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Cotton Woods
Ethan lässt seinen schwarzen Jeep nahezu geräuschlos auf dem Waldboden ausrollen. Ein Blick auf die Uhr zeigt ihm, dass er nicht länger als eine Stunde Zeit hat, es ist jetzt 23:15 Uhr. Durch einen kurzen Blick auf den Rücksitz vergewissert er sich, ob alles an seinem Platz ist. Mit einem viel zu lauten Geräusch öffnet er seine Fahrertür. Vorsichtig steigt er aus und schaut sich um.
Stille.
Das einzige Geräusch das Ethan in diesem Moment wahrnimmt, ist sein heftig schlagendes Herz. Um die unheimliche Stille zu durchbrechen und weil er weiß, dass ihm nicht viel Zeit bleibt, setzt er sich in Bewegung. Er öffnete die hintere Türe. Dann greift er nach seiner alten Schaufel und einem Maglight-Scheinwerfer auf dem Rücksitz. Schnell steckt er sich seine schwarze 9mm Smith & Wesson in die linke Hosentasche.
Wegen ihres Alters hatte er sie vor wenigen Stunden noch auseinander genommen und gründlich gereinigt. Lange war sie her, die letzte Benutzung; der letzte abgefeuerte Schuss aus dieser Waffe. Jetzt schaltet er den Scheinwerfer an. Ein gleißender Lichtkegel beleuchtet den Waldboden. So grell, dass Ethan erst einige Sekunden die Augen zusammen kneift, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Dann geht er ohne Zögern los.
Susan fährt über die einsame Landstraße Richtung Cotton Woods. Noch vor zwanzig Minuten lag sie in tiefem Schlaf. Als sie hörte, wie Ethan sich leise aus dem Bett, dann aus dem Zimmer schlich, beschloss sie, ihm zu folgen. „Alter, ich hab gar keinen Plan, was die da gemacht haben! Ich meine, die waren ja noch nicht mal zusammen! Ich bin voll abgedreht!“. Genervt schaltete Susan das Radio aus, wischt sich kurz die schweißnassen Hände auf ihren Oberschenkeln ab und zupft am Hosenstoff, der verschwitzt an der Haut klebt.
„Mensch, was geht ihr mir auf den Senkel mit eurem blöden Gelaber!“, denkt sie und schaltet genervt das Radio aus. Die weiten, ebenen Äcker weichen jetzt hohen Bäumen und die Straße wurde merklich holpriger und unwegsamer. Sie hat nun die öffentliche Route verlassen. Das Licht der Scheinwerfer beleuchtet die niedergefahrenen Sträucher und Pflanzen, die genau vor ihr liegen. Sie ist sich sicher, dass dieser Weg sie geradewegs zu ihrem Ziel führen wird.
Als Ethan den kurzen Weg zurücklegt, der zwischen seinem Wagen und seinem Ziel liegt, kommen Erinnerungen auf: Damals, als er mit seinem Kumpel Andy auf der Flucht durch die Cotton Woods war, da war es knapp. Von Hunden wurden sie durch die Woods gehetzt bis zur Erschöpfung. Hinter den Hunden die rufenden Bullen mit ihren unruhigen Lichtkegeln der Taschen-lampen, denen sie wie Haken schlagende Hasen auswichen, so gut es ging.
Wie er und Andy es geschafft hatten zu entkommen, das konnte sich Ethan immer noch nicht erklären. Es war einfach nur Glück gewesen.
Die Erinnerungen wecken seine Panik und sie treibt ihn an. Und dann ist er am Ziel. Zwölf Jahre sind vergangen, die Grabstelle ist ein bisschen zugewuchert, aber Ethan hat ein fotografisches Gedächtnis für diesen Ort. Er stellt seinen Scheinwerfer auf einen kleinen Fels, so dass er genügend Licht hat. Dann beginnt er zu arbeiten.
Bevor er die Schaufel das erste Mal in den Waldboden sticht, kitzeln ihn kleine Schweißperlen auf der Stirn, Angstperlen, Adrenalinperlen. Noch einmal blickt er sich unruhig um. Nur das Sirren des Scheinwerfers ist zu hören. Sonst nichts. Er beginnt sofort zu graben. Eine Schaufel nach der anderen. Die Zeit vergeht so quälend langsam, dass Ethan schon nach fünf Schaufeln denkt, er hätte die Arbeit von zwei Stunden hinter sich. Da! Ein Knacken!
Ethan hält inne. „Verdammt“, denkt er. Er sieht einen großen Schatten direkt hinter seinem Scheinwerfer und dieser Schatten bewegt sich. „Andy?“, ruft er unsicher, und „Hey! Andy! Wir können reden! Wir können uns die Beute teilen, jeder die Hälfte!“ Keine Antwort.
„O.k., das war’s! Verdammt, ich werde diese ganze Scheiße hier nicht überleben!Warum bin ich nicht vor Jahren schon hier gewesen? Wieso war ich so dämlich, den „Andy kommt aus dem Knast Tag“ abzuwarten? Dafür sollte mir jemand nachträglich den Arsch versohlen! Ich und mein scheiß blödes Versprechen, die Beute liegen zu lassen! Gepfiffen auf die Ehre. Was soll ich mit der Ehre, wenn ich meine Wanne mit Dollarscheinen füllen kann, wie der legendäre Dagobert Duck? Ich müsste ja bekloppt sein!“,
denkt Ethan.
Langsam bewegt sich der Schatten auf ihn zu. Wenn er jetzt nicht handelt, würde sein ehemaliger Partner ihn umlegen. So schnell er kann, zieht er seine Waffe und schießt in Richtung des Schattens. Eins, zwei, drei Patronen surren auf das Ziel zu. Ein dumpfes Geräusch, dann Stille.
Sein Herz pulsiert bis in seine Ohren, es macht ihn fast wahnsinnig. Er geht los, um nachzusehen. Das Maglight beleuchtet einen Körper, den er niedergeschossen hat. „Fucking Fuck!“, denkt er, setzt sich auf den Fels, auf dem vorher der Scheinwerfer stand, und ihm wird kotzübel: Er hat ein Reh erschossen.
Ethan braucht einige Minuten, um sich zu sammeln und dann macht er sich wieder an die Arbeit. Als ihm bewusst wird, dass er Andy nicht erwischt hat, gräbt er noch hektischer als vorher. Eine Schaufel nach der anderen, der Erdhügel wächst. Mit einem „Klonk“ stößt die Schaufel auf die erste Kiste.
Das metallische Grün blitzte an einer kleinen Stelle aus der Erde hervor. Ethan lässt sich auf die Knie fallen. Jetzt ist er ein Hund, der einen Knochen ausgräbt. Vor Anstrengung läuft ihm der Schweiß in die Augen, auf die Lippen und kitzelnd am Hals herunter. Es dauert nicht lange, da hält er die erste Kiste in den erdigen Händen. Erleichtert macht er sich daran, die Kiste zu öffnen.
„Frei! Frei für den Rest meines Lebens. Ich habe es tatsächlich geschafft!“ ruft er laut und vergisst alle Vorsicht.
Es war einfach für Susan, Ethan Carter zu finden. Als sie Ethans Jeep am Waldrand stehen sieht, schaltet sie Motor und Scheinwerfer aus und lässt ihren Wagen etwas abseits ausrollen. Mit dem festen Willen, auch das leiseste Geräusch zu unterdrücken, steigt sie aus dem Auto. „Du bist so dämlich, Ethan! Ich habe dir nie geglaubt, dass du die Finger von dem Geld lassen kannst. Du bist viel zu willensschwach. Du denkst wohl, du könntest mich einfach mal so sitzen lassen ohne einen Cent? Wenn du dich da mal nicht geirrt hast!“,denkt Susan und hockt sich leise in die Nähe des Erdlochs, in dem Ethan eine weitere Kiste sucht.
Nach einer weiteren Viertelstunde hat Ethan die zweite Kiste ausgegraben. Nun schon routiniert, sieht er schnell nach, ob die Beute vorhanden ist. Zwei Kisten prall gefüllt mit Scheinen. Ethan schätzte die Summe auf ungefähr zehn Millionen Dollar!
„Jetzt bloß nicht durch drehen! Ich werd‘ es ja wohl noch schaffen, ein paar Dollarscheine in den Jeep zu packen und abzuhauen! Mann, mach dir nicht so in die Hosen. Du Depp!“ spricht er zu sich selbst.
In diesem Moment hörte er ein Knacken hinter sich.
Ethan dreht sich hastig in seiner Grube um, und legt den Kopf in den Nacken.
„Susan!Was machst du hier? Oh mein Gott...“, Entsetzt starrt er sie an. Susan sieht vom Rand der Grube auf ihn herunter:
„Ethan, ich hab‘ nur noch eine Frage an dich: Wieso?“
„Susan! Hör mir zu...Susan!“
Aber Susan wartet nicht auf eine Erklärung. Sie beschließt, dass es ihr völlig egal ist, warum Ethan was und wann getan hat oder tun wird. Jetzt will sie nur noch die Dollars.
Sie greift blitzschnell an ihre hintere Hosentasche und hält plötzlich eine kleine, glänzende Waffe in der Hand. Ruhig richtet sie den Lauf auf Ethans Schädel. Ethan rührt sich keinen Millimeter.
Er wartet auf Susans Entscheidung.