Courage
„Zum Katharinensee?“
„Hm.“
„Hin und zurück?“
„Nur hin.“
„Nur hin?“ knurrt der bullige Buskutscher. „Viel Spaß beim Rückmarsch.“
„Ja doch, nur hin.“
Mach gefälligst deinen Job, du Blödmann, und sei froh, daß du ihn noch hast.
„Dreifuffzich.“
Mann, das hat das ganze Badevergnügen früher nicht mal in Mark für ’ne vierköpfige Familie gekostet. Saubande, gierige!
Pf-fft – zu die Tür. Ich pflanz mich irgendwo in die Mitte. Der Bus zuckelt los.
Da mögen zehn, zwölf Leute drin sitzen. Ist ja auch kein Badewetter. Unter der Jacke drückt meine „Wärmflasche“ gegen die Rippen: Zwölf Jahre alter Single-Malt. Alkoholmißbrauch, wenn man’s genau nimmt.
Nein, kein Zurück. Je kälter die Katharine desto schneller geht’s. Ich bin ein lausiger Schwimmer und schon gar kein Kämpfer.
Kämpfer, ha. Ganz früher gabs im Betrieb „Kampfaufgaben“. Da wurde „gekämpft“ anstatt zu arbeiten. Ich glaube, das war damals schon der Anfang vom „Endsiech“. Später haben sie das Werk vertreuhandelt, dann veruntreut, und vor fünf Jahren war für mich Schluß: Für unsere betriebliche Dynamik sind Sie zu hoch spezialisiert, Herr Meyer, tut uns leid. Aber mit Ende Dreißig steht Ihnen ja die Arbeitswelt noch offen.
Offen – „Wir sind jung, die Welt ist offen – oh du schöne weite Welt ...“ Ja, offen für allerlei Umschulungen zum Kesselflicker, zum Floristen, für Arbeitsbeschaffung im Grünflächenamt und zuletzt für den Ratschlag: Ingenieur sind Sie? Machen Sie sich doch selbständig!
Selbständig? Computerchips in Heimarbeit aus dem Stück gefeilt und auf dem Basar im Nachbarland feilgeboten oder was?
Und nun bald gar keine Stütze mehr. Ihre Frau verdient doch, Herr Meyer, das müssen wir schon anrechnen. Eine Lebensversicherung haben Sie auch noch! Aber die sollten Sie schleunigst verkaufen. Hätte ich der Tusse vom Arbeitsamt an die Gurgel springen sollen? Die kann ja auch nichts dafür – so wie hierzulande überhaupt keiner was für irgendetwas kann: Die Industrie nichts für den schlechten Standort, die Regierung nichts für die Haushaltslöcher, die Kommune nichts für die Fluktuation, die Krankenkasse nichts für die vielen klapprigen Alten ...
Schluß mit der Grübelei – Schluß, aus! Mein bißchen Stolz haben sie mir noch nicht ausgetrieben. Bevor ich tagaus, tagein vor der Glotze hänge und meiner Frau Gehalt auffresse, mach ich eben Schluß. Der Haken ist nur: Aufhängen oder vom letzten noch nicht abgerissenen Hochhaus springen scheidet von vornherein aus. Nicht, daß es mir an Mut gebräche, nein: Die Versicherung wäre im Eimer. Versehentlich an einen Baum krachen kann ich nicht, denn das Auto haben wir schon vor zwei Jahren verkauft. Da bleibt nur das Ersaufen. Ist wohl auch am stilvollsten: Wasser bis zum Hals und – blubb.
"Pf-fft", seufzt die Bustür.
„Stadtrandsiedlung.“
Zwei pudelbemützte Jungs hechten herein, einer mit einer gewaltigen Sporttasche, deren Trageschlaufe prompt am Türgriff hängenbleibt.
„Scheiße“, zischt er und zerrt wild an der Tasche.
Sicher, es sind keine Hundstage, aber so sibirisch ist es ja nun auch wieder nicht. Total verweichlicht, die heutige Jugend.
„Katharinensee?“ brubbelt der Fahrer.
Da streckt ihm die Erste Pudelmütze eine Pistole entgegen. „Schnauze!!!“
„Türe zu!“ kreischt der andere und zerrt verbissen an seiner Tasche. In der rechten Faust reckt er etwas Metallenes empor.
Pf-fft. Die Tasche klemmt in der Tür fest. Die Passagiere sind unterdessen in den hinteren Busteil gestürzt. Draußen jault ein Blaulichtwagen heran.
Ach du Scheiße. Ich dachte immer, sowas gäb‘s nur im Kino oder in der Tagesschau. Ein Grund mehr, endlich abzutreten von dieser bekloppten Welt.
Aber Moment mal: Doch nicht nur ein Grund – was für eine grandiose Möglichkeit! Lebensversicherung, Wiedergutmachung, öffentliche Anteilnahme. Meyer – mit Ypsilon bitte – der unerschrockene, tragische Held, Opfer der brutalen Geiselnehmer.
Ich habe mich erhoben und schreite auf Pudelmütze Eins zu.
„He he he hee, du Wichser“, schreit der und fuchtelt mit seiner albernen Pistole, „nach hinten, zurück, zu den anderen!“ Der Bus hat sich unterdessen in Bewegung gesetzt.
„Schneller, du Arsch!“
Meint der den Busfahrer oder mich? Ich beschleunige meinen Schritt.
„Du doch nicht, Mann!“ Die Pistole saust wie ein Pendel zwischen meinem und des Dicken Kopf hin und her. Pudel Zwei steht auf der letzten Einstiegsstufe wie die Freiheitsstatue und starrt mich offenen Mundes an.
Ich stehe auf Armeslänge vor Mütze Eins und stoße mit der Brust an den Lauf seiner Wumme. Warum drückt der Knallkopp denn nicht ab? Danach hätte er doch augenblicklich die unumschränkte Macht. Guckt der keine Privaten?
Der Bus geht scharf in die Kurve. Draußen ist Wald. Das muß schon der Abzweig zur Katharine sein. Auf der Suche nach Gleichgewicht beschreibt meine Faust einen wilden Bogen und wird durch Pudel Eins’ Nase jäh gestoppt. Der kippt, offenbar schwer getroffen, hintenüber. Unglücklicherweise hat auch meine Linke ihren angestammten Platz unter der „Wärmflasche“ verlassen, so daß die aus der Jacke rutscht und mit einem dumpfen Knall am Boden zerschellt. Der edle Tropfen spritzt mir auf die Socken, das teuerste Fußbad meines Lebens.
Ein Aufschrei aus zehn, zwölf verängstigten Kehlen. In des Chauffeurs jahrelanger Fahrpraxis gefestigte Reflexe lösen die Vollbremsung aus. Mütze Zwei kracht mit dem Hinterkopf gegen die Frontscheibe, hinterläßt dort einen Sprung im Sicherheitsglas und läßt die Handgranate fallen. Was für ein Abgang, blitzt es mir durchs Hirn.
Aber sonst blitzt nichts. Stille.
Das eiserne Ei kullert auf die Fahrgäste zu. Mit tellergroßen Augen verfolgen sie seinen Weg, bis es an der Gelenkschwelle liegenbleibt.
Nichts.
Draußen nähert sich abermals der Funkwagen. Der Busfahrer guckt mich groß an.
„Nun mach schon die Tür auf, du Depp.“
Pf-fft. Die Sporttasche klatscht auf den Asphalt. Ein paar Banknoten flattern heraus und den herbeieilenden Polizisten vor die Füße.
DREISTER ÜBERFALL AUF SPARKASSENFILIALE.
SCHWERBEWAFFNETE GANGSTER KIDNAPPEN LINIENBUS UND NEHMEN VIERZEHN GEISELN.
BEHERZTES HANDELN DES BUSFAHRERS SOWIE EINES DER PASSAGIERE VEREITELN BUSENTFÜHRUNG.
Wieso des Fahrers?
EXEMPEL FÜR BEISPIELLOSE ZIVILCOURAGE.
POLIZEIPRÄSIDENTIN DANKT ENTSCHLOSSENEM BÜRGER FÜR DESSEN TODESMUTIGEN EINSATZ. EINTRAG INS EHRENBUCH DER STADT ERWOGEN.
Ich treibe auf einer Woge der allgemeinen Dankbarkeit, Anerkennung und Sympathie. Wildfremde Menschen, die wohl mein Konterfei in einer der Boulevardblätter gesehen haben, klopfen mir auf die Schulter, schütteln mir die Hände oder schließen mich gar in die Arme. Und diese wunderbare Welt wollte ich noch vorgestern freiwillig verlassen! Whisky widert mich an.
Vierundzwanzig Stunden nach ihrer Festnahme wurden die des Raubes, der Geiselnahme und des schweren Eingriffs in den öffentlichen Straßenverkehr beschuldigten Jugendlichen Marko S. und Mirko T. vom Haftrichter bis zur Anklageerhebung auf freien Fuß gesetzt. Beide sind in der Stadt gemeldet und haben einen festen Wohnsitz. Fluchtgefahr besteht ohnehin nicht, da die im Sinne des Strafgesetzbuches minderjährigen Täter derzeit im Städtischen Klinikum liegen, Marko S. mit einer Nasenbein- und Oberkieferfraktur, Mirko T. mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma.
„Ich liebe dich, mein Held. Aber woher hast du plötzlich eine solche Courage? Und überhaupt – wieso fährst du baden bei der Kälte?“
Ein dürres Männlein reicht mir seine Spinnenfinger.
„Gestatten, Winkler, Pflichtverteidiger, Doktor Winkler.“
„Hm, Meyer – mit Ypsilon.“
„Macht ja nichts.“
„Wollen Sie bei mir um gut Wetter bitten für Ihre Jungs?“
„Wie meinen?“
„Na, sagten Sie nicht, Sie verteidigten die beiden Halunken S. und T. oder wie die heißen?“
„Mitnichten, ganz und gar nicht. Ich bin Ihr Pflichtverteidiger, Herr Meyer, wenns beliebt.“
„Wenns ... Versteh nicht. Wozu brauch ich ...?“
„Aber gegen Sie schwebt ein Ermittlungsverfahren von Amts wegen. Die Geschädigten Marko S. und Mirko T. respective deren gesetzliche Vertreter dürften aller Voraussicht nach als Nebenkläger auftreten.“
„Die Geschädigten?“
„Ja selbstverständlich. Schließlich trugen die beiden schwere Verletzungen davon, dazu der Schock.“
„Der Schock.“
„Das müssen Sie schon zugeben, Herr Meyer: Ihr Schlag war nicht von Pappe.“
„Geb ich gern zu. Aber die haben doch die Bank überfallen, die Fahrgäste mit Waffen bedroht, den Bus zu entführen versucht...“
„Mit Attrappen von Waffen, mein lieber Herr Meyer. Aber wie dem auch sei, das alles steht auf einem anderen Blatt. Auch die beiden werden ihren Prozeß bekommen, selbstverständlich, vor der Jugendstrafkammer. Das geht uns zunächst einmal nichts weiter an. Gut möglich, daß Sie dort als Zeuge gehört werden.“
„Möglich, so so.“
„Aber nun in medias res, Herr Meyer – meine Zeit ist leider nicht unbegrenzt.“
„Die Pflicht, die Pflicht.“
„Ganz genau. Ich sehe schon: Wir verstehen uns. Ich glaube, ich kann Ihnen schon heute das Mindeststrafmaß versprechen, unbescholtener Bürger, der Sie bislang waren.“
„...waren. Mindeststrafmaß?“
„Gewiß doch. Immerhin waren Sie gehörig in die Busentführung verwickelt.“
„In die glückliche Beendigung derselben, ja. Mit Stolz geb ich das zu, jawohl.“
„Lassen wir einmal Ihre Gefühle beiseite und wenden uns den juristischen Fakten zu: Die Beschuldigung lautet auf schwere Körperverletzung in zwei Fällen...“
„Moment. Der Nasenbeinbruch war mein rechter Schwinger, verursacht durch das verlorene Gleichgewicht, das räum ich bereitwillig ein. Aber das schwere Schädel-Hirn-Trauma muß auf eine Verkettung unglücklicher Umstände zurückgeführt werden, eine Mißgeschickskaskade sozusagen.“
„Abgesehen davon, daß keines unserer Gesetzbücher ein solches Konstrukt kennt, wurde jene Unglückskette, die Sie zu Ihren Gunsten in Anspruch nehmen wollen, durch eben Ihre zerberstende Schnapsflasche ausgelöst!“
„Zwölf Jahre ...“
Die Spinnenhand tätschelt mir die Schulter.
„Na na, mein Guter. Da sehen Sie nun gleich wieder zu schwarz. Aber mit einer geringen Freiheitsstrafe werden wir wohl rechnen müssen, auf Bewährung, wenn wir sehr viel Glück und einen geneigten Richter haben.“
„Ja, aber das alles war doch eindeutig Notwehr!“
„Guter Mann, eindeutig geht es nur selten zu in der Juristerei, und auf Notwehr will ich gerne plädieren, wenn Sie das wünschen. Aber ob wir damit durchkommen?“
Das Männlein greift zu Hut und Tasche und wendet sich zum Gehen. Ich beginne, über die erneute Anschaffung einer Flasche Whisky nachzudenken, Single Malt und mindestens zwölf Jahre alt.
„Dieser Mann“, so hebt der Staatsanwalt zum Plädoyer an und schleudert seinen Wurstfinger wie Zeus’ Donnerkeil gegen mich, „dieser Mann handelte in einer, zugegeben, unübersichtlichen Situation. Er handelte, obwohl ein Unterlassen in eben diesem Moment angebrachter gewesen wäre. Wir alle haben die Zeugen gehört: den Fahrer, die Geschädigten sowie die unbeteiligten Fahrgäste des Linienbusses zum Katharinensee – sie alle sind darüber einer Meinung. Durch seine vermeintliche ‚Zivilcourage’, wie der geschätzte Herr Verteidiger den Beweggrund seines Mandanten zu beschönigen sucht, hätte um ein Haar jene ohnehin bedrohliche Lage in einer Katastrophe geendet. Ja, was wäre wohl geschehen, wären die Waffen der beiden Geschädigten echt gewesen? Nun, wir wollen es uns lieber nicht ausmalen. Möge sich der Angeklagte glücklich schätzen, daß wir keine Todesopfer zu beklagen haben. Dennoch sehen wir einen erheblichen Teil seiner Schuld am Tatbestand der schweren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, der Sachbeschädigung und der schweren Körperverletzung in zwei Fällen als erwiesen an.
Was aber hat ihn dazu bewogen? War es etwa eine Handlung im Affekt, eine Art Reflex angesichts der vermeintlichen plötzlichen Bedrohung, also in gewissem Sinne eine Notwehrreaktion, wie uns der Herr Verteidiger glauben machen will? Oh nein, meine Damen und Herren: Der Herr Meyer erhob sich überaus gelassen von seinem Sitz und schritt auf den Geschädigten Marko S. zu, geradezu eiskalt, wie der Zeuge bemerkte. Ahnte er etwa die Harmlosigkeit der Waffenattrappen, oder war er sich nur der einschüchternden Wirkung seiner imposanten Erscheinung bewußt? Und dann der blitzartige, wohlkalkulierte Angriff auf den Zeugen – das hatte keineswegs etwas mit ‚Notwehr’ zu tun.
Den Ausführungen meines verehrten Kollegen, des Herrn Verteidigers, nach verfügte der Angeklagte über eine ungewöhnliche Portion Mut. Warum um alles in der Welt nutzte er diese nicht, um mit den beiden Jungs zu sprechen, um die Lage zu entspannen, zu deeskalieren? Immerhin ist er ein hochintelligenter Mensch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und ebenso redegewandt wie von beeindruckendem Auftreten. Was bewegt ihn, anstatt seiner geistigen Kräfte rohe körperliche Gewalt einzusetzen? Warum wohl setzt er damit alles auf eine Karte: Grandioser Sieg oder effektvoller Untergang im Inferno. Aber genau das, meine Damen und Herren, ist der Stoff, aus dem die Helden sind. Und das ist es auch, was diesen Mann bewogen hat, genau so rücksichtslos zu handeln wie er es eben tat: übersteigertes Selbstbewußtsein gepaart mit krankhafter Geltungssucht. Er, der strahlende Held, der beherzt das Böse abwehrt und richtet gleichermaßen, eine gefährliche Mischung, meine Damen und Herren!“
Der untersetzte Mann mit der Stirnglatze läßt seine Worte verhallen, lauscht ihnen noch ein Weilchen verzückt hinterher und fügt dann, betont sachlich, den Strafantrag an: „ ... halte ich achtzehn Monate Freiheitsentzug ohne Bewährung für durchaus angemessen.“
Das Hohe Gericht, nach eingehender Beratung, hat dem nichts Wesentliches hinzuzufügen. Niemand ficht das Urteil an. Ich muß die Haft sofort antreten und werde aller Möglichkeiten beraubt, noch schnell eine Flasche Whisky zu besorgen.
Im Prozeß gegen die beiden mutmaßlichen Bankräuber und verhinderten Busentführer Marko S. und Mirko T. vor der Jugendstrafkammer wurden heute die Urteile verkündet.
Die Anwälte der beiden jugendlichen Tatverdächtigen konnten zuvor glaubhaft machen, daß zu keinem Zeitpunkt des Geschehens eine tatsächliche Gefahr für Leib und Leben, weder für die Angestellten und Kunden der Sparkassenfiliale Stadtrandsiedlung noch für die Passagiere und den Fahrer des Linienbusses zum Katharinensee, von den Beschuldigten ausging, da sie lediglich über Waffenattrappen verfügten. Erst das unüberlegte Eingreifen eines der Businsassen beschwor eine gefährliche Situation herauf, die alle Anwesenden in einen Schockzustand versetzte und zu schweren Verletzungen der beiden Angeklagten führte.
Strafmildernd wirkte sich ferner die Tatsache aus, daß weder Marko S. noch Mirko T. jemals zuvor in irgendeiner Weise straffällig oder auch nur auffällig geworden waren. Bei der Straftat handelte es sich, so die Anwälte, also keineswegs um professionelle Kriminalität sondern allenfalls um einen spontanen und noch dazu äußerst dilettantisch vollzogenen Dumme-Jungen-Streich.
Das Gericht folgte im Wesentlichen dieser Ansicht und verhängte für beide Beschuldigten eine Freiheitsstrafe von je sechs Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, sowie acht Wochen gemeinnützige Tätigkeit. Die Staatsanwaltschaft legte keine Berufung ein, so daß das Urteil sofort rechtskräftig wurde.
Ihr braunes Kostüm kontrastiert aufs vorzüglichste mit dem kalten Hellgrün im Neonlicht. Hinter ihr ist die Gittertür zugekracht. Mit ihren Armen weiß sie wohl nichts Rechtes anzufangen.
„Umarmungen sind hier, glaub ich, nicht gestattet.“ Woher will sie das wissen, und warum versucht sie es nicht wenigstens?
„Nehmen Sie bitte am Tisch Platz“, tönt der Wärter.
„Wie geht’s dir?“
Blöde Frage. Wie solls einem gehen im Knast.
„Prima. Stell dir vor, ich hab jetzt sogar Arbeit. Wußte schon gar nicht mehr, wie das ist. Wir fummeln Leiterplatten für irgend ’ne Radiobude. Kommt das Unternehmen zwar teurer als wenn sie’s in Fernost löten ließen, ist aber gut fürs soziale Gewissen der Geschäftsleitung, sagt der Ingenieur. Der geregelte Tagesablauf tut mir gut. Abends noch’n bißchen Pingpong und die Glotze im Fernsehraum, um zehn fall ich hundemüde auf die Pritsche. Wenn nicht die dicken Mauern wären, ’s wär ’n richtig gutes Gefühl.“
„Schön.“
„Ja, und regelmäßige medizinische Betreuung. Meine Zähne hab ich mir endlich mal sanieren lassen, guck.“ Ich grinse wie ein Präsidentschaftskandidat auf Wahlkampftour. „Und um meinen Seelenzustand kümmert sich alle drei Tage eine Psychologin. Ich kann weiß Gott nicht klagen. Als ich noch ein unbescholtener Bürger war hat sich außer dem Finanzamt und der Bußgeldstelle keine Sau um mich geschert.“
„Wie schön für dich. Ist sie hübsch?“
Wo nehmen Frauen bloß ihre Fragen her. Hab ich überhaupt noch nicht drüber nachgedacht. Ich zucke die Schultern. Sie druckst.
„Du ... mh ... ich meine ...“
„Na was?“
„Du solltest mich auch ein bißchen verstehen, ich meine – versuchs wenigstens. Ich gewissermaßen im Lichte der Öffentlichkeit und du vorbestraft, noch dazu wegen Körperverletzung. Die Leute, die Kollegen – das siehst du doch ein, oder? Ich hab die Scheidung eingereicht.“
Nach der endlosen Stille kracht die Gittertür hinter ihr zu.
Ab nächstem Monat werd ich Freigänger, und in ’nem halben Jahr komm ich wieder raus. Wozu eigentlich? Und kein Whisky weit und breit.
Die Leute huschen an mir vorbei im Frühlingsniesel. Keiner, der etwa eine Augenbraue hebt ob der Begegnung mit dem einstigen Helden der Stadt für einen Tag. Aber auch keiner, der die Nase rümpft über den Knastbruder. Ich bin ihnen Wurscht wie eh und je. Ob ichs nochmal versuche mit einer Flasche Single Malt in Richtung Katharinensee? Was mag dann wieder dazwischenkommen?
Der erste Freigang – und gleich vermiest von der Psychosuse:
„Sie müssen das Trauma loswerden.“
„Ich hab kein Trauma.“
„Aber ja doch, und was für eins. Wir müssen das aufarbeiten, und ich weiß auch schon, wie: Nämlich durch bewußte Konfrontation. Das wird Ihnen beiden helfen, glauben Sie mir.“
„Ich wüßte nicht, weshalb ich Pudelmütze Eins ...“
„Marko S., Herr Meyer.“
„... warum ich diesem Marko helfen sollte. Geht’s denn dem so schlecht? Wahrscheinlich haut er mich gleich zusammen oder geht mit’m Messer auf mich los, aus Rache für den verpatzten Überfall.“
„Keine Sorge, Herr Meyer, das entspräche ganz und gar nicht seinem Profil. Außerdem hat auch er noch Bewährung. Halten Sie lieber Ihre gefährliche Rechte im Zaum.“
Na toll. Hoffentlich kennt der sanfte Marko sein Profil. Aber bevor mir die Psycholine den Freigang streichen läßt, segle ich lieber kühn auf Konfrontationskurs, psychologisch gesehen. Meinem übersteigerten Selbstbewußtsein danke ich für den Mut.
Nach längerem Suchen stöbere ich Marko S. in der väterlichen Garage auf. Ohne Pudelmütze sieht der sowas von normal aus! Er feilt an irgendetwas Metallischem. Schweiß tropft ihm von der Stirn, die Nase glänzt. Als mein Schatten auf sein Werkstück fällt, blinzelt er mich schräg von unten an, erkennt mich wohl nicht gleich im Gegenlicht. Guckt der nun intelligent oder verschlagen?
„Hallo, Herr S.“ Abermals schreite ich auf ihn zu. Diesmal strecke ich ihm meine Hand entgegen. „Ich bin’s, Meyer – mit Ypsilon.“
„Hey.“ Seine Miene strahlt wie die aufgehende Märzsonne. „Sind Sie schon wieder draußen! Ich faß es nicht.“ Er nimmt meine Hand, weder aggressiv noch schüchtern, und schüttelt sie beinahe herzlich.
„Es tut mir leid. Ich meine, ich hoffe, es ist alles gut verheilt bei Ihnen ... beiden.“
„Seh ich aus wie’n Weichei, Mann? Der Mirko jammert noch rum, sicher. Ist halt ’ne Flasche. Hätt’ das Ding nicht mit ihm drehen sollen. Zu nervös, viel zu flattrig der Kerl, kannste vergessen.
Aber wie du uns fertiggemacht hast – das war cool, echt mal. Hätten sich die Bullen zum Beispiel nie getraut. So’nen Rambo-Typen hatten wir nicht einkalkuliert. Überhaupt: Der ganze Coup war strategisch gar nicht durchdacht.“
„Durchdacht ... Strategie ... hm – willste Denken üben, strategisches und von mir aus taktisches gleich mit dazu?“ Ich krame mein billiges Reiseschach aus der Tasche, das ich neuerdings immer mit mir umhertrage. Wer weiß, vielleicht könnte man den jungen Mann ganz behutsam auf den Pfad der Tugend zurück führen... Was für’n Blödsinn – die Psychonette muß mich schon ganz und gar besoffen gequatscht haben.
Aber da stößt Mütze Eins schon einen Entzückensschrei aus: „Ey, das ist geil! Brings mir bei, Mann – und deinen Schwinger mit der Rechten.“
Seit meiner Entlassung treffen wir uns jeden Tag, spielen Schach, feilen an Schlüsseln herum und boxen uns am Punchingball locker. Marko macht Fortschritte in der Strategie, ich in der Technik. Die klapprige Neunmillimeter krieg ich schon unter der Normzeit zerlegt und wieder zusammengesetzt. Nur der Lauf hat innen noch ’n paar Roststellen, aber die wienern wir auch noch weg. Weiß der Kuckuck, wo er das Ding her hat.
„Mit ’ner albernen Attrappe beeindruckst du doch keinen.“
Morgen fangen wir mit Schießübungen an, tief im Wald hinterm Katharinensee.
„Mirko war ’ne Nappsülze. Aber wir beide, wir werden unschlagbar sein, Alter.“
Marko klatscht seine gegen meine Handfläche.
Das Leben ist aufregend.
Ich verabscheue Whisky.