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Countdown
„Das war es jetzt Bürschchen“, höre ich Big Honk sagen, während er den kalten Lauf seiner Neunmillimeterkanone an meine Schläfe hält, „ich zähle jetzt bis zehn, dann sagst du mir, wo das grüne Auge ist. Eins...“
Wenn ich das nur wüsste. Ich versuche meine Angst zu vergessen, will die letzten Sekunden meines Lebens nutzen und gehe alles noch einmal durch. Bert Kämpfer, der Schmalhans und ich fahren zum Juwelier – als wir ankommen, stürmen der Schmalhans und ich in den Laden, während Bert Kämpfer im Wagen wartet und den Motor laufen lässt. Der Schmalhans macht, was er am besten kann, ballert in die Luft und brüllt wie ein brunftiger Bulle, sodass die wenigen Menschen im Verkaufsraum des Juweliers sich voller Panik zu Boden werfen, ohne sich darum zu kümmern, dass ich über den Tresen mit den Rolexuhren springe, die Glastür zur Vitrine mit den Brillianten aufsprenge, trotz des Explosionsqualms zielsicher hinein packe und mir das grüne Auge – eine handtellergroße Goldbrosche mit Smaragden und Brillianten, so groß wie Gänseeier – schnappe, um es sofort in den...
„Zwei“
...in den hellblauen Wäschesack zu stecken. Dann ballert der Schmalhans noch ein paar neue Löcher in die Stuckdecke, und wir stürmen aus der Bank, rennen bis zum Auto, wo Bert Kämpfer wartet, dem ich im vollen Lauf durch das geöffnete Fenster den Wäschesack mit dem grünen Auge zuwerfe, den er sofort hinter sich in den Laderaum des Kleinrasters wirft, worauf er nur noch wenige Sekunden warten muss, bis der Schmalhans, der früher mal Koch gewesen war, als er noch nicht für Big Honk und seine Familie gearbeitet hatte, und ich auf...
„Drei“
...und ich auf die Rückbank des Wagens springen. Bert Kämpfer tritt das Gaspedal bis zum Anschlag durch, und der Kleinlaster, den er von der Wäscherei seines Schwager Hein Brückner ausgeliehen hat, weil der ihn sowieso seit vier Wochen und auch für die nächsten achtzehn Monate nicht braucht, da die Polizei seinen Laden hat hochgehen lassen, in dem statt schmutziger Wäsche schmutziges Geld gereinigt wurde, dieser weiße Kleinlaster beschleunigt unter Bert Kämpfers Bleifuß aus dem Stand so stark, dass wir alle...
„Vier“
...dass wir alle fest an unsere Rückenlehnen gepresst werden. Bert Kämpfer biegt auf die Bundesstraße ab, und wir lösen uns langsam wieder von den Rückenlehnen, als ich eine Polizeisirene höre, die schnell lauter wird, in einem schrillen Crescendo anschwillt, bis eine Druckwelle entsteht, weil der Polizeiwagen an uns vorbei in Richtung Tatort fahrt, und die Sirene leiser und dumpfer werdend mit sich nimmt, sodass wir sie fast nicht mehr hören, als der Wagen mehrmals ruckt, sodass ich schon Angst bekomme, dass der Motor ausgeht, bis Bert Kämpfer rechts in den Wald abbiegt, wo wir auf einem Wanderparkplatz halten und...
„Fünf“
...und den Wagen wechseln wollen. Wir steigen aus, gehen zum Heck des Kleinlasters, ich öffne die Tür zum Laderaum und reiße voller Verwunderung meine Augen auf, überrascht von zwei Dutzend hellblauen Wäschesäcken, die mir entgegen purzeln und die alle gleich aussehen – hellblau nämlich – und von denen nur einer...
„Sechs“
...nur einer Big Honks grünes Auge enthalten kann. Der Schmalhans beginnt sofort wütend zu brüllen, und es fehlt nicht viel, dass er uns durchlöchert, wie zuvor die Decke des Juwelierladen, während Bert Kämpfer und ich so schnell wie möglich die Säcke aufreißen, in denen aber nur schmutzige Wäsche ist – vor allem Unterwäsche, aber auch einige Handtücher –, bis wir aus Richtung der Bundesstraße eine Polizeisirene hören, die immer lauter wird und dann abbricht, weil die Bullen sie abstellen, als sie in den Waldweg einbiegen, weil...
„Sieben“
...weil sie uns schnappen wollen. Wir greifen alle drei nach den letzten Wäschesäcken, die wir noch nicht durchsucht haben, weil wir glauben, dass in einem davon das grüne Auge sein muss, und rennen in den Wald, während die Bullen sich nicht so recht trauen, auf unseren Wagen zuzustürmen, weil sie glauben, dass noch...
„Acht“
...dass noch einer von uns drinnen ist und sie mit Blei empfängt. Nach ungefähr zwei Kilometern – die Stimmen der Bullen verlieren sich im Dickicht hinter uns – rutscht Bert Kämpfer mit seinen Gummistiefeln auf dem glitschigen Laub aus und fällt der Länge nach hin, sodass der Schmalhans und ich ihn an beiden Armen hochreißen, ihm die Wäschesäcke, die er verloren hat, wieder in die Hände drücken und weiterrennen, bis wir unser zweites Auto finden, einen Leichenwagen, an dessen Steuer wie verabredet Frankie der Stecher sitzt, um uns...
„Neun“
...um uns zu Big Honk zu fahren. Wir springen in den Fond des umgebauten Leichenwagens und lassen uns zu Big Honk fahren, der uns auf seinem Privatgolfplatz erwartet – auf dem Grün von Loch siebzehn – und der zuerst noch gut gelaunt ist, was sich aber schnell verflüchtigt, als er merkt, dass alle unsere Säcke nur schmutzige Wäsche enthalten, und weil er aus mir heraus bekommen will, wo sein grünes Auge ist, befiehlt er Frankie dem Stecher, den Schmalhans zu erschießen, was der auch macht, wobei er unnötigerweise fast sein ganzes Magazin in den Schmalhans pumpt, bis die Leiche wie von Schlägen getrieben in einem der gefürchteten Bunker des Golfplatzes von Big Honks liegt, der seine Neunmillimeterkanone an meine Schläfe hält und sicher gleich abdrücken wird, wenn mir nicht sofort einfällt, wo wir das Geld verloren haben und was an der Geschichte faul ist.
„Zzz...“
Und in diesem Moment, in dem Big Honk mit einem Zischlaut den Anfang der letzten Zahl markiert, die ich in meinem Leben hören soll, in dem er die Zunge an seine vordere Zahnreihe und den Zeigefinger an den Abzug seiner Waffe legt, fügten sich die Ereignisse in meinem Kopf zu einem sinnvollen Ganzen zusammen. Wie Standbilder von einem Hollywoodfilm sehe ich alle Ereignisse noch einmal vor mir. Der Juwelier und Hein Brückners Wäschelaster. Die Bullen und das Rucken des Wagens. Die Wäschesäcke und noch mehr Bullen. Der Schmalhans und ich, wie wir Bert Kämpfer im Wald hoch helfen. Und schließlich der Leichenwagen, der uns zu Big Honk führt. Alle Bilder sind gleichzeitig in meinem Bewusstsein, und mir wird klar, was mir die ganze Zeit schon eigenartig vorgekommen ist. Ich weiß jetzt, wo das grüne Auge ist. Und bevor Big Honk mir mein Gehirn wegballert, bevor Frankie der Stecher mich aufpumpt, wie den Schmalhans, hebe ich meine rechte Hand mit der Handfläche nach oben, öffne meinen Mund und sage: „Es ist hier, Big Honk!“
Und dann rede ich. Erzähle die Geschichte noch mal, wie sie wirklich war. Ich berichte von dem Kleinlaster, den Bert Kämpfer angeblich bei Hein Brückner geliehen hatte, und der Wäschesäcke enthielt, was ja eigentlich gar nicht sein konnte, weil Hein Brückner ihn seit vier Wochen nicht benutzen konnte. Ich berichte von Bert Kämpfer, dem ich wie verabredet den Sack mit dem grünen Auge zugeworfen habe, den er vor seinen Sitz fallen ließ, um einen anderen Sack mit großer Geste in den Laderaum zu werfen. Dann öffnete er den richtigen Wäschesack vor und unter sich heimlich mit der linken Hand und verstaute das Juwel in einem seiner Gummistiefel. Dafür musste er aber kurz den Fuß vom Gas nehmen, sodass der Wagen fast ausging. Ich erzähle, wie Bert Kämpfer mit dem stechenden diamantenbesetzten Schmuckstück an seinen Füßen im Wald kaum laufen konnte, sodass er hinfiel. Ich rede solange, bis Big Honk Frankie den Stecher anschaut, mit seinem Kinn auf seinen Neffen Bert Kämpfer zeigt, der anscheinend immer noch glaubt, diese Geschichte als Big Honks Verwandter als einziger überleben zu dürfen, womit er sich aber täuscht, denn Frankie der Stecher pumpt ihn mit dem Rest seines Magazins auf, bis er – passend zum Ambiente – achtzehn Löcher in der Brust hat und mindestens genauso tot ist, wie der Schmalhans, und Big Honk persönlich sich über ihn beugt, der Leiche die Gummistiefel auszieht, das grüne Auge herauszieht und sagt: „Gut gemacht, Bürschchen. Nächste Woche überfällst du die Sparkasse.„