Country House
Darryl Singer schlenderte den kahlen Gang entlang und lauschte dem Echo seiner Schritte, als er die offen stehende Tür bemerkte, auf dessen Höhe er sich befand. Sein Gesicht, das vor verspürtem Stumpfsinn gerade noch so verfinstert gewesen war wie der sonnenlose Abendhimmel, zeigte plötzlich einen Ausdruck des Erstaunens, als er aus dem dunklen Raum die Stimme vernahm.
"Also, sag mir, ob du willst!", verlangte ein Mann.
Darryl blieb stehen und horchte auf, der Geschmack des Verbotenen war fühlbar, und der schwarze Junge konnte nicht widerstehen, in den Trog der Verheißung einzutauchen. Er kannte die Stimme, aber er konnte sie erst einordnen, als der Mann seine Forderung wiederholte, drängender diesmal. Der Sprecher hatte, selbst wenn er einen unverfänglichen Plauderton anschlug, eine unsympathische Stimme. Aber nun, da sie jemanden beschwören sollte, klang sie durchdringend und ließ Darryls Nervenenden vibrieren. Der Mann hatte keine Zunge im Mund, sondern eine Rasierklinge.
Cunningham!, dachte Darryl, sein Gesicht in finstere Falten geworfen. Er mochte den Mann nicht, sie gaben ihm insgeheim Tiernamen. Dass er hier freiwillig lebte, machte ihn zum verhassten Sinnbild all der Gründe, die Darryl hier hingeführt hatten. Sicher war Country House früher einmal wirklich ein Landsitz gewesen, mit den inzwischen leeren und verrotteten Stallungen und dem großen Wald, der zum Grundstück gehörte, aber heute hatte es einen anderen, offizielleren Namen: Verwahranstalt für jugendliche Verbrecher. Für die meisten, die hier waren, machte es keinen Unterschied mehr, auf welcher Seite der Mauer sie waren, das Leben war für sie immer ein Schlachtfeld. Es waren diese Typen, die Darryl mied wie die Pest, weil sie Ärger bedeuteten. Für sie würden Orte wie dieser stets ein vertrautes Umfeld sein, für Darryl jedoch war es eine neue Erfahrung, eingesperrt zu sein. Es brachte ihn in Rage, daran zu denken, dass draußen seine Geschäftsverbindungen wegplatzten wie morsche Knoten, während er in einer Zelle mit sieben Gestalten wohnte, denen es egal war, ob sie lebten oder nicht. In acht Monaten, dachte Darryl, war alles verloren: keine Käufer mehr, die sich um ihn scharrten.
Der schwarze Junge wusste, dass er Country House vor Ablauf dieser Zeit verlassen musste, um nicht völlig in Vergessenheit zu geraten. Er musste weg hier, bevor er selber nicht mehr an den Mythos der eigenen Stärke glaubte.
Der Monolog drinnen im Zimmer drohte zu erlahmen, doch plötzlich sprach Cunningham, der Wärter, wieder.
"Du willst raus aus diesem Loch?", fragte Cunningham. "Weg von hier? Ich kenn´ Wege, die nach draußen führen. Ich zeig´ sie dir, wenn du sie sehen willst, und geb´ dir den Schlüssel. Ich bring´ dich hier raus."
Zu wem sprach der Mann?, überlegte Darryl. Seine feuchten Hände schlossen und öffneten sich. Um Gottes Willen, zu wem sagte er das? Das Geheimnis, das sich da entblätterte, war heißer als jeder Strip.
Die Antwort gab keinen Aufschluss über den Namen desjenigen, der sie gab: Darryl hörte einen Seufzer, vielleicht einen kindlichen Schnaufer. Wer immer das war, zu dem Cunningham sprach – es war sicherlich sein Opfer. Der Mann gierte nach Fleisch, den meisten von ihnen hatte er bereits einen Antrag gemacht. Wen von ihnen hatte er noch nicht wie unabsichtlich berührt und mit einem langen Blick bedacht, wie wenn er damit seine Chancen abschätzen wollte. Darin erschöpften sich vermutlich Cunninghams Ambitionen: Er brauchte Jungenfleisch in der Nähe. Hier hatte er es zuhauf.
Vielleicht war das mittlerweile ein Versprechen, das er jedem gab: Ich zeig´ dir den Weg, wenn du dich mir zeigst.
"Junge!"
Das Scharren eines übernervösen Fußes am Boden war zu hören. "Ja?"
Darryl schnappte nach dem Wort und ließ es dutzendfach in seinem Kopf widerhallen. Vor Anstrengung runzelte er die Stirn; Konzentration gehörte nicht zu seinen Stärken, jedenfalls dann nicht, wenn sein Schädel nicht drogenumnebelt war. Gesichter erschienen in seinen Gedanken, ein Reigen manchmal schüchtern lächelnder, meist stumpf dreinschauender Gesichter. Am Ende der Parade tauchten verschwommen von Missmut zerfurchte Gesichtszüge auf, und Darryl fingerte endlich den Namen aus dem Schlupfwinkel: Fredric. Kein Zweifel: Dort drinnen war Fredric. Darryl konnte sich gut an den Jungen erinnern, der das weiche Gesicht und die Statur eines Mädchens hatte. Er war ein gesegnetes Opfer, nicht nur jetzt für Cunningham. Es war, als zöge er Ärger und Schläge magisch an, an einem Ort wie diesem konnte er nichts weiter sein als ein Blitzableiter auf klappernden Knochen. Vielleicht lag es an seinem Gesicht, dem man ansehen konnte, wie sich Qual in ihm aufstaute.
Einmal hatte Darryl versucht, mit dem Jungen ins Gespräch zu kommen, aber ihm waren bestenfalls einsilbige Antworten zu entlocken gewesen, meist jedoch nur Brummlaute, die einen zur Weißglut bringen konnten, und so hatte er Fredric danach ignoriert.
Wer wollte ihm verdenken, dass er fliehen wollte? Und dass er dafür selbst Cunningham aufsuchte?
Ein Geräusch ließ Darryl aufhorchen. Cunningham schien sich gesetzt zu haben. Im Raum stand zerstörtes Mobiliar, unter anderem auch ein großer, klobiger Ledersessel, der einst im Direktorenzimmer gewesen war. Jetzt knarrten seine schlaffen Federn.
"Komm doch näher, Junge." Cunningham grunzte. "Näher zu mir."
Darryl verzog den Mund. Dieser Aufforderung schlich eine widerwärtige Konsequenz nach, und sicher würde auch Fredric das wissen – würde das wissen und vor dem Mann flüchten, der ihn in die Falle zu locken versuchte. Aber statt der Schritte des Jungen, die sich der Tür näherten, vernahm Darryl eine Weile lang gar nichts, dann seufzte Cunningham auf, und seine Weisungen wurden lustvoll-kläglicher.
Darryl warf alle Vorsicht über Bord und lugte durch den schmalen Spalt der Tür. Er erwartete das Schrecklichste, und er bekam es geboten. Linkerhand sah er den Sessel, den ein weißes Laken bedeckte, in seinen nachgiebigen Polstern hockte der fette Mann, mit um den Knöcheln hängenden Hosen, vor ihm das Kind, dessen Kopf tief über Cunninghams Schoß gebeugt war.
Das Bild brannte sich Darryl unauslöschlich ein. Der Schänder hatte die Augen geschlossen. Seine groben Hände lagen schwer und massig auf den Schultern des Jungen, der Cunninghams Erektion massierte und sich schließlich an ihr aufspießte. Mit Ausnahme des Seufzens, das Cunningham manchmal ausstieß, war kein Geräusch zu hören; die Lautlosigkeit war des krassen Aktes unwürdig.
Darryl wusste, dass er jeden Augenblick entdeckt werden konnte, aber es war ihm unmöglich, sich zurückzuziehen und die Sache zu vergessen, wie er tausend andere Entdeckungen zuvor auch vergessen hatte. Im Gegenteil: Er drückte mit aller Vorsicht gegen die Tür und wagte sich tiefer in den im Dämmer liegenden Raum hinein. Die Angst jammerte in seinem Kopf, aber er musste einfach Fredrics Gesicht sehen. Die Luft in dem Zimmer war bitter und roch nach altem Staub, der Darryls Kehlkopf reizte. Fredrics Gesicht kam näher, und nach weiteren lautlosen Schritten war es nah genug, um zweifellos festzustellen, dass die Vergewaltigung nichts in ihm rührte. Kein Zucken ging durch seine Züge, das Verstörung sichtbar gemacht hätte, Fredrics Augen waren weit aufgerissen, während er scheinbar mechanisch seine Arbeit verrichtete, aber er weinte nicht.
Darryl hörte Cunningham Laute ausstoßen, die an ein Schluchzen erinnerten. Wenn er nun die Augen öffnete, würde er sehen, dass dort ein Zeuge war. Aber seine Lider zuckten bloß. Unter dem Hemdzipfel wurden die weißen Fettwülste sichtbar, die Cunningham sich im Laufe frustrierender Jahre angefressen hatte, und Darryl schüttelte angewidert den Kopf.
Dann brabbelte Cunningham irgendetwas Unverständliches vor sich hin, vermutlich Worte der Anstachelung, denn er zog Fredric mit rohen Handgriffen noch näher zu sich hin. Der Junge stellte das Spiel auf den Kopf, wurde Darryl nach einer Weile klar. Cunningham war nun das Opfer, Fredric hatte ihn – die Metapher war grauenhaft konkret – in der Hand.
So schön ist die Freiheit nicht, Junge, jedenfalls für dich nicht, dachte Darryl, während er sich leise aus dem Zimmer zurückzog. Seine Augen brannten. Vielleicht lag das am Staub, der sich auf die Netzhäute gelegt hatte, aber wahrscheinlicher war, dass er den Sturz ins Nichts, den er in Fredrics Gesicht gesehen hatte, in seinem Herzen als seinen eigenen wiedererkannte: Keine Verrohung ging tief genug, das zu leugnen.
Nach einer schlaflosen Nacht, in der er sich von einer Seite auf die andere warf und die rostigen Eingeweide seines Bettes zum Quietschen brachte, war für Darryl klar, dass er ebenfalls flüchten würde. Der Plan, der in ihm reifte, war so simpel, dass Darryl mit einem Kleinkind darüber hätte debattieren können, aber gerade das machte die Idee für ihn so unwiderstehlich. Darryl musste lediglich Fredric im Auge behalten, ihm überall hin folgen, sein fleischgewordener Schatten sein. Das war selbst an einem Ort wie diesem möglich. Country House funktionierte augenscheinlich auf der Basis von gegenseitigem Vertrauen. Zwar wurde dieses Prinzip ständig mit Füßen getreten, aber niemals so sehr, dass jemand es rückgängig gemacht hätte. Diesem Prinzip war es zu verdanken, dass die Insassen – die den Statuten zufolge keine Häftlinge waren, sondern Bewohner – sich frei und größtenteils ohne Aufsicht im weitläufigen Gelände bewegen durften, wenn kein gemeinsames Programm anstand. Dieses winzige Zugeständnis an ein Leben in Freiheit war über die Jahre hinweg aufrecht erhalten worden, auch wenn es Zweifler gab, die mehr Strenge forderten.
Das Warten auf die Flucht wurde für Darryl zu einer schier unerträglichen Angelegenheit. Stunden erstreckten sich zu Tagen, die aus dem schwarzen Jungen ein leibhaftiges Pulverfass machten. Seine Mutter hatte seine Jähzornigkeit als Überbleibsel bezeichnet: als Überbleibsel des heißen Eingeborenenblutes, das in seinen Venen zirkulierte. Seine gelegentlichen Überreaktionen waren gefürchtet.
Darryl wusste, wenn wirklich Blut und Gene sich in ihm erhitzten, dann war das an solch einem Ort eine unheilvolle Verbrüderung. Country House bot ihm nur unzureichende Verstecke, in denen er sich verschanzen konnte. Zu oft waren Leute in seiner Nähe, Wärter und die anderen Jungs; und Fredric, der sich, wie es schien, einen Spaß draus machte, Darryl zur Weißglut zu reizen. Irgendwann würde er seine Frustration nicht mehr unter Kontrolle haben. Sie war dann wie ein schlechtes Essen, das in seinen Eingeweiden nagte.
So oft er konnte, zeigte er ein makelloses Lächeln, manchmal selbst bei unpassenden Gelegenheiten, und vermied jeglichen Ärger mit den Wärtern, aber seine scheinbare Ausgeglichenheit verbarg nur dürftig den Orkan der Gefühle, der ihn so unruhig machte, als läge er auf einem wimmelnden Bett aus Ameisenhügeln. Erst in dieser Zeit wurde ihm bewusst, wie überfüllt mit Stumpfsinn ein Leben in Gefangenschaft war, und er schwor, sich niemals wieder in eine Zelle sperren zu lassen, ganz gleich, was immer auch geschehen mochte. Darryl ertappte sich dabei, wie er diesen Schwur gelegentlich vor sich hin murmelte, wie ein Gebet.
Die Verantwortlichen gaben sich alle Mühe hier. Sie glaubten, aus den Jungs bessere Menschen machen zu können. Viele von ihnen waren Sozialarbeiter, und ihre Waffen hießen Lächeln und ausgefeilte Rhetorik. Wahrscheinlich, so dachte Darryl manchmal voller Verachtung, waren diese Leute die wahren Gefangenen. Sie glaubten an ihre Theorien und sahen nicht ihr Versagen.
Es gab gemeinsame Tischzeiten, in denen Gespräche geduldet wurden, vormittags standen Schulstunden auf dem Programm, und nach der Mittagspause wurde Darryl mit einigen anderen in die Werkstatt getrieben, wo altes Mobiliar repariert werden musste. Viel Mühe für Jungs, die so zerstört waren wie die Möbelstücke in ihren zernarbten Händen aber eines musste selbst denen, die an eine Zukunft glaubten, klar sein: Es geschah hinter Mauern und verschlossenen Türen. Lachen, Arbeit und Furzen: Alles verlor sich im Nichts.
Darryl hätte dies verschmerzen können. Er hatte immer wenig Vertrauen in die Macht der Vernunft gesetzt – sie war eine übellaunige Stichwortgeberin, wenn es um Geschäfte und simples Überleben ging -, aber sie war der Auslöser gewesen, dass er sich schweren Herzens dazu entschlossen hatte, die Monate bis zu seiner Entlassung abzusitzen. Es war von Anfang an ein brüchiger Kompromiss gewesen, und nun, da neue Hoffnung in ihm aufflammte und der Plan in ihm gereift war, zerfiel er zu Staub.
Er wollte raus: Dieser Gedanke war so deutlich in seinem Kopf, dass er manchmal fürchtete, er könne ihn unbewusst ausgesprochen haben.
In den Stunden und Tagen nach der Begegnung zwischen Cunningham, der sich seither seltsam unauffällig verhielt, und Fredric suchte Darryl nach einem ersten Anzeichen einer Veränderung in den sonst so belanglosen Zügen des Jungen. Aber so sehr er im Verborgenen zu Fredric hinüberstarrte, konnte er keinen Hinweis finden, dass in ihm ebenfalls ein Plan reifte. Fredric schaute nicht von seinem Teller auf, nicht von den Schulbüchern, schaute nachmittags nicht von den zerborstenen Stühlen auf. Er verhielt sich wie sonst auch immer – wie jemand, der die Welt nicht wahrnehmen wollte, womöglich in der Hoffnung, sie würde ihn dann ebenfalls nicht wahrnehmen. Wenn er arbeitete, dann geschah das so aufreizend langsam, dass ein ungeduldiger Zuschauer versucht war, ihm die Arbeit zu entreißen. Er ging langsam, er aß langsam – alles, was Fredric tat, geschah mit einer eigenartigen Behäbigkeit, als würde sein Leben in Zeitlupe ablaufen.
Vielleicht besaß Fredric das Talent zum Schauspielern, dachte Darryl. Er wusste, vielleicht als einziger Mensch, dass der traurige Anblick, den sein Mithäftling bot, seine einzige Waffe war. Darryl hatte ihn sie in scheinbar unbeobachteten Momenten ablegen sehen. Morgens in den Waschräumen, wenn jeder, nur Darryl nicht, auf sein eigenes verkümmertes Spiegelbild fixiert war. Oder nachts: Nachts hatte er Fredric lächeln sehen, während Darryl über ihn gekauert und ihn mit bohrendem Blick studiert hatte; hatte ihn flüstern und säuseln gehört, während sonst kein Wort aus ihm herauszubekommen war. Sie alle hier hatten eine dunkle Vergangenheit, jeder auf seine Weise. Viele, wie Darryl, saßen wegen Dealens. Der schmutzige Punkt bei Fredric hieß, wie er gehört hatte, Brudermord. Er fragte sich, ob der Mörder, wenn er flüsterte und säuselte, seinen kleinen Bruder hinter den flatternden Lidern hatte.
Immer wieder lugte Darryl hinüber zu Fredric, der an der schattigen Hausfront kauerte und wie selbstverloren vor sich hinstarrte. Sie hatten Mittagspause, und die meisten hielten sich im Innenhof auf und genossen die wärmenden Sonnenstrahlen. Etwas abseits auf einem betonierten Platz spielten ein paar Typen Basketball. Ihr gelegentliches Gelächter klang schrill und spiegelte etwas wider, das Darryl an ein in die Falle gelocktes Tier erinnerte. Ihre aufgestaute Aggressivität, die sie an dem Ball – und manchmal an ihren Gegenspielern – ausließen, war unverkennbar, weshalb ihr Spiel keine Zuschauer fand. Weiter abseits hatten sich besonnenere Häftlinge zusammengefunden und unterhielten sich. Andere waren Einzelgänger, die sich an den Strahlen der Sonne erfreuten oder ihren Gedanken nachhingen.
Darryls Gedanken kreisten in einer Endlosschleife um das Gefängnis und Fredric und Cunningham. Hatte er jemals etwas gesehen, das schrecklicher war?, überlegte er, und ein Schauder durchzuckte ihn, als er das Bild des vor dem fetten Mann knienden Fredric vor Augen hatte. Die Erinnerung war grauenhaft konkret, es bereitete ihm keine Mühe, den Staub zu riechen, der im dunklen Raum aufgewirbelt war, und die Faserung der Tür zu fühlen, hinter welcher er zuerst gestanden hatte. Und er konnte Cunninghams leicht asthmatisches Keuchen und sein sinnloses Gewinsel hören. Nichts von diesen Eindrücken hatte sich in Fredrics Gesicht widergespiegelt, da war nichts außer Fühllosigkeit gewesen. Darryl hatte verschiedene Male in seinem Leben Leichen gesehen, aber Fredric war die erste, die etwas in ihm rührte.
Darryl hob den Kopf und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Sonne, die hoch über den Baumwipfeln stand. Er spürte ihre Wärme auf seinem Gesicht und hinter seinen Augen, die sich mit Tränen füllten. Vergeblich redete er sich ein, dass sie der Schutz vor dem gleißenden Licht waren, denn er fühlte in seinem Magen die mit Eis ummantelte Angst, eines Tages könnte sein Gesicht genauso sein, roh und starr wie eine unzulängliche menschliche Skizze.
Die Gedanken in Darryls Kopf, der immer noch der Sonne zugewandt war, taumelten von einem Abgrund zum anderen, bis sie erlöst wurden vom Schrillen der Glocke, die das Ende der Pause ankündigte. Zusammen mit den anderen betrat Darryl das Haus, dessen Gänge mit Gemurmel erfüllt wurden.
Es vergingen zwei weitere Tage, die Darryl in ständiger Alarmbereitschaft verbrachte. Hinterher fragte er sich, warum niemand ihn auf seine Anspannung angesprochen hatte. Oft stand auf seiner Stirn kalter Schweiß, er wurde zunehmend aggressiv und verlor bei vielen Dingen, die er tat, die Kontrolle über sich selbst, aber niemand schien das zu bemerken. Oder war sein Zustand völlig normal und in den Augen der Wärter bloß eine Reaktion auf seine Gefangenschaft?
Aber nun, da Fredric wie zufällig durch die verlassenen Gänge schlenderte und schließlich vor dem Möbelarchiv Halt machte, verschwendete Darryl, der ihm so unauffällig wie möglich folgte, keinen Gedanken mehr an dieses Rätsel. Er sah, dass der Junge die Klinke der Tür ergriff und sie nach langem Zögern schließlich so langsam niederdrückte, als wäre er sich seiner Sache keineswegs sicher. Aber schließlich wand Fredric sich durch den schmalen Spalt und schloss die Tür.
Darryl folgte ihm nach einigen atemlosen Momenten. Niemand sonst war im Gang, der abseits genug lag, um einigermaßen sicher vor Entdeckungen zu sein. Dennoch spähte Darryl ständig umher, um jedes Risiko auszuschließen. Er wusste nicht, was er sagen würde, wenn man ihn ertappte, aber er hoffte, irgendetwas Kluges würde ihm als Entschuldigung über die Lippen schlüpfen. Vor der Tür verharrte er. Seine Hände waren zu Fäusten verkrampft, und in seinem Gesicht hatte sich eine Grimasse eingegraben, deren Vorhandensein ihn überrascht hätte. Cunningham war dort drinnen, seine Stimme war selbst bei dieser Unterredung, die besser geheim geblieben wäre, zu laut und polternd, als dass die geschlossene Tür sie hätte dämpfen können. Von Fredric hingegen hörte Darryl nichts, wahrscheinlich hockte er verschreckt in der dunkelsten Ecke des Raumes.
Darryl musste warten, wie all die Tage schon zuvor. Er trat an eines der Fenster etwas abseits der Tür und zündete sich eine Zigarette an. Rauchen im Gebäude war verboten, überall hingen eindeutige Verbotsschilder, aber im Augenblick war ihm der Ärger, den er sich dabei einbrocken konnte, völlig egal. Was würde er tun, wenn Fredric endlich die Schlüssel hätte? Selbstverständlich musste er dann weiterhin im Schlepptau des Jungen bleiben und ihn keine Sekunde aus den Augen lassen. Sich einfach an ihn dranhängen, das war Darryls ganzer Plan, und obgleich er solch einer simplen Vorgehensweise ein wenig misstraute, fand er nur eine Schwachstelle in diesem Plan: Fredric. Wenn der die Nerven verlor, bedeutete dies das Ende der Idee, aber immerhin würde Darryl dann seine Hände in Unschuld waschen können.
Einige Male hörte er Cunninghams schmutziges Lachen, in dem soviel Verrohung mitschwang, dass es Darryl kalt den Rücken runterlief. Dazwischen vernahm er auch Wortfragmente, meist Beleidigungen, die sich wohl gegen den Jungen richteten. Darryl runzelte die Stirn. Mit einer solchen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Cunningham schien vor Zorn jegliche Vorsicht zu vergessen.
"Scheiße!", murmelte Darryl und zündete sich eine neue Zigarette an. Angestrengt blickte er in den weitläufigen Hof hinaus, der im Laufe vieler Jahre ein gänzlich anderes Gesicht bekommen hatte. Der kleine Sportplatz war noch nicht sehr alt, noch immer wurden regelmäßig Bäume gerodet, um Platz für neue Bauten zu schaffen. Country House verlor mehr und mehr sein ursprüngliches Gesicht, das auf vor Alter vergilbten Fotos überall zu betrachten war.
Darryl wurde aus seinen Gedanken gerissen und wandte sich um, als er Cunningham einen Ruf ausstoßen hörte, der eine Mischung aus Gelächter und einem angsterfüllten Winseln war. Irgendetwas stürzte polternd zu Boden, dann drang ein spitzer Aufschrei Fredrics durch die Tür, die gleich darauf aufgerissen wurde. Der Junge sprang mit einer solchen Heftigkeit über die Schwelle, als hätte der Raum ihn angewidert ausgespuckt. Darryl stand am Fenster und war nicht fähig, sich zu rühren, aber Fredric beachtete ihn überhaupt nicht, obgleich seine Augen weit aufgerissen waren und alles aufzusaugen schienen. Er hastete laut schluchzend in den Gang hinein. Darryl blickte aus dem Fenster und sah Fredric wenige Augenblicke später auf den sonnenüberfluteten Innenhof taumeln. Annähernd in der Mitte des Platzes sank er in die Knie und verbarg sein Gesicht in den Händen.
Er kann weinen, dachte Darryl voller Überraschung, er ist tatsächlich in der Lage, Gefühle zu zeigen. Er sah einen Wärter – war es Miller oder Bright? - aus einem anderen Trakt treten. Der Mann blickte in Fredrics Richtung, aber bevor er auf ihn zuging, zündete er sich gemächlich eine Zigarette an. Nun erkannte Darryl, dass es Miller war. Es würde sicher nicht lange dauern, bis weitere Schaulustige heranwaren. Der krasse Zusammenbruch des Jungen wäre eine Sensation, und sie würden sich darauf stürzen wie Fliegen, die einen Kadaver ausgemacht hatten.
Darryl schaute zur Tür hinüber. Er erinnerte sich, dass es vorhin den Anschein gehabt hatte, der Raum habe Fredric über die Schwelle geschleudert. Nun war ihm so, als würde das Archiv ihn locken wollen, und ehe er sich versah, ging er bereits auf die verheißungsvolle Dunkelheit jenseits der Schwelle zu.
Komm und sieh, schien sie zu rufen, was mit Cunningham geschehen ist.
Trotz seiner Neugierde, der er sich nicht verweigern konnte, war es eine schmerzliche Empfindung für Darryl, erneut einen Fuß in den Raum zu setzen. Der Geruch des trockenen Staubes, der nur den künftigen Zerfall vorwegnahm, ließ eine Lawine aus aufflammenden Erinnerungen auf ihn niederrumpeln, und er hielt verschreckt den Atem an, als er die Parade der Bilder anschaute, die vor seinem inneren Auge vorüberzog. Er konnte Fredric nur bewundern, dass es ihm vorhin scheinbar so ganz ohne Mühe gelungen war, den Raum zu betreten.
Es war nicht völlig finster. Jemand, vermutlich Cunningham, hatte einen Vorhang vom einzigen, vor Schmutz starrenden Fenster gezerrt, um ein wenig Licht einzulassen. Es fiel auf die von Tüchern verhüllten Konturen sehr alter Möbel, die vermutlich nie mehr repariert würden. Bevor Darryl den Mann sah, hörte er ihn einen schmerzerfüllten Schnaufer ausstoßen. Cunningham kauerte an der gegenüberliegenden Wand, verborgen von übereinander gestapelten Tischen, und hob den Kopf, als er die leisen Schritte hörte, die sich ihm näherten. Darryl schaute in ein vor Schmerz verzerrtes, beinah entstelltes Gesicht, in dem jede aufgeworfene Fettspalte ein Bett für den Schweiß bildete, der in Strömen floss. Cunninghams Augen funkelten ihn an, und für einen Moment fragte Darryl sich, ob der Wächter ihn überhaupt erkannte. Glaubte er, Fredric sei zurückgekehrt?
"Du bist es", schnarrte Cunningham, und Darryl entspannte sich ein wenig. Keuchend richtete der fette Mann sich ein wenig auf. Darryl konnte Blut riechen, und er sah die besudelte blaue Uniform, die hier jeder Wächter trug, und den dunklen Fleck am Boden.
"Hast du ihn gesehen?", fragte Cunningham barsch.
"Wen?"
"Den Scheißer mein´ ich!"
"Welchen?", fragte Darryl geduldig.
Cunningham grunzte und warf ihm einen öligen Blick zu, in dem durchdringende Geringschätzung lag. "Fredric! Hast du ihn gesehen?"
"Ja, Fredric ist draußen auf dem Hof." Von seinem Zusammenbruch musste Cunningham nichts erfahren. "Miller ist bei ihm."
"Für dich immer noch Mr. Miller!" Der Wärter betastete mit einer Hand vorsichtig die Wunde und zog sie mit einem lang gezogenen Stöhnen wieder zurück, als er sie fand. Die hastige Bewegung brachte den dicken Schlüsselbund zum Klingen, der an einer Gürtelschlaufe baumelte. "Er wollte mich abstechen. Der kleine Bastard wollte mich tatsächlich abstechen." Cunningham schüttelte den Kopf, als würde er seinen eigenen Worten misstrauen. Irgendwo im Gebäude donnerte eine Tür ins Schloss; beide, der Wärter und der Häftling, zuckten in brüderlichem Erschrecken zusammen. Eine leise Stimme wehte herüber.
"Dieser kleine, mit Scheiße beschmierte Bastard!", zischte Cunningham. Speichel spritzte von seinen aufgeworfenen Lippen, haarscharf an Darryl vorüber. "Da!" Er deutete zu Boden, wo ein Gegenstand lag: ein Messer, das Fredric sich auf irgendeine Weise besorgt haben musste.
"Warum hat er das getan?", fragte Darryl.
"Das weiß ich doch nicht!", rief Cunningham unbeherrscht. "Der ist verrückt. Ein Irrer, sag´ ich dir!"
"Wenn Sie meinen", sagte Darryl beiläufig. In seinem Kopf reifte in Sekundenschnelle ein Plan. Er durchzuckte ihn mit der Heftigkeit eines Blitzes, und dennoch gelang es Darryl, ihn sofort als Ganzes zu erfassen und zu verstehen. Wie wenn jemand einen Stempel auf ein weißes Stück Papier drückte: Es gab keinen Anfang und kein Ende in seinen Überlegungen. Allerdings hatte er eine Lektion nun gelernt: Er wusste, dass die Wirklichkeit manchmal ganz und gar anders war, als er sie sich in Gedanken ausmalte, und daher musste Darryl sehr behutsam zu Werke gehen und so fix und lautlos, dass es seinen eigenen Schatten beschämt hätte. Er biss sich auf die Lippen, um ein Grinsen zu unterdrücken, als er darüber nachdachte, wie Cunningham das Wesen der Wirklichkeit umschreiben würde: Die Wirklichkeit war, so würde Cunningham vermutlich sagen, ebenfalls ein kleiner, mit Scheiße beschmierter Bastard.
"Ganz sicher!"
"Macht der Ort allein einen nicht schon verrückt, Sir?"
"Wie meinst du das?" Cunningham glotzte ihn mit starrem Blick an. Der starke Blutverlust hatte sein verschwitztes Gesicht bleich werden lassen, als wäre ihm ein permanenter Schrecken in die Glieder gefahren. Der Mann war am Ende seiner Kräfte, ausgezerrt und hohlwangig.
Darryl bewegte sich mit kleinen, tänzelnden Schritten näher an Cunningham heran – an ihn und das Messer, das dort lag. Er sah die Blutspuren auf der matten Klinge. "Ich mein´ nichts." Er zog den rechten Ärmel seines Sweatshirts über die Hand. "Gar nichts, Sir." Plötzlich tauchte er ab und fasste nach dem Griff des Messers. Durch die dämmende Schicht des Stoffes, die dazwischen lag und vor verräterischen Spuren schützte, waren seine Finger etwas unbeholfen und hätten die Waffe beinah wieder fallengelassen, aber es gelang ihm, sie zu halten. "Und wenn ich doch was mein´, Sir, braucht Sie das nicht mehr zu interessieren."
"Was hast du vor?"
Der Handstreich kam zu schnell, um dem Wächter eine Chance zur Abwehr zu geben. Er schaute den Jungen so arglos an, wie wenn er eine Antwort auf seine Frage erwartete, selbst dann noch, als Darryl sein Werk bereits vollendet hatte. Erst als er die Flut heißen Blutes aus sich heraussprudeln sah, stieß Cunningham ein schmerzerfülltes Krächzen aus.
Darryl trat einige Schritte zur Seite, um nicht im Blut zu waten. Ohne offensichtliche Regung beobachtete er Cunninghams Sterben. Der Schnitt an dessen Kehle war grauenhaft tief. Wenn der Schädel des Mannes nach hinten wegkippte, klaffte er auf wie ein zweiter grinsender Mund ohne Zähne und spie Darryl leise blutige Laute entgegen. Der Mörder konnte das Blut hören, das auf den Boden klatschte, es bespritzte die Wand und die staubigen Möbel, die in der Nähe standen. Cunningham röchelte und umklammerte mit beiden Händen seinen Hals, als wollte er die Wunde notdürftig versiegeln. Schließlich kippte er wie in Zeitlupe zur Seite weg und stürzte in die Lache seines eigenen Blutes. Seine fetten Beine zitterten haltlos und trampelten einen unsinnigen Code gegen einen alten Schreibtisch, der ins Wanken geriet. Die Panik in seinen Augen – große, weiße Schlachtviehaugen – war greifbar, und für den Bruchteil einer Sekunde empfand Darryl ein tiefes Mitgefühl. Aber er redete sich ein, dass für jemanden, der die Tat nicht nur begangen, sondern von ganzem Herzen gewollt hatte, kein Gefühl heuchlerischer sein konnte als Mitleid. Das war etwas für morgen, vielleicht für schlaflose Nächte, jetzt jedoch war es besser, fühllos zu bleiben bis auf den Grund seiner Seele.
So wartete Darryl geduldig, bis Cunningham sein Leben mit einem tiefen Brummen, das aus dem geöffneten Hals drang, aushauchte. Dann beugte er sich vorsichtig über den Leichnam, der nach Todesangst stank, und schnitt mit dem Messer die Gürtelschlaufe entzwei. Mit der Klingenspitze hievte er den Schlüsselbund in die Höhe, wischte ihn am sauberen Ärmel von Cunninghams Uniform ab und steckte ihn in seine Hosentasche. Das Messer ließ er achtlos fallen.
Ein letzter prüfender Blick noch auf den Leichnam, in dessen aufgerissenen Augen noch immer viehische Panik und tiefer Schmerz zu lesen waren, aber Darryl konnte nicht behaupten, dass der Anblick irgendetwas in ihm rührte – mit Ausnahme der befriedigenden Gewissheit, es geschafft zu haben.
Ganz nach Darryls Vermutung war Fredrics Zusammenbruch in der Zwischenzeit von beinah allen Bewohnern der Verwahranstalt bemerkt worden. Die Möglichkeiten der Kommunikation schienen bemerkenswert gut zu funktionieren. Als Darryl sich zu dem murmelnden und abenteuerliche Thesen aufstellenden Gewimmel hinzugesellte, war er einer der Letzten.
"Was ist geschehen?", fragte er einen ständig nach altem Schweiß riechenden Typen namens Trump.
"Irgendetwas mit Cunningham", erklärte Trump bereitwillig und deutete auf Fredric. "Aber der will nicht so recht mit der Sprache raus. Er sagt, es wäre was Schreckliches mit Cunningham geschehen."
"Aha", murmelte Darryl und gab sich keine Mühe, sonderlich überrascht zu tun. Trump war niemand, an dem er sein Talent verschwenden wollte. Darryl spürte das Gewicht des Schlüsselbundes in seiner Hosentasche. Das euphorisierende Gefühl, dass er Country House jederzeit verlassen konnte, reizte ihn zum Lachen, und er musste an Dinge denken, die ihm nicht behagten, damit es ihm nicht entschlüpfte. Sicher, man würde ihn nach seiner Flucht suchen, aber das bereitete ihm kein Kopfzerbrechen. Er kannte mehr Möglichkeiten zum Unterschlüpfen, als er ausschöpfen konnte, und das war ein beruhigendes Gefühl.
Darryl stellte sich auf die Zehenspitzen, um Fredric zu sehen. Für einige Sekunden gelang es ihm, bis erneut Schultern und flatternde Haarsträhnen ihm den Blick verwehrten. Das Bild, das Darryl gesehen hatte, überraschte ihn nicht: Der Junge kauerte dort vorn am Boden und nahm nichts wahr von dem, was um ihn herum geschah. Vermutlich würde selbst die Neuigkeit, dass Cunningham nicht nur verletzt war, sondern tot und ausgeblutet wie ein Stück Vieh am Boden des Möbelarchivs lag, keine sichtbare Erregung in ihm auslösen. Die Verschlossenheit, die er an den Tag legte, wurde im gleichen Maße unnachgiebiger, wie das Verhör durch die Wärter, die ihn umstanden, an Ruppigkeit gewann.
"Es hat keinen Sinn", sagte da vorn schließlich Miller, der Wärter, der zuerst auf Fredric aufmerksam geworden war, "der erzählt uns nichts. Suchen wir nach Cunningham."
"Irgendwo muss er ja sein", sagte ein anderer.
"Was, glaubst du", wandte Trump sich an Darryl, während mehrere Suchtrupps aufgestellt wurden, "ist mit Cunningham geschehen? Also, ich hab´ das Gefühl, es hat ihn erwischt."
"Erwischt?", sagte Darryl. "Du meinst, er könnte..."
"Ja", zischte Trump, "das mein´ ich. Dass er tot ist, mausetot."
"Und Fredric soll ihn umgelegt haben?"
"Warum nicht? Verrückt genug wär´ er."
Darryl zuckte mit den Schultern. "Cunningham täte mir nicht Leid."
"Mir auch nicht."
"Der war mir nie geheuer."
"Mir auch nicht", sagte Trump mit wachsender Begeisterung. "Meinetwegen kann der ihn abgestochen haben."
"Hm", murmelte Darryl, "vielleicht hat er es ja getan."