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Corinna und die sieben Zwerge
Corinna und die sieben Zwerge
„Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen aus schwarzem Ebenholz hatte, und nähte.“
„Was für’n Holz?“ unterbricht mich Max. War ja klar, dass diese Frage kommen musste, denn wenn der fünfjährige Max, übrigens das Patenkind meiner Schwester Lydia, etwas nicht kann, dann Dinge stillschweigend akzeptieren, wobei die Betonung auf stillschweigend liegt.
„Schwarzes Holz eben.“, versuche ich ihm sinnloserweise zu erklären.
„Aber Holz ist doch braun.“, erwidert er und patscht dabei mit seinen schokoladenverschmierten Fingern entrüstet auf meine Biounterlagen.
„Dieses hier ist aber nun einmal schwarz“, fahre ich fort „und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rot im weißen Schnee so schön aussah (wie Blut im Schnee eben aussieht!), dachte sie bei sich: „Hätt‘ ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen.“ Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz und ward darum das Schneewittchen genannt.“
„Doofer Name!“
Wenigstens einmal bin ich seiner Meinung.
„Na, dann nennen wir Schneewittchen doch einfach Corinna.“, schlage ich ihm vor. Warum mir jetzt gerade ausgerechnet dieser Mädchenname einfällt, sei einmal dahingestellt.
Max ist einverstanden und selbst der Tod von Corinnas Mutter und den sprechenden Spiegel der Stiefmutter nimmt er ohne Zwischenfragen und Gemecker hin, also lese ich weiter.
An sich wollte und will ich heute Nachmittag ja etwas ganz anderes machen, aber dann ist Lydia, meine Schwester und Krankenschwester im was-weiß-ich-nicht-wievielten Ausbildungsjahr, um kurz nach zwei zu einem Notfall ins Krankenhaus gepiept worden. Eigentlich haben ja nur Ärzte so einen Pieper, aber Lydia ist auf ihrer Station (Anästhesie, gibt es sowas? Wenn ja, dann ist Ly da.) so unverzichtbar geworden, dass sie auch einen bekommen hat. Und so muss sie dann los, wenn dem Chefarzt langweilig ist, ein Notfall eintritt oder die Filtertüten alle sind.
Also, wie gesagt, kurz nach zwei, ich stimmte mich gerade mit Tiefkühlpizza und einer Mittagstalkshow auf der Couch auf einen arbeitsreichen Nachmittag mit José und Markus und einem Bioreferat ein, als Lys Pieper losging. An sich wollte sie sich heute um ihr Patenkind Max kümmern, aber das ging ja jetzt nicht mehr. Zu allem Überfluss sind unsere Eltern zur Zeit mit ihrem Kegelclub in der Türkei, was dazu führte, dass ich mich gezwungenermaßen („Karsten, Du hast selbst gesagt, ich hab‘ noch einen gut bei Dir!“) bereit erklären musste, Max vom Kindergarten abzuholen und so lange auf ihn aufzupassen, bis Ly wieder da ist.
Dass in dem Moment, als ich zusagte, der Belag von meiner Pizza auf die Fernsehzeitung rutschte und dann mitsamt dieser auf den Kaschmirteppich fiel, hätte mir ein warnendes Zeichen sein sollen – aber in diesem Moment war Lydia auch schon weg.
Also holte ich Max am Kindergarten ab. Natürlich war ich, da ich nicht genau wusste wann, viel zu früh, was dazu führte, dass ich aufgefordert wurde, mich doch noch einen Moment dazuzusetzen und auf viel zu kleinen Liliputanerstühlen sitzend den „10-Elefanten-Tanz“, den „Regentropfensong“ und das „Abschlußlied“ mitzumachen. Gott-sei-Dank hat diese Peinlichkeit außer zwei Kindergärtnerinnen, zwanzig Hosenscheißern zwischen 3 und 6 und einigen Müttern niemand gesehen.
„So’n Quatsch!“ holt mich Max aus der Vorgeschichte in die Gegenwart zurück, deutet auf ein Bild von Schneewittchen/Corinna und meint „Boah, die soll schön sein? Da ist Tante Jutta (eine seine Kindergärtnerinnen) aber viel schöner!“
Ich halte es für unnötig diesem fünfjährigen strohblonden Dreikäsehoch zu erklären, dass so ziemlich jeder weibliche Mensch (abgesehen von Sarah) schöner aussieht als diese schlecht-gemalte Figur in einem Märchenbuch. Also fahre ich fort:
„Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von Stund‘ an , wenn sie Schneewittchen erblickte ...“
Nachdem er dann auf der Fahrt zu uns sämtliche Programme im Speicher meines Autoradios auf holländischen Verkehrsfunk umgestellt hat, hab ich ihn die Treppe raufgeschleift, ihn vor den Fernseher (Teletubbies) gesetzt und meine alte Playmobilkiste aus dem Keller hochgeschleppt. Deren Inhalt hat dann Max kurz entschlossen auf den Wohnzimmerteppich gekippt, aus dem ich Minuten vorher mühsam die Pizzabelagflecken entfernt hatte, und hat begonnen mit den Playmo-Figuren, dem Fort und dem Piratenschiff zu spielen – für ungefähr fünf Minuten. Danach ist kurzfristig wieder Fernsehen angesagt gewesen (Andreas Türck – Mein Haustier nach der Geschlechtsoperation oder sind Goldhamster katholisch?) was circa 7 Minuten anhielt. Danach hörte ich ihn aus dem Wohnzimmer zu mir ins Eßzimmer herübertapsen.
„Du, Ka. (Er nennt mich übrigens so wie mein Auto.) Lies mir ein Märchen vor!“
Alles was dieses Kind sagt ist entweder eine Frage oder ein Befehl, er sollte eine Karriere bei der Bundeswehr in`s Auge fassen.
„Nein!“, hab ich dann unklugerweise gesagt und dann hat Max mit seinem Gebrüll losgelegt, das wie eine Mischung aus Mariah Carey und Fliegeralarm klingt und man ohne Oropax nicht allzu lange ertragen kann. Also lese ich ihm jetzt Schneewittchen, pardon Corinna und die sieben Zwerge vor, obwohl ich mich eigentlich um unser anstehendes Bio-Referat-Krisen-Meeting kümmern sollte, das heißt den Computer anschalten und im Internet nach Seiten zu unserem Thema Ausschau halten. Aber wenn ich jetzt mit dem Lesen aufhöre, geht das Geschrei wieder los.
„Was ist denn mit Corinnas Papa, dem König?“ holt mich Max auch aus dem zweiten Flashback zurück, während er gekonnt meine Bioblättersammlung von der Tischkante schiebt. „ Der merkt doch, wenn Corinna nicht da ist?“
„Ähm ... tja ...“ Ich werfe einen Blick auf das bisher Gelesene. Berechtigte Frage, noch ein Blick. Da steht nix von Corinnas Papa.
„Also ...“
Die Türklingel rettet mich. Draußen steht José, mein portugiesischer Leidensgenosse.
„José, warum hat Schneewittchens Vater nicht gemerkt, dass Schneewitchen weg war?“, bekommt er von mir anstatt einer Begrüßung an den Kopf geworfen.
José betrachtet mich prüfend einige Sekunden, dann meint er: „Karsten, hast Du irgendwas geraucht, oder so?“ Ich erkläre ihm kurz die Situation, während wir langsam ins Eßzimmer zurückkehren, wo Max bereits Schneewittchen/Corinna mit meinem Edding Schnurrbart und Sonnenbrille gemalt hat. Ich stelle die beiden kurz einander vor, José begutachtet meine Unterlagen auf dem Fußboden und Max macht da weiter, wo er aufgehört hat:
„ Wo ist Corinnas Papa?“
„Schneewittchen heißt also Corinna, aha!“ José wirft mir einen wissenden, verschwörerischen Blick zu. Immerhin waren er und Corinna in der siebten Klasse mal drei Wochen zusammen.
„Er fand Schneewittchen blöd.“, verteidige ich mich.
„Also“ beginnt José „ Corinnas Papa, der König, der ... der war gerade verreist. Der hat mal die anderen Könige besucht. Zum Beispiel den König von Portugal.“
So richtig überzeugt ist Max noch immer nicht, aber er hat im Moment erstmal andere Sorgen.
Jetzt will er nämlich Kekse haben, und zwar sofort, also geht das Gebrüll wieder los : „ICH WILL KEKSE!“ Das Max vor knapp zweieinhalb Stunden zu Mittag gegessen hat ist dabei egal, dieses Kind hat immer Hunger. Wenn er nicht erst fünf wäre, könnte man nach einem Tag mit Max glatt meinen, er alleine wäre an der Unterernährung der gesamten dritten Welt mitschuldig.
Da wir keine Kekse mehr haben, wie gesagt meine Eltern sind im Urlaub und ich ernähre mich seit einer Woche nur von Cornflakes und Tiefkühlpizzas, versuchen José und ich, Max mit Salzstangen und einem Glas Orangensaft zu beruhigen.
Und während er nun zufrieden seine Salzstangen mampft, denkt er angestrengt nach und meint dann mit vollem Mund zu seinem portugiesischen Tischnachbarn: „ Wieso hat Corinna dann nicht ihren Papa zusammen mit den Zwergen gesucht?“
José lässt ein überzeugendes „Äh“ erklingen. Die Türklingel rettet ihn.
Ich öffne die Tür, draußen steht Markus, schlecht rasiert wie immer, mit einem Rucksack über der Schulter.
„Markus, warum ist Schneewittchen nicht zu ihrem Vater gegangen?“
„Ist das hier Trivial Pursuit, ich dachte wir machen Bio?“ fragt mich Markus verdutzt, während im Hintergrund Max wegen was auch immer versucht das Hohe C zu treffen.
Ich kläre Markus schnell über den Krankenhaus-Pieper, Max, Schneewittchen und Corinna auf und Max kräht dabei unvermindert weiter. Noch zwei Stunden dieses Kind und ich habe entweder für den Rest meines Lebens Tinitus oder heute Abend einen Hörsturz.
Nachdem José und ich Max dann gefragt haben, warum er denn gebrüllt habe, und ihm wie es scheint keine sinnvolle Antwort einfällt, mischt sich Markus ein („Lass mich mal, ich kann gut mit Kindern!“) und überredet Max dazu, ein bißchen mit dem Plastikfort, Soldaten und Indianern zu spielen.
Wider erwartend scheint dieses Manöver zu glücken und Max beginnt in erträglicher Lautstärke das Spielzeug auf dem Wohnzimmerteppich auszubreiten. Also tragen wir unsere Biounterlagen zum Eßzimmertisch, ich hebe unter Rückenschmerzen (Scheiß Kindergartenstühle!) meine von Max auf dem Fußboden deponierte Federmappe auf und beginne mit unserer Bio- Experten (José: vier, Markus: fünf plus, ich: vier minus)- Referats-Gesprächsrunde.
„Birte kommt gleich vorbei, wir wollen noch weg, also lasst uns das schnell hinter uns bringen!“, ergreift Markus das Wort.
„Was für ein Thema hatten wir den eigentlich?“, fragt José.
„Ich dachte, Du hättest das aufgeschrieben?“, meine ich erstaunt zu José, da ich in Bio eigentlich außer Terminen für Kurstreffen und Klausuren nicht viel mitschreibe.
„Ich dachte, Markus hätte sich unser Thema aufgeschrieben.“, verteidigt sich José und schiebt den schwarzen Peter zu Markus.
„Ich? Wieso denn auf einmal ich? Naja, auf jeden Fall war es mit O am Anfang, Oxopytase oder so.“
„Also wenn ich das Wort geschrieben sehe, erkenne ich es auch wieder.“, meint José und schiebt sich die letzten Salzstangen, die Max übrig gelassen hat, in den Mund. Na prima!
Da haben sich ja, die Richtigen zusammengefunden!
Also nimmt sich José sein Biobuch vor um nach dem geheimnisvollen Begriff mit O zu suchen, Markus begibt sich an meinen Computer und sucht nach entsprechenden Seiten im Internet, und ich begebe mich ins Arbeitszimmer meines Vaters, wo die 18-bändige Brockhaus Enzyklopädie auf dem obersten Regal über dem Schreibtisch steht. Was man nicht im Kopf hat, steht eben im Lexikon!
Ich klettere über den Schreibtisch auf den Schreibtischdrehstuhl, stütze mich mit einem Bein an dem Readers Digest-Regal ab und taste mich mit der linken Hand zum Band 12 (O – Pe) vor, während meine rechte Hand an der Vorhangstange Halt sucht, aber nicht findet. Just in dem Moment, als ich, der Reinhold Messner des Arbeitszimmers den gesuchten Band hervorziehe, öffnet sich die Tür und Max stürmt herein.
„Ka, ich hab Hunger auf Fischstäbchen!“
„Was?“ Ich drehe ruckartig den Kopf. Zu ruckartig. Der Drehstuhl setzt sich in Bewegung, meine Hand gleitet ab, mein bisheriges Leben läuft zusammen mit einer Langnese- und Marlborowerbung wie ein Film vor meinem geistigen Auge ab. Rummms!
Als ich einige Sekunden später wieder in einer recht verkrümmten Position auf dem Fußboden zu mir komme, könnte ich schwören, das mindestens zwei Rippen, das komplette Rückenmark und ein Teil der Wirbelsäule fehlen. Da niemand in der Zwischenzeit meine Umrisse mit Kreide nachgezeichnet hat, scheine ich noch zu leben. Also rappele ich mich unter großem Stöhnen und noch größeren Schmerzen auf, nehme den Brockhaus-Band 12 (O-Pe), der aufgeschlagen auf dem Schreibtisch gelandet ist, und hinke in den Flur.
Die Haustür klingelt, nein, die Türklingel läutet, denn ein Tür kann ja nicht klingeln, überlege ich mir, während ich, im Hausflur stehend, die Wand festhalte. Nach zwanzig Sekunden beschließe ich die Haustür nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu öffnen.
Aus dem Nebenzimmer ruft José: „Karsten, das Kind will Fischstäbchen und fragt, warum Schneewittchen/Corinna an dem vergifteten Kamm der Königin nicht gestorben ist.“
Ich rufe eine nicht ganz jugendfreie Antwort. Hoffentlich hat jemand Max die Ohren zu gehalten. Es läutet ein zweites Mal. Ich reiße die Haustür auf. Draußen steht Birte, die Freundin von Markus (25, Kfz-Mechanikerin – kleiner Scherz des Autors).
„Warum ist Corinna an dem vergifteten Kamm nicht gestorben, Birte?“, frage ich sie.
„Corinna ist nicht gestorben weil sie nur Haargummis benutzt und keine vergifteten Kämme. Außerdem ist sie gerade zum Badminton, ich hab sie nämlich eben noch gesehen.“, erwidert Markus` schlagfertige Freundin.
„Nicht Corinna, ich meine Schneewittchen!“
„Ich dachte ihr macht Bio.“
Zum dritten Mal innerhalb kürzester Zeit erkläre ich, warum meine Schwester weg musste, warum ein Kindergartenkind unsere Wohnung auf den Kopf stellt, warum Schneewittchen so heißt wie ein blondes Mitglied unserer Jahrgangsstufe, und ich so komisch gehe.
Als ich mit Birte das Eßzimmer betrete, haben alle unsere Biounterlagen einen leichten Gelbstich, dafür ist Max Glas Orangensaft nun fast leer.
„MAAAAAAX!“ Wieso ich, warum immer ich? Warum lässt mich Ly mit einem Kind allein, dem selbst Mutter Theresa und Mahatma Gandhi nach einer Stunde eine scheuern würden.
Nachdem mir dann Birte (Pädagogik-LK) erklärt hat, dass ich doch ein kleines, zartes Geschöpf nicht so anbrüllen kann, kommt das kleine, zarte Geschöpf herein und lässt uns wissen, das Playmo blöd sei und er statt dessen lieber ein Malbuch haben wolle.
Ich hab kein Malbuch, also gebe ich ihm Markus Geschichtsbuch in schwarzweiß zum bunt anmalen. Danach gehe ich in mein Zimmer zum Besitzer des besagten Buches, um zu schauen, wie weit er inzwischen im Internet vorgedrungen ist. Das, was er ganz interessiert auf dem Bildschirm studiert, sieht nicht gerade wie Biologie aus, sondern mehr wie die Homepage des 1.FC Kaiserslautern. Hier könne man, so erklärt er mir begeistert, neben diversen Fanartikeln auch Fußballschals des 1.FCK mit seinem eigenen Namen und den Unterschriften aller Spieler der Reservemannschaft 92/93 für nur 90 Mark bestellen.
Ich bitte Markus seine Suche auf biologische Themen mit O zu beschränken und setze mich mit Brockhausband 12 an den Eßzimmertisch, während José sich von Max zum Fischstäbchenbraten überreden lässt, die Max irgendwo in den Untiefen unseres Gefrierschranks hinter Tonnen von selbstgemachter Brombeermarmelade entdeckt hat.
Dann wollen wir doch mal sehen: Offizium, Obduktion, Obedienz, Opodeldok, Ornithologie, Ökumene, Oberflächenspannung, Osmologie, Oberkotzau, Okkupation ...
„Was hat denn die Frau da Komisches an?“, meint Max, der Malbuchkünstler und betrachtet fröhlich glucksend eine Seite aus dem Geschichtsbuch sehr kritisch, wo, wie ich sehen kann, eine nicht ganz jugendfreie Handskizze zu sehen ist. Birte nimmt Max das Buch hastig weg. Direkt danach muss sich Markus, der gerade die Wetterdaten von Grönland auswertet, zum Thema „Frauendiskriminierende Zeichnung in seinem Geschichtsbuch“ äußern. Er beteuert unschuldig zu sein und wird aus Mangel an Beweisen frei gesprochen.
Ich halte diese Darstellung auf Seite 52 direkt unter dem deutschen Angriff auf Polen für außerordentlich gelungen, außerdem kenne ich den Künstler persönlich. Herr Foggenreuther, unser Kunstlehrer wäre, im Gegensatz zu Birte, stolz auf Markus gewesen.
Ostrakoden, Obermoschel, Oberon, Oestrogene, Oszillation, Oberschlesien, Ovarium ...
Max lässt uns alle wissen, dass er gedenkt, jetzt die Toilette aufzusuchen. Dem Herrn sei auf ewig Dank für diese Information!
Okkasionalismus, Ontogenie, Oblate, Okklusivpessar, Otobafett, Oktan, Obstetrik
Obstetrik (Begriff aus der Biologie) ...
Das könnte es sein, Obstetrik.
Es klingelt an der Haustür.
„Weiß zufällig jemand, ob Obstetrik was mit Genetik zu tun hat?“ frage ich alle die mich hören können.
Weder José, der mit zwölf widerspenstigen Fischstäbchen kämpft und eine halbe Flasche Olivenöl in die Pfanne gekippt hat, noch Birte, die Markus‘ andere Bücher auf schändliche Zeichnungen überprüft (ich würde ihr nicht raten, sein Relibuch zu kontrollieren, wenn sie keine Herzattacke riskieren will), noch Markus der zwar Obstler aber keine Obstetrik kennt, können mir helfen.
Ich öffne die Haustür. Draußen steht ein mir unbekannter Mann mit Koffer.
„Wissen Sie was Obstetrik ist?“
„Was?“ Ein Gesicht wie ein Fragezeichen.
„Oder wissen sie was mit Schneewittchens Vater passiert ist?“
„Äh ...“ Er schaut sicherheitshalber noch mal auf den Namen an der Klingel, dann ist ein Teil seiner Selbstsicherheit wieder da. „Foiler mein Name, Piano Foiler & Dittgen, ich sollte hier ein Klavier stimmen.“
Ich erinnere mich dunkel daran, dass meine Eltern vor ihrem Urlaub etwas von Klavierstimmen erzählt haben, also führe ich ihn ins Wohnzimmer. „Ich glaube, das ist ein´s“, meine ich, da ich mich mit Musikinstrumenten nicht so furchtbar gut auskenne und deute auf den Gegenstand mit den vielen schwarzen und weißen Tasten und den drei Pedalen (Gas, Bremse, Kupplung?), den ich sonst nur aus amerikanischen Cartoons kenne, wo er meist aus dem zwölften Stock eines Hochhauses auf irgendjemanden drauffällt. Ich denke an Max, der gerade von der Toilette kommt, und mir kommt eine Idee in den Sinn, die weder Max, noch der Klavierstimmer, noch der Kinderschutzbund in Ordnung finden würden. Ein häßliches Grinsen erscheint auf meinem Gesicht, das erst erlischt, als sich mein kranker Rücken wieder meldet, wobei ich fast über das Piratenschiff auf dem Wohnzimmerteppich falle.
José bekommt beim Geruch von einem halben Liter dampfenden Olivenöl einen Hustenanfall und reißt erst einmal alle Fenster auf, während Max mit drei abgewickelten Klopapierrollen im Schlepptau und einem zufriedenen Grinsen, als hätte er gerade Kuwait besetzt, ins Wohnzimmer zurückkehrt.
Der Klavierstimmer mustert uns mit einem sehr sehr skeptischen Blick, macht sich mit Sicherheit ein paar Gedanken über diese seltsame WG, und beginnt dann im allgemeinen Chaos das Klavier zu stimmen. Ich schicke ein paar Gebete mit der Aufschrift „dringend“ Betreff: Baldige Rückkehr meiner Schwester, an den Chef nach oben und blättere weiter im Brockhaus: Oleander, Ochronose, Ochsenfrosch, Ödipus, Oleum, Offenbarungseid, Oligochäten, omnipotent, Oxydoredukasen...
„KAAAAAAAAAAAAAA!“ (Das bin ich).
In der Hoffnung, das Klavier sei beim Stimmen unglücklich in Richtung Playmo-Pizzaflecken-Kashmirteppich umgekippt eile ich ins Wohnzimmer. Alle anderen scheinen ungefähr das gleiche gedacht zu haben. Markus, mit einem Ausdruck der afghanischen Nationalhymne in der Hand, José, mit zwölf Topflappen und einer Pfanne voller goldbrauner Fischstäbchen, Birte, mit Markus‘ Relibuch in der Hand, bei dessen Anblick ihm der Schweiß schon auf der Stirn steht, und der Klavierstimmer über das offene Klavier, oder heißt es Piano, gebeugt stehen auf einmal im Wohnzimmer. Und uns allen steht eine stumme Frage ins Gesicht geschrieben: „Wie hat es José, angesichts seiner Olivenölvergiftung und der Rauchentwicklung in der gesamten Wohnung zu solch hervorragenden Fischstäbchen gebracht.“
Max, in einem Chaos aus Klopapier und Spielsachen stehend, ist das egal.
„Ka, sag ihm er soll mit dem Geklimper aufhören!“, meint der kleine Dreikäsehoch mit blauer Latzhose zu mir und deutet mit seiner kleinen Hand voller schwarzer Fingernägel auf Herrn Foiler. Da ich, wie alle anderen nicht reagiere, schaut er in Josés Pfanne und macht dann mit seinem Kindergartensopran weiter: „Jetzt will ich keine Fischstäbchen mehr, ich will Schokopudding! Die Spielsachen sind total alt, hast Du keine Power Rangers Außerdem will ich in den Zoo, Ly geht immer mit ihr in den Zoo und ich muss PIPI.“
Alle starren ihn an. Dieses Kind fordert und kritisiert mehr als jede Opposition der Welt. Und auf einmal bedauere ich alle seine Kindergärtnerinnen, seinen Kinderpsychologen und beschließe seine Eltern (Harald und Elfi) für den nächsten Friedensnobelpreis vorzuschlagen.
„Ich glaube, ich muss doch kein PIPI.“
Der Klavierstimmer lässt entgeistert eins seiner Stimminstrumente in die Untiefen unseres Klaviers fallen.
„Außerdem ist mir langweilig. Wer von euch liest mir ein Märchen vor?“
Wir schauen uns alle stumm an. Wir sind uns einig, der Entschluss steht fest und dann geht alles blitzschnell.
Als Lydia zwanzig Minuten später von ihrem Notfall wiederkommt ist alles in bester Ordnung. Der Klavierstimmer bearbeitet munter unseren Klimperkasten und scheint ihn gut durch den Klavier-TÜV zu bringen. Birte hat das Relibuch vergessen und liest statt dessen in meinem alten Märchenbuch „Schneeweißchen und Rosenrot“. José liegt auf dem Wohnzimmerteppich, mampft Fischstäbchen und spielt mit dem Piratenschiff und einem Sessel als Eisberg das Titanic-Drama nach. Markus diskutiert im Chatroom mit Nwankalele aus dem Senegal über die letzte Weltmeisterschaft und das Wetter, und ich schreibe ein Referat über Ochlokratie (griechisch, Massen- und Pöbelherrschaft als entartete Form der Demokratie), das zwar rein gar nichts mit Bio zu tun hat, dafür aber wesentlich interessanter ist. Im Fernsehen auf dem Kinderkanal läuft eine japanische Zeichentrickversion von „Schneewittchen“, die Max sich still und ruhig anschaut.
Als Lydia mit ihm nun doch noch in den Zoo gehen will, befreien wir Max dann auch schließlich schweren Herzens wieder von seinen Fesseln und Knebeln.