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Er starrte nach unten.
Auf den kleinen Körper, der dort auf dem feuchten Asphalt lag. Das unnatürlich kräftige Rot des Blutes verklebte sein gräuliches Gefieder. Wenn es nicht gewesen wäre, hätte man denken können, dass die Taube noch lebte.
Einen Augenblick lang sogar dachte er, dass sich der Brustkorb für einen Atemzug gehoben hätte. Doch der Vogel war tot.
Er hatte ihn sterben sehen.
Von innen. Von seinem Zimmer aus. An seinem Schreibtisch hatte er gesessen und sich die Bilder einer Zeitschrift angesehen, als ein plötzlicher, dumpfer Knall ihn dazu gebracht hatte, von seiner Beschäftigung abzulassen und aufzusehen. Das dumme Tier war gegen die Scheibe geflogen und hatte sich an dem kühlen Glas den Schädel gebrochen, um dann schwer wie ein Stein zu Boden zu fallen.
Allerdings nicht, ohne einen blutigen Fleck zu hinterlassen.
Daraufhin war er nach draußen gegangen. Aus Neugier. Er hatte bereits des Öfteren tote Tauben gesehen. Auf den Gleisen am Bahnhof. An der Autobahn. Oder einfach mitten in der Stadt. Ohne dass ein Grund für ihr plötzliches Versterben zu finden war. Keine hohen Häuser oder ausgelegtes Gift.
Doch diese Tiere hatten ihn nicht locken können. Nicht wirklich. Meist waren sie bereits dabei zu verwesen oder kurz davor, den Prozess abzuschließen. Das sah zwar interessant aus, aber ungeachtet dessen hatte ihn die Angst vor Keimen, dem unangenehmen Geruch oder irgendwelchem Getier, das den Kadaver als Lebensraum nutzte, abgeschreckt.
Aber hier war es anders.
Der Tod war erst vor kurzem eingetreten, der Leichnam noch frisch und einladend.
Also nahm er ihn hoch, bemerkte, wie warm und seidig er sich anfühlte, und trug ihn nach drinnen. In sein Zimmer. An den Schreibtisch.
Er legte die aufgeschlagene Zeitschrift beiseite, unter der sich eine Schreibunterlage aus Plastik befand. Unter der klaren Folie war eine Abbildung der Erde zu sehen. Die einzelnen Länder waren beschriftet und unterschiedlich gefärbt, damit man sie besser ausmachen konnte.
Behutsam, als ob der Vogel noch leben würde, legte er ihn auf diese Unterlage. Auf den Rücken. Die zerbrechlichen Schwingen ausgebreitet, als wolle er seinen Fund auf ein Kreuz nageln.
Dann ging er in das Wohnzimmer.
Dort gab es einen kleinen Schrank in dem seine Mutter ihre Sachen aufbewahrte. Gesammelte Post- und Grußkarten, Paketband, Geschenkpapier, Tesafilm, Gebrauchsanweisungen. All die kleinen Dinge, die man irgendwann einmal doch brauchte, aber sonst ständig überflüssig schienen.
Und ein Kästchen gab es. Aus Holz. Sehr alt, aus seiner Sicht. Dunkel und bereits blank poliert von den vielen Fingern, die es berührt hatten.
Diese Schatulle hatte er gesucht.
Er nahm sie und brachte sie in sein Zimmer, dessen Tür er vorsorglich abschloss. Er wollte nicht gestört werden.
Bevor er sich abermals setzte, holte er noch ein Handtuch aus dem Wäschekorb neben seinem Bett.
Dann ließ er sich nieder. Mit dem Etui und dem Stück Textil, die er beide neben die Taube legte, um dann das Kästchen zu öffnen. Darin befanden sich Nadeln aller Größe, Fäden in sämtlichen Regenbogenfarben, Fingerhüte, die an kleine Becher erinnerten, einzelne Flicken und eine filigran gearbeitete Schere aus Silber. Ihre Kanten waren geschliffen, als wäre sie neu, ihre Spitzen gefährlich scharfkantig.
Nachdem er einen weiteren Blick auf das aufgebahrte Tier geworfen hatte, nahm er mit sicherer Hand das zierliche Schneidewerkzeug aus der Nähschatulle und setzte dessen Spitze am unteren Torso der Taube an.
Das Metall glitt unerwartet leicht in den zerbrechlichen Körper. Als die nun entstandene Öffnung groß genug war, ließ er die Schere aufschnappen und führte eines ihrer Beine in das Loch ein. Er konnte genau erkennen wo sich das Werkzeug unter dem Gefieder befand. Wie es sich bewegte. Ganz langsam und sehr sorgfältig schnitt er. Bis nach oben. Dort, wo der Kropf saß. Dann zwei weitere Schnitte. Allerdings kürzer. Jeweils von der nun offenen Stelle ausgehend zu den Flügeln hin.
Ein Kreuz.
Danach klappte er die Haut beiseite, wobei er sie teilweise sehr vorsichtig von den Rippen lösen musste, mit denen sie locker verwachsen war. Das zur Seite geklappte Gewebe befestigte er mit Stecknadeln direkt am Körper.
Nun konnte er das Innere sehen. Allerdings störte das dominante Brustbein, so dass er es zwangsläufig mithilfe der Schere entfernen musste, um freie Sicht auf die Organe zu haben. Auf die Weichteile.
Diese glänzten feucht und völlig ebenmäßig. Wie Litschikerne, die man von ihrem süßen Fleisch befreit hatte und die so schnell stumpf wurden, sobald sämtliche Flüssigkeit von ihrer Oberfläche verdampft war.
Lediglich der Kropf wirkte schwammig und stach heraus. Er erinnerte ihn an einen alten Luftballon, den man in der Sonne hatte verschrumpeln lassen. Ganz nachgiebig und irgendwie grobzellig. Eher wie die Schale einer Litschi. Nur weicher.
Darunter war die Luftröhre zu erkennen. Von härterer, stabilerer Textur. Nicht wie ein Schlauch. Denn so hatte er sie sich immer vorgestellt. Dann kam das Herz, dass das Ziel der Luftröhre, die Lunge, teilweise überdeckte.
Es war furchtbar klein. Doch eindeutig als Herz zu erkennen. Mit einem spitz zulaufenden Ende, das die typische Form ausmachte.
Er beugte sich noch weiter vor, um alles genau betrachten zu können, und atmete tief ein. Es roch nach Wärme und nach dem schweren an Rost erinnernden Aroma von Blut. Es roch nach Leben.
Als er nicht länger widerstehen konnte, fuhr er mit dem Zeigefinger seiner linken Hand über das bloßliegende Innenleben der Taube. Es war noch nicht kalt. Das schützende Federkleid und die ummantelnde Haut hatten Temperatur im Inneren kaum sinken lassen. An einer Stelle, wo der an der Lunge angeschlossene Luftsack eingefallen war und sich nun ein winziger Hohlraum befand, ließ er seinen Finger in den Körper sinken.
Es fühlte sich heiß an. Und feucht. Ein wenig glitschig. Wie wenn man mit den Fingern den eigenen Mund erkundigt. Nur ohne die Bewegung der Zunge. Und enger.
Ein Organ drängte sich an das Nächstliegende. Als ob es Herdentiere wären, die sich so gegenseitig wärmten und vor lauernden Gefahren schützten.
Er erforschte noch eine Weile die Anatomie des Federviehs, bis es schließlich begann, zu erkalten und sich nun gar nicht mehr so angenehm anfassen ließ wie zuvor. So musste er notgedrungen von ihm ablassen und beschloss deshalb, es wieder ordentlich zu verschließen.
Nachdem er sich die Hände an dem bereitgelegten Handtuch abgewischt hatte, fädelte er ein wenig Garn in das Öhr einer Nadel und begann, die Schnitte mit fein säuberlichen Kreuzstichen zu verschließen.
Natürlich nicht, ohne zuvor die Stecknadeln entfernt und das Brustbein neu eingefügt zu haben.
Als er damit fertig war, betrachtete er sein Werk und war sehr zufrieden mit sich. Er würde nun eine geeignete Ruhestätte für das Tier suchen, das ihm seinen Körper so großzügig zur Verfügung gestellt hatte.
Die Taube wurde behutsam in eine Schuhschachtel gelegt, zusammen mit dem Handtuch, und nach draußen gebracht. Dieses Mal hinter das Gebäude. In den Garten, der im saftigsten und vielfältigstem Grün erstrahlte, wie es nur ihm späten Frühling der Fall war.
Nachdem er eine kleine Schaufel aus dem Geräteschuppen geholt hatte, begann er in dem Blumenbeet, das die Grenze zum Grundstück der Nachbarn markierte, ein kleines Loch zu graben. Ein klein wenig größer als die Schachtel, doch beinahe doppelt so tief. Schweiß lief ihm dabei den Nacken hinab und sammelte sich dort, indem sich einzelne Tropfen in den flaumigen Haaren verfingen.
Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis er fertig war, doch dann konnte er den provisorischen Sarg im Boden versenken und mit Erde bedecken.
Als er sich die schmutzigen Hände an der Jeans abgewischt hatte, griff er in seine Hosentasche und holte ein geknülltes Taschentuch heraus, das er liebevoll auseinanderfaltete, um den Inhalt betrachten zu können, bevor er, zärtlich wie ein Flügelschlag, darüber strich.
Irgendwann würde er jemanden finden den er dieses Geschenk machen konnte. Jemanden, für den jede andere Gabe nicht genügen würde. Jemanden, dem er alles geben wollte, was er besaß. Und noch viel mehr.
Doch dann würde es kein kleines Taubenherz sein. Denn auch wenn dies fähig war, einen Vogel am Leben zu erhalten, so würde es kaum für etwas so Großes wie seine Liebe genügen.
Fin