eisenherz ist ein Prinz. Aber du bist ein Ritter.“
„Dann heiße ich eben Ritter Mutiges Herz!“ So schnell gab ich nicht auf.
„Na, gut, wenn du unbedingt willst“, meinte sie schnippisch, „Aber du bist in mich verliebt. Du willst mich entführen und versucht mich zu küssen, weil ich eine ganz schöne und kluge Prinzessin bin.“
Edda und ich sahen uns an. Meine Schwester hatte keine Lust eine neidische Hofdame zu sein, und ich wollte meine Cousine nicht entführen und erst recht nicht küssen. Wir hörten auf zu spielen. Nur Jessica spielte den ganzen Nachmittag noch weiter, nämlich beleidigte Leberwurst. Aber so ist sie immer.
Jedenfalls wanderten wir an diesem Sonntag gemeinsam in den Wald. Es war ein richtig kalter Novembertag. Aber wir waren schön warm eingepackt. Bei Edda achtet Mama ganz besonders darauf, dass ihr nicht kalt wird. Meine kleine Schwester hat nämlich eine Blasen-Nieren-Krankheit. Darum macht sie auch manchmal noch nachts Pipi ins Bett. Mama sagt, sie kann nichts dafür, und ich finde es auch gar nicht schlimm.
Nachdem wir eine Weile gewandert waren, beschlossen die Eltern in einem Ausflugslokal einzukehren. Das Lokal hieß „Zur alten Mühle“, weil hinter dem Haus ein großer Mühlteich samt Mühlrad war. Wir tranken Limonade und wollten dann raus spielen gehen.
„Ihr geht nicht an das Wasser“, sagte Mama streng, „das ist viel zu gefährlich. Habt ihr mich verstanden?“
„Ja, ja, machen wir nicht“, versprachen Edda und ich.
„Das gilt auch für euch Drei“, sagte mein Onkel zu seinen Kindern gewandt, „Wehe, ihr geht dorthin.“
Wir spielten eine ganze Zeit lang vor der Türe Nachlaufen. Bis wir, ja bis wir auf die blöde Idee kamen doch hinter das Haus zum Mühlteich zu gehen.
Es war eigentlich kein richtiger Teich, sondern ein großes aus Beton gegossenes Becken. Das Wasser reichte nicht bis ganz oben zum Beckenrand, sondern stand etwa einen halben Meter darunter. Am rechten Ende des Bassins war ein mächtiges, eisernes Mühlrad mit breiten Schaufeln. Es kam mir so groß wie das Riesenrad auf dem Jahrmarkt vor. Aber es drehte sich nicht, was wir schade fanden. Wir wären gerne auf die andere Seite des Beckens gegangen. Dazu hätten wir über den linken schmalen Beckenrand gemusst. Der war aber aus Sicherheitsgründen mit Stacheldraht umzäunt. Das Mäuerchen war sehr schmal und man hätte nach rechts ins Becken fallen können und nach links zwei Meter in die Tiefe, wo unten ein kleines Flüsschen vorbei floss.
Simon schlug vor Stöcke zu suchen, die wir ins Wasser halten wollten, um zu sehen wie tief es war. Plötzlich gab mein kleiner Cousin Leon meiner Schwester einen Schubs und Edda stolperte:
„He, bist du bescheuert, wenn ich da rein falle“, motzte sie ihn an.
„Hör sofort auf damit“, schimpfte ich auch böse. Aber Leon guckte zu seiner großen Schwester Jessica, die eifrig mit dem Kopf nickte. Ich hörte noch ein leises „Ja, ja, mach noch mal“ und schon hatte Leon Edda ein zweites Mal geschubst. Diesmal fiel sie mit einem lauten Schrei ins eiskalte Wasser.
Für Sekunden war ich wie versteinert. Der Schreck hatte mich so gelähmt, dass ich mit Leon nicht mal mehr schimpfen konnte. Dann tauchte Edda aus dem Wasser wieder auf.
Sie schrie aus Leibeskräften: „Hilfe, Katinka, Hilfe.“
Mir lief es eiskalt den Rücken herunter und ich stöhnte laut auf: "Eddaaa."
Wegen der dicken Winterklamotten konnte sie nur schwerfällige Schwimmbewegungen machen. Verzweifelt versuchte sie die andere Seite des Beckens zu erreichen, wo ein Rohr aus der Wand lugte. An dem wollte sie sich festhalten, denn bis zum Beckenrand reichte sie nicht ran.
Immer wieder rief sie: „Hilfe, Katinka, Hilfe!“
Ich hatte Todesangst um meine kleine Schwester. „Ich komme, halte dich fest“, rief ich Edda zu, „ich bin gleich bei dir.“
Dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und rannte zu dem kleinen Mäuerchen. Ich quälte mich durch den Stacheldraht. Während ich mit Gänsefüßchen über den Rand balancierte, zitterte ich am ganzen Körper. Links von mir ging es tief nach unten, aber ich versuchte nicht dorthin zu sehen. Die Sorge um Edda war so groß, dass ich alles getan hätte, um ihr zu helfen. Ausgerechnet meine kranke Schwester hatte er in das eisige Wasser gestoßen. Zum Glück stand das Mühlrad still, sonst wäre sie durch den Schlag der Schaufeln noch dorthin gezogen worden. Das Überqueren des Beckenrandes kam mir wie eine Ewigkeit vor. Endlich war ich drüben angelangt. Ich lief zu der Stelle, wo Edda an dem Rohr hing und angstvoll wimmerte. Dann beugte ich mich nach vorne, reichte ihr meine Hand und mit einem Ruck hatte ich sie aus dem Wasser gezogen. Die Angst hatte mir eine unglaubliche Kraft verliehen. Edda stand schlotternd vor mir, so dass ich ihr meine Jacke um die Schultern legte. Vorsichtig schob ich sie zwischen all dem Stacheldraht zurück auf die andere Seite.
„Oh, Katinka, Katinka“, jammerte sie und ich hörte, wie sie vor lauter Kälte und Schreck mit den Zähnen klapperte.
Simon war in der Zwischenzeit in die Gastwirtschaft gelaufen und hatte die Eltern informiert. Mein Vater und Onkel Bernd kamen mit ihm angerannt. Papa nahm Edda auf den Arm und lief mit ihr zurück in das Lokal.
Und wißt ihr, was Jessica die ganze Zeit getan hatte? Sie hatte zugeguckt was geschah und sich den Bauch gehalten vor Lachen. Kaum zu glauben, aber ich schwöre, Jessica und Leon lachten und lachten. Meine Cousine hatte ihren kleinen Bruder angestiftet, Edda in den Mühlteich zu schubsen. Sie hatte sich aus Eddas und meiner Angst einen Spaß gemacht.
In mir wuchs eine ungeheuerliche Wut. Ich stellte mich vor sie hin, stützte meine Arme in die Seiten und funkelte sie zornig an: „Du bist das Hinterlistigste und Fieseste, was ich kenne.
Am liebsten würde ich dir eine knallen, aber dann müsste ich Angst haben, mich an dir Oberseuche anzustecken. Ich will nie wieder was mit dir zu tun haben, egal wie verwandt wir sind!“
Sie glotzte mich mit offenem Mund an, und bevor sie was sagen konnte, lief ich weg. In der Gastwirtschaft erwartete mich die Schimpfe meiner Mutter, die ich ja auch verdient hatte. Ich ließ sie stumm über mich ergehen, zu Hause wollte ich meinen Eltern dann alles erzählen.