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Cosimos Rückkehr
Die Eisenbahn fährt in Richtung Süden. Leicht nach vorne gelehnt, mit hängenden Schultern und unbeweglichem Gesicht betrachtet Cosimo die Landschaft, die vor seinem Fenster vorbeizieht. Beim Anblick der gewaltigen Felsmassen der Alpen beschleicht ihn das gleiche beklemmende Gefühl, wie vor 48 Jahren, als er die schneebedeckten Gipfel der Schweiz zum ersten Mal sah.
Damals, als junger Mann, wünschte er sich nichts sehnlicher, als aus der Enge seines kleinen sizilianischen Dorfes auszubrechen. Trotz der Bedenken seiner Eltern hatte er die Herausforderung angenommen, in die Fremde zu reisen und als Küchenhilfe in einer großen Stadt ein neues Leben anzufangen. Deutlich erinnerte er sich an die Aufregung und die Vorfreude auf sein großes Abenteuer.
Sein Blick fällt auf das schmusende Pärchen, das ihm gegenüber sitzt. Unaufhaltbar verdrängt das sanfte Gesicht seiner Barbara die Bilder der Erinnerungen an seine erste große Reise.
Barbara arbeitete als Lebensmittelverkäuferin in einem kleinen Geschäft, das er in der Funktion eines Getränkelieferanten, einmal pro Woche beliefern durfte. Er war schon einige Jahre in dieser Stadt und hatte sich bereits einen beachtlichen Wortschatz angeeignet. Mit seinem fröhlichen Wesen und seinem sympathischen italienischen Akzent hatte er schon manches Mädchen beeindrucken können. Als er damals das Lebensmittelgeschäft, vier Kisten Bier vor sich herschiebend das erste Mal betrat, stockte ihm der Atem. Schlank und langbeinig stand sie vor ihm, dunkle Locken umrandeten ihr Engelsgesicht und ihre blauen Augen strahlten ihn an. Ihm wurde sofort klar, dass sie für einander bestimmt waren. Mit dem Vorwand, seine Handschuhe bei ihr vergessen zu haben, betrat er gleich am nächsten Tag erneut Barbaras Laden. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er sie mit seinem Charme erobert hatte. Auch den Widerstand ihres Vaters, einem konservativen Bauern, der es beschämend fand, dass seine Tochter einen Italiener heiratete, konnte er erfolgreich bekämpfen.
Seine jungen Reisegefährten sind in Lugano ausgestiegen. Cosimo ist mit seinen Gedanken alleine, als der Zug die Grenze zu Italien passiert. Er wirft einen letzten Blick zurück in das Land, das seine zweite Heimat geworden war. Viele lieb gewonnene Dinge lässt er zurück. Besonders das kleine Häuschen auf dem Hügel, umgeben mit den von Barbara liebevoll gepflegten Rosenstöcken, wird er sehr vermissen.
Er war immer fürs Gemüse zuständig und belächelte ihre Liebe zu den Blumen. Cosimo arbeitete hart, um genug Geld für seine Familie zu verdienen. Barbara hingegen war für die Schönheit ihres Heims und für das Wohl ihrer drei hübschen und temperamentvollen Töchter zuständig. Trotz seiner Liebe zu seinen drei Mädchen, trauerte er manchmal heimlich seinem unerfüllten Traum von einem dunkellockigen, ernsten Sohn nach.
In Milano muss er umsteigen. Er verlässt seinen modernen Sitz im komfortablen Cisalpino-Zug und besteigt den Schlafwagen im ziemlich antiken Zug der italienischen Ferrovie dello Stato.
Jedes Jahr unternahmen sie diese Reise nach Sizilien, als ihre Töchter noch klein waren. Die ganze Familie zusammen nahm jeweils ein ganzes sechser Abteil in Beschlag. Damals waren die Züge noch äußerst unbequem und oft dauerte die Reise wegen eines Streiks der Bahnarbeiter dreimal länger als geplant. Zufrieden dachte Cosimo daran, wie er es trotz aller Schwierigkeiten immer geschafft hatte, seiner Familie die Reise angenehm zu gestalten. Wie ein Löwe kämpfte er mit dem Zugführer, bis dieser sich dazu herabließ, die Fahrt in Richtung Süden fortzusetzen, nachdem die Bahn über vier Stunden in einer verlassenen Gegend zwischen Florenz und Rom in der brütenden Julihitze stillgestanden war. Sara, seine jüngste Tochter, ist damals noch auf frische Milch angewiesen gewesen. Die bewundernden Blicke seiner Familie, als er aus der Auseinandersetzung mit dem streikenden Zugpersonal als Sieger hervorgegangen war, taten ihm gut. Selten genug war er für sie der Held. Meistens sahen sie ihn eher als strengen Patriarchen, obwohl er in seinem Herz alles andere als hart war. Aber sein Herz, das konnte er gut verbergen. Barbara war die einzige Person, die ihn richtig gekannt hat.
Während er seine Koffer verstaut, schaut er sich im neuen Zugabteil um. Sein Lieblingsplatz neben dem Fenster ist bereits besetzt von einer rundlichen Dame mit kurzem Haarschnitt und dicker Brille. Ihr gegenüber sitzt ein untersetzter Mann, der seine gesamte Aufmerksamkeit dem Corriere della Sera widmet. Die Zeitung verdeckt sein Gesicht, aber einige hervorschauende graumelierte Haare deuten darauf hin, dass der Mann ein Altersgenosse der Dame ist. Die beiden mittleren Sitze werden von einem Jüngling besetzt, der es sich bequem gemacht hat und seine abgelatschten Turnschuhe auf dem gegenüber liegenden Sitz platziert. Der Junge ist nicht sympathisch. Er hat Cosimo kaum gegrüßt. Aus den Kopfhörern seines Walkmans dröhnen schrille Töne. Seine flinken Finger gleiten unaufhörlich über die Tasten seines Handys. Den Blick starr auf die Nachrichtentexte geheftet, übersieht er die vielen schönen Dinge um ihn herum. Der Zug verlässt Milano und die rundliche Dame wärmt eine Portion Pasta auf dem Gaskocher. Neugierig betrachtet sie den alten Mann mit den tiefen Furchen auf der Stirn und den melancholischen Augen. Cosimo lehnt ab, als sie ihm einen Teller wohlriechender Pasta anbietet. Seine von Traurigkeit zugeschnürte Kehle würde ihm keinen einzigen Bissen erlauben. Barbara hatte sich immer über die Pastasucht seiner Landsleute lustig gemacht. Achselzuckend reicht die Dame den Teller an den Herrn hinter der Zeitung weiter, der offenbar ihr Ehemann ist. Cosimo ist froh, dass der Abend näher rückt und er sich bald auf seinem Liegebett ausstrecken kann. In seiner Zeit als Busfahrer hatte er sich angewöhnt, wenn immer es möglich war, früh schlafen zu gehen. Die unregelmäßige Arbeitszeit war oft sehr anstrengend und ermüdend für ihn.
Der Morgen ist angebrochen. Die verschlafenen Augen von Cosimo erkennen beim Blick aus dem Fenster das Meer. Wie schön es ist! Das Meer, dieser blaue Freund, launisch und geheimnisvoll, friedvoll und gefährlich.
Seine Töchter haben es auch geliebt, das Meer. Zu sehr um im Binnenland Schweiz glücklich werden zu können. Deshalb sind sie fort gegangen, eine nach der anderen, in warme, sonnige und ferne Länder. Keine einzige Tochter hatte dabei die Leere in Cosimos Seele erkannt. Auch in Barbaras Herz nisteten sich die Einsamkeit und die Traurigkeit ein, bis es letzten Winter zu schlagen aufhörte. Jetzt konnte sie immer bei ihren Mädchen sein. In seinen Träumen sieht er sie inmitten blühender Apfelbäume, in einem luftigen weißen Kleid, wie sie zärtlich mit ihm spricht und die Hand nach ihm ausstreckt.
Das Ehepaar in seinem Abteil ist auch schon wach. Die beiden unterhalten sich gedämpft, um den schnarchenden Jüngling nicht zu wecken. Kaffeegeruch steigt in Cosimos Nase. Sein sehnsüchtiger Blick auf die dampfenden Plastikbecher veranlasst die Dame, einen neuen Versuch zu starten, mit ihm Kontakt aufzunehmen. „Wir haben genug Kaffee in unserer Thermosflasche. Sie können auch einen Becher haben, falls Sie möchten.“ Zu köstlich riecht der Kaffee, als dass Cosimo das Angebot hätte abschlagen können. Es ist im bewusst, dass er der Dame damit das Recht erteilt, ihm Fragen zu stellen, um ihre Neugierde über den schwermütigen Reisegenossen zu befriedigen. Geduldig erzählt er ihr von seinem Leben in der Schweiz, von seiner verstorbenen Frau, von seinen Kindern, die ihr Leben fern von ihm verbringen und von seinem Vorhaben, in seiner Heimat Sizilien seine Ruhe zu finden. Sizilien, das Land seiner Kindheit und seines Alters. Es werde sich schon eine Nichte seiner annehmen, beantwortet er die besorgte Frage der Dame, die wissen will, wer sich wohl um ihn kümmern wird.
In Villa San Giovanni wird der Zug in die Fähre verschifft. Cosimo steigt die Treppen des großen Schiffes herauf und tritt aufs Deck. Wie immer auf seinen Reisen kauft er sich eine Arangina, ein Reisbällchen mit Hackfleisch und Mozzarella. Es ist überall bekannt, dass man nirgendwo so leckere Arangine kaufen kann, wie an Bord der italienischen Fähren. An die Brüstung gelehnt, lässt er sich die Spezialität auf der Zunge zergehen. Am Horizont waren bereits die Umrisse der Häuser von Messina ersichtlich. Der Rhythmus seines Herzens beschleunigt sich. Cosimos Ziel rückt näher. Müde ist er geworden auf seiner Reise und längst nicht mehr so kräftig wie damals vor 48 Jahren, als er in umgekehrter Richtung in eine ungewisse Zukunft gefahren war. Sein Stolz jedoch ist ungebrochen. Bald wird er erneut den Geruch seiner Erde atmen. Das Meeresrauschen wird ihn in den Schlaf wiegen und jeden Morgen wird er die Wellen begrüßen, die verspielt und geduldig die weißen Steine vor seinem Haus glätten. Die warme Sonne wird seine Seele erhellen und sie jubeln lassen. Der Wind des Südens spielt mit Cosimos weißen Locken und streichelt sanft sein lächelndes Gesicht.