- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Containerschiff
Ich konnte ihr Inneres sehen. Wir waren jung, stark und verliebt. Grauer Sand unter den Füßen, am Grollen des Meeres entlang. Unser erster weiter Urlaub. Mit dem Flieger. Ganz weit weg, wir ganz allein. Wie wir es uns für das Ehepaar ausgemalt hatten, das wir werden wollten. Wir waren ja fast noch Kinder gewesen, als wir unsere Liebe entdeckten. Als ich sie das erste Mal umarmt hatte, waren die Haare auf meinen Armen noch blond. Wir hatten so viel Glück. Es war frisch und die Wellen glänzten. Das Städtchen viel bunter, wacher als die Natur. Wir gingen Hand in Hand, dachten über Kinder nach.
Wo der Strand anstieg zu Beton, baute man auf für das Frühlingsfest. Buden und Bühnen, Girlanden und Masken, Plastik und Blech. Ernst gemeinter Kitsch. Segeltuchplanen wellten sich am Gestänge der halbfertigen Bauten. Sie drückte meine Hand und wies hinaus aufs Meer. Weit draußen war ein riesiges Containerschiff gegen weiches Blau zu sehen. Lautlos und dunkel glitt es dahin, so unvorstellbar groß. Die herbe Schönheit des Unheimlichen. Ich grinste sie an. Wir verstanden uns.
Von einem Gerüst fiel eine Stange. Wir wollten gerade frühstücken gehen. Die Stange schlug ihr in den Bauch, blieb stecken. Wir sahen beide auf das Ding, das plötzlich aus ihrem Körper stach, ohne zu begreifen. Die Stange kippte aus der Schräge. Ein Ende klapperte auf sandigem Asphalt, das andere kam mit einem feuchten Flopp wieder aus ihr heraus. Etwas spritzte auf meinen Unterarm. Sie viel nach hinten. Unsere Hände trennten sich.
Ich kniete neben ihr, als der Schmerz sie holen kam. Ich konnte ihr Inneres sehen. Das Fleisch war einfach offen, ging auseinander. Ich sah noch, wie sich ein durchtrenntes Gefäß zusammenzog. Dann quoll Blut aus dem Loch, verdeckte alles. "Scheißescheißescheiße..." Von der Wunde sah sie zu mir. In ihren weit aufgerissenen Augen sah ich, dass sie es bereits wusste. Ich schüttelte den Kopf, sagte ihren Namen und: "neineinein..." Schweiß tropfte ihr von der zitternden Nase, kam plötzlich überall aus ihrer Haut. Es riß sie, wie von Krämpfen. Sie atmete so heftig, die Zähne gebleckt, dass ihr Rotz aus der Nase flog. Ich drückte ihre Schultern fest an meine Brust, ihr Blut war so heiß. Es lief an ihr entlang, durch unsere Kleider und in meinen Schoß, leckte über meine Schenkel. Große Mengen Blut stinken erbärmlich. Dieser schreckliche Gestank.
Sie japste verzweifelt, griff sich an die Wunde, drückte eine helle Masse wieder zurück in ihren Bauch. Sich mit der Handfläche zuhaltend, fing sie an zu weinen. Ich legte meine Hand auf ihre. Ihre Finger waren kalt, so heiß und stetig es auch unter ihnen hervorschoß. Es roch mit einem Mal nach Kot. Mit einem Jaulen krallte sie sich in meinen Rücken und schluckte ihren Atem runter, dass sie sprechen konnte. Japsend, mit blassen Lippen: "Ich habe dich nie geliebt." Die Geistesgegenwart einer Sterbenden. "Nein nein nein..." Sie wand ihre Hand aus meinem Griff, so furchtbar glitschig von all dem Blut. Damit ich ihr Gesicht nicht sehen sollte, schlang sie beide Arme um mich und verbarg sich an meiner Brust. "Dich... nie.. geliebt... hab' dich... nich'.. geliebt.. dich... nich'..."
Ich hielt sie so sinnlos fest, weinte in ihr nasses Haar. "Dich.. nhn. gelrr..."
Die Hitze pulsierte nicht mehr gegen meinen Bauch. Sie wurde schlaff und erkaltete schnell. Ihr Nacken, ihre Schultern, ihre Arme. Wohin meine machtlosen Hände auch griffen, sie war schon kalt. Das Shirt an ihrem Rücken durchgeschwitzt, klamm. Kein Atem mehr in ihr. Zusammengesackt, wie sie war, spürte ich ihre Zähne an meiner Brust. Urin wusch über trocknendes Blut.
Mit rot blitzendem Licht und Sirene kam der Krankenwagen. Um uns waren viele Fremde, sie hielten sich die Hände vor Mund und Nase. Mir war schwindelig. Als die Sanitäter sie von mir drehten, waren unsere Klamotten von gerinnendem Blut aneinandergeklebt. Durch das Loch konnte ich sehen, wie von der Bewegung etwas in ihr schwappte. Ihre Augen waren offen. Sie wurde in Plastik gepackt und weggetragen. Ich blieb knien in einer stockenden Lache. Nicht wie gelähmt, aber unsagbar ratlos. Ich konnte nicht denken. Mehr Rundumlicht kam. Jemand sprach zu mir und leuchtete mir ins Auge. Der grässliche Gestank des Blutes. Schlagartig musste ich mich übergeben. Ich spie auf das Blut meiner toten Frau. In meine Stirn gruben sich meine Nägel. Ich glaube, ich habe gebrüllt.
Auf dem Kachelboden des Krankenhauskellers machte jeder meiner Schritte morastig squitsch-squitsch. Ich hatte ihr Blut sogar in meinen Schuhen. Die Polizisten blieben auf Abstand, peinlich berührt von meiner Erscheinung, wussten nichts mit mir anzufangen. Man gab mir eine Tasse schwarzen Kaffee und legte ein blaues Tuch unter, dass ich mich setzen konnte, ohne etwas schmutzig zu machen. Trocknendes Blut spannte auf meiner Haut. An dem Kaffee habe ich mir die Zunge verbrüht. Ich habe viel geweint. Die Tränen kamen und gingen in unvorhersehbaren Schüben. "Sie hat gesagt, sie hätte mich nie geliebt." Der Dolmetscher verstand mich nicht. Er erwiderte mitfühlend: "Darauf kommt es jetzt nicht an."
Zurück zum Hotel fuhr ich hinten im Krankenwagen. Ich wusste nicht, wo ihre Leiche dann war. Kleine, schwarze Blutkrümel waren zwischen den dunklen Haaren auf meinem Arm. In unserem Zimmer wartete nichts auf mich. Ich sah ihre Zahnbürste, ihre Wäsche auf unserem Bett, ihr Buch mit den vielen Lesezeichen- aber es zwang mich nicht in die Knie. Ich ging umher in meinen vor Blut schmatzenden Schuhen, sah durchs Fenster aufs Meer und erwartete den Schlag. Aber er kam nicht.
Mir kam die Idee, zu schlafen. Ich brauchte lange, um mir die Schuhe aufzuschnüren. Der Knoten war verklebt. Als ich mir die Hose runterzog, blätterte trockenes Blut von den Beinen. Vorbei am Gesicht wehte mein Shirt den Geruch von Erbrochenem. Socken und Unterwäsche waren schlimm. Dort war es nicht völlig starr, sonder schmierig, gallertig. Schlimmer noch war ihr Blut in den Falten meiner Genitalien. Mit zitternden Fingern bröselte ich Blut aus meinem Schamhaar.
Ich würde sie von mir abwaschen müssen.
Unter der Dusche fing ich wieder an zu weinen. Rostrot, streifig floß das Wasser ab. Ich musste Duschgel verwenden, um alles sauber zu bekommen. Ich wurde wach und wusste nahtlos, dass sie tot war. Heiser von all dem Weinen lag ich in unserem Bett und betrachtete eines ihrer Haare, das auf dem Laken neben mir war. Draußen das Rollen des Meeres. Ich wischte ihr Haar vom Bett und stand auf. Aus dem Büro der Hotelleitung rief ich ihre Mutter an. Ich war verwundert, wie leicht ich es aussprechen konnte. Sie weinte und ich lauschte, als wäre ich auf etwas neugierig. Nach einer Weile fragte sie, ob sie die übrige Familie für mich verständigen sollte. Ich sagte ihr, ich schaffe das schon. "Nein, das tust du nicht."
Im Flieger saß ich neben einem leeren Platz, sah hinaus auf die goldenen Wolken und dachte an die Asche meiner Frau. Im Flugzeubauch, bei dem Gepäck. Um die Überreste mitnehmen zu können, hatte ich sie zur Verbrennung geben müssen. Es gibt Regeln für soetwas. Ich landete in Dunkelheit. Einer Dunkelheit, die sich nicht mehr hob.
Mein Bruder holte mich vom Flughafen ab, brachte mich zu den Eltern. Gesichter, Umarmungen, das elende Klagen, Anfassen und Weinen. Alleine oder in Chören. Aussuchen des Grabsteins, Sonderurlaub bekommen und Formulare. Ich machte mit, aber innen blieb es dunkel. Nichts drang durch das Rauschen der Trauer. Auch nicht das Begräbnis, die widerliche Rede des Geistlichen. Als hätte er uns gekannt, dieser gütige Gott. Als wäre es mein Fehler, könnte ich seine Gnade nicht enträtseln. Ich wollte so gerne eins werden mit der Dunkelheit, aber ich blieb Mensch.
Das erste Mal alleine in unserer Wohnung. Abendessen machen, nur für mich. Ich setzte mich zu Tisch, Spiegelei und Brot auf dem Teller. Sah die Bildern von uns am Kühlschrank und wartete darauf, dass mir die Brust zersprang. Aber das Zerren und Reißen legte sich, ließ mich pulsend, lebendig zurück. Ich war nur ein hungriger Mann. Ich aß das kalte Ei und ging ins Bett und weinte.
Mittlerweile hasste ich meine Tränen. Sie kamen und gingen, wie es ihnen gefiel. Bei völlig bedeutungslosen Gesprächen brachen sie aus mir hervor und wenn ich von ihrem Ende erzählen musste, versteckten sie sich. Mein Hals gehörte nicht mehr mir. Ich verachtete meine unzuverlässige Seele. Hätte ich je so stark sein können wie sie? Wie viel Grausamkeit braucht es, gut zu sein?
Wieder in der Arbeit wusste ich dann nicht, was anfangen mit all dem Mitleid. Ich wollte nicht mehr reden. Reden half nicht, hatte nie geholfen. In seinem Kopf ist jeder allein und die Dunkelheit weicht nicht, weicht nie. Sie dauert und dauert. Ein geduldiger, schwarzer Teich. Wollte auch nicht mehr der Leidende sein. "Meine Frau ist gestorben." Nurnoch eine Formel, ein bedrucktes Kärtchen, das ich in der Tasche hatte. Die Trauer rollte sich zusammen, hörte auf zu zittern und verweste.
Irgendwann lächelte ich wieder über das Grün der Blätter, lachte über einen Witz, kam sogar selbst auf einen. Ging wieder mit Kollegen in eine Bar, war nett zu fremden Frauen. Konnte wieder meinen Bruder und seine Frau besuchen, ohne danach stundenlang im Auto vor unserem Haus zu sitzen, unfähig, mich der Leere darin zu stellen. Die Trauer war vergangen, die Dunkelheit nicht. Ich gewöhnte mich nur an sie, so wie man sich an ein kaputtes Knie gewöhnt, an stärkere Brillengläser. Unsere größte Schwäche ist, dass wir uns an alles gewöhnen können.
Nach einiger Zeit, vermutlich waren es Jahre, merkte ich, dass ich wieder reden wollte. Dass ich reden musste. Über meine Frau, den Strand und die Dunkelheit. Über Haare an meinen Armen. Es wollte aus mir raus, wie angehaltener Atem. Aber es gelang nicht. Ich wurde nicht verstanden. Die Bedeutung meiner Worte hatte sich verwandelt. Schmerz sprach ich anders aus als meine Mitmenschen. Blut war für mich etwas völlig anderes geworden, etwas dreidimensionales. Von den meisten Filmen wurde mir speiübel. Sagte ein Verliebter neben mir stolz, er könne nicht ohne die Liebe leben, musste ich sagen: "Doch, du wirst." Und sie fanden dann, ich wäre böse und kalt. Dabei verbrannte mir das Herz. Wie soll ein Mensch vom Unmenschlichen sprechen? Diese Dinge sind zu groß für den Mund, sie bleiben drinnen.
Meine Sprachlosigkeit war mir eine Qual, für die ich mich schämte. Warum sollte ich nicht schweigen können? Wollte ich von der Gewalt ihrer letzten Worte berichten? Ging es mir nur um mich? Wollte ich beweisen, dass ich noch lebte und nicht nur funktionierte? Erbärmlicherweise fand ich darauf nie eine Antwort, der ich hätte restlos glauben können. Ich musste reden. So sehr ich dagegen ankämpfte, stach es immer wieder aus mir hervor. Das Nichtverstehenkönnen der willigen Zuhörer machte mich schwach und rasend.
Sie verstanden auch nicht, warum ich jetzt, erst jetzt, damit anfing. War der Verlust noch frisch, hatte sich jeder, jeder kümmern wollen und wie Mücken hatte ich sie verscheucht. Jetzt misstrauten sie meinem Zustand. Nachtragend, vielleicht. Man leckt eben Wunden und nicht Narben. Narben sind nur Haut. Blut ist, was einen aufregt. Vor Schwäche wurde ich zornig. Wenn sie Blut haben wollten- davon wusste ich nur zu viel!
Ich erzählte also von ihrem Loch. Wie sie ihr Gedärm zurückstopfte. Wie ihr das eigene Leben an den Fingern vorbeischoß. Wie sie weinte, als sie es nicht halten konnte. Selbst, dass ich ihre Scheiße gerochen hatte aus dem zerstochenen Bauch. Man verstand nicht, sondern ekelte sich. Verachtete mich, als würde ich ihre Geheimnisse, ihr Andenken verraten.
Ich grämte mich und es misslang mir, nicht beleidigt zu sein. Was dachten die denn, was in einem passiert, wenn etwas einem den Bauch durchschlägt? Wenn man ausblutet, wenn man so stirbt? Die Augen in den Handflächen versteckend vor der Schuld: Wer war ich denn, zu verlangen, dass sie etwas davon wissen können? Dass sie etwas davon wissen sollen? Ausgeeinzelt durch Erfahrung. Um meine vollkommene Nacktheit wissend, einsam vor der Dunkelheit. Sie aber wussten nicht, dass sie nackt waren unter ihren Gedanken, hilflos. In ihren Hals war nicht die Frucht der Erkenntnis gefallen.
Aber ich wollte weiterreden, musste es, war abhängig vom Hoffen auf Verständnis. Als könnte es mich wieder aufheben und versöhnen, mich zunähen und heilen. Bildete mir wohl auch ein, es wäre meine Pflicht, sie zu warnen, aus meinem Leben wenigstens eine Lehre zu spinnen. Wie töricht von mir. Der Horror ist launisch, er schluckt nicht jeden.
Die Wahrheit jedenfalls, war bald abgestrampelt. Mit der Findigkeit eines Süchtigen fieberte ich zu anderen Ausdurcksformen. Ich log, um durchzudringen, das Unwissen zu durchschlagen. Mal war meine Frau schwanger, mal war ich Schuld am Unfall, mal war sie meine Mutter und ich noch ein Junge. Ich erzählte, ich hätte ihr beim Sterben in die Augen geblickt oder sie wäre im Krankenbett nach langem Leiden verendet. Erzählte, ich selbst hätte den Schalter umgelegt. Die Polizei, die Leute im Krankenhaus oder unsere Familie machte ich ab und an zu Bösewichten. Alle erdenklichen Kombinationen, Mutationen, Perversionen. Mit keiner gelang mir der Durchstich. Sie verstanden einfach nicht, wovon ich erzählen wollte. Der Frust ließ mich schlampig werden. Meine Erzählungen überwucherten sich.
Wer früher die Wahrheit von mir gehört hatte oder zwei neue Versionen meiner Geschichte, der hasste mich schnell. Sie dachten wohl, ich wolle ihnen etwas stehlen. Mir etwas andichten, das mir nicht zustand, das ich mir nicht erlitten hätte. Die Lügen verätzten alles Vertrauen. In der Anfeindung fand ich unerwartet angenehme Bestätigung. Meine inneres Alleinesein war endlich auch außen. Ich wurde die leere, missgünstige Litanai vom Tod meiner Liebe und dass es keiner verstand.
Einmal hatte ich in der Straßenbahn vergessen, das Ticket zu entwerten und der Kontrolleur kam. Während er den Bußgeldbescheid ausstellte, hätte ich ihn beinahe angefahren, ob er sich denn mal das Blut seiner Frau vom Schwanz geschrubbt hätte. Aber die plötzliche Erkenntnis, was ich geworden war, verschluckte mir die Zunge.
Von den tausend erbärmlichen Facetten meine Geschichte gepeinigt, kündigte ich alles. Meine nun fasrigen, ausgedorrten Freundschaften und meine, unsere, leere Wohnung. Ich ließ mich in eine andere Stadt versetzen, in eine geringere Stelle. Einen, für den ich überqualifiziert war. Nicht zur Buße, sondern um Zeit zu haben. Arbeit war nicht mehr wichtig, sondern notwendige Lapalie. Ich brauchte ein bisschen Geld, um mir Ruhe davon zu kaufen. Ich machte mich gut und höflich, glatt.
Nie mehr erzählte ich von ihr und ihrem Ende. Ich hielt mich bedeckt und vermied es, zu erklären, warum ich so war, wie ich bin. Denn anders war ich. Das veränderte Denken, die Dunkelheit, lässt sich nicht verstecken. Sie gähnt einem aus der Brust. Freundschaften erlaubte ich mir im Entzug keine. Es gab nur mich und den dunklen Teich, an dessen Rand ich saß und wartete. Die Tränen hatten mich wieder gefunden. Aber auch sie waren gealtert in all diesen Jahren, die seit der Heimkehr im Flieger vergangen waren. Sie stiegen nun regelmässig auf aus der Beklemmung, meistens nachts, wenn die Einsamkeit am hellsten war.
Im Geiste nahm ich das Maß dieser Dunkelheit. Aber nicht wie ein Kind es tun würde, sondern wie ein Scharlatan. Ich zündete Kerzen an, trank Wein, suchte in heiligen, in unheiligen Büchern. Las auch vom Aufbau des Gehirns und der Seele, von Physiologie, Psychologie, Philosophie. Angewidert war ich bald, bald sprach ich verzweifelte Gebete. Fraß Kunst in mich hinein, verhöhnte alle Phantasten. Ein belesener Ignorant war ich, ohne Ruhe, ohne Geist. Ich rang um geheime, stille Verzweiflung. Schien mir fast edel, dass ich um meine Schadhaftigkeit wusste und sie dennoch ertrug.
Ich suchte auch die vertraute Wärme der Scham. Machte auf all meine Verfehlungen aufmerksam, wann immer ich konnte. Mein abgegriffener Ausweis, dass ich nicht aus Bosheit spottete, sondern weil mir einzig Spott geblieben war. Bestellte manchmal Prostituierte zu mir. Alleine konnte ich nicht mehr, seit der Dusche im Hotel. Weinte man danach, wunderten sich diese wundervollen Frauen nicht. Während eine sich den Gürtel wieder umlegte, hatte sie gefragt: "Frau ist gestorben, was?" Ich nickte. "Das merk ich immer gleich." Ins Gesicht schlug ich ihr. Die Verwirrung platzte wieder auf.
Im Badezimmerspiegel strich ich über mein graues Haar, sah es wie zum ersten Mal. Wie schnell die Zeit vergeht schockierte mich nicht. Aber immernoch überrascht werden können, das machte mir Angst. Wie wenn man abends nach Hause kommt, absperrt und dann die Hintertür offen sieht, ein Pfad Licht nach draußen. Etwas arbeitete in mir. Ich konnte es fühlen. Mehr hinter den Rippen als der Stirn.
An einem gleißenden Frühlingstag sah ich die Wahrheit, so wie man eine Aprikose mit den Daumen spaltet und den Kern sieht. Meine Dunkelheit war auch im Panzer der Ameisen und im Geschrei der Vögel. Sie war im Wasser, das wir trinken und unter unseren Fingernägeln. Spontan, unspektakulär, als hätte ich eine optische Täuschung entlarvt. Dunkelheit und Leben erkannte ich nun als zwei Blickwinkel auf ein großes Ganzes. Von einem Auto kann man auch nicht beide Nummernschilder gleichzeitig sehen. Ich stand im Pausenraum meiner Arbeitsstelle, sah aus dem Fenster und trank Kaffee. Endlich war das Rätsel gelöst. Die nächsten Tage war ich aufgetaucht, erfrischt und übermütig.
Ich alberte herum und bemerkte mit Lachen, dass andere sich ebenfalls abmühten, die Dunkelheit zu begreifen. Sah sie wie mich zuvor schweigen, lügen, zürnen, verstummen und grübeln. Jeder Mensch hat seine Narben. Sie würden lernen. Alle würden es irgendwann verstehen, mussten es einfach verstehen! Selbst im Schlaf war ich noch hochmütig, denn mir träumte, ich stünde vor der gewaltigen Dunkelheit und rief ihr zu: "Ich kenne dich jetzt!" Und die ganze Dunkelheit drehte sich zu mir um. Und sah mich an. Auch sie kannte mich jetzt.
Furcht. Ich mied mein Bett, als könnte ich mich daran verletzen. Schlief auf dem Sofa, am Küchentisch. Neben den Flaschen. Mir blieben keine Träume, wenn ich voll Schweiß erwachte, sondern die seltsame Gewissheit, dass die Dunkelheit etwas mit mir vor hatte. Etwas war in Gang geraten, gegenüber dem ich machtlos war. Etwas wie Altern, wie der Farbwechsel der Haare. Sich für lange Zeit fürchten ist fast wie frisch verliebt zu sein. Wach, umtriebig, alarmiert, mal sich dem Los ergeben und dann wieder stark dagegen aufbegehren. Man wunderte sich über mich, sagte, ich sehe abgezehrt aus, gehetzt. Ich aber fühlte mich so lebendig, dass es manchmal weh tat in der Brust.
In meinem bewusstlosen Schlaf begann ein Traum zu keimen. Grau und tot und trotzdem sah ich ihm beim Wachsen zu, Nacht für Nacht. Es war ein Traum von den Fremden, den Toten. Sie kamen nirgendwo her, sondern tauchten auf, wie Felsen bei Ebbe. Die Dunkelheit gab sie frei. Keine Geister waren es, sondern Leichen. Farblose, nackte Gegenstände, die einmal geatmet hatten. Es wurden immer mehr. Eine Grube, ein Fluss, ein Feld, ein Berg aus Leichen. Die Toten wuchsen unaufhaltsam. Alkohol konnte sie nicht aus meinem Schlaf waschen. Er brachte mich nur zum Husten.
Irgendwann waren meine Träume voll. Schloss ich die Augen lag ich allein auf einem reglosen Meer von Leichen. Unter einem Himmel voller Leichen. Jeden Lidschlag wusch die tote Masse über mich hinweg. Konnte ich noch schlafen, oder starrte ich wach in meine Gedanken? Hypnotisiert, fiebrig. Es fiel mir schwer zu unterscheiden, was wirklicher war, und bald darauf schien es mir sinnlos. Eine seltsames Gefühl von Schwere und Druck baute sich auf und mit einem Schlag wurde ich dann durchlässig. Ging auseinander, wie ein berstendes Faß. Die Welle spritzte durch mich hindurch. Die Toten brandeten auch dahin, wo die Lebenden waren.
Wohin mein Blick auch fiel, überall kamen sie hervor. Wie Wasser aus einem verstopften Gulli. Die Toten trieben in den Wolken, verliehen dem Himmel eine körnige Textur. In Halden waren sie unter den Fenstern aufgeschüttet. Über ihre Glieder rollte der Verkehr. Wind strich im Gras durch totes Haar, leckte über getrocknete Augen. Zuhause, draußen. Ich konnte nichts tun, als sie hinnehmen, mich daran gewöhnen.
Trotz ihnen, zwischen ihnen, auf ihnen zur Arbeit fahren, essen und schlafen. Arme ragten unter dem Bett hervor. Tote saßen unter dem Schreibtisch und in den Schränken. Ihre Häute färbten die Wände. Sie türmten sich auf den Dächern, verstopften die Treppenhäuser. Ich hatte keine Wahl, ich schritt durch Massengräber. Kinder spielten auf Knochen. Lose Glieder drehten sich im Wind. Ein stiller, endloser Ozean aus Kadavern floss durch mich ab. Mein Fieber war der Glanz des Strudels, sein Gurgeln steckte in meiner Brust.
Die Toten sickerten bald auch in die Lebenden um mich herum. Eine junge Frau im Bus hatte die Leichen ihrer Eltern auf den Hüften. Einem Arbeitskollegen lag sein toter Bruder auf den Schultern. Sie waren überall. Nichts, das sie nicht mit ihnen vollsog. Ihre Schädel zeichneten sich in den Bäuchen der Schwangeren ab. Ihre Gesichter spiegelten sich im Auge meines Gegenübers. Wie Dreck fielen sie von den Füßen. Alles Lebendige war nur ein dünner Anstrich über all dem Tod. Eine Spiegelung auf der Oberfläche. Ich wünschte mir, endlich den Verstand zu verlieren. Versuchte sogar, mir Wahnsinn einzureden. Vergeblich. Ich lebte weiter in einer Welt, durchtränkt von Leichen. Manchmal drohten sie mich durch ihre schiere Masse zu überwältigen, zu begraben. Zu Ersticken.
Ich ging vor Erschöpfung zum Arzt. Von den Toten schwieg ich, aber er sollte mich untersuchen. Blutabnahme und Röntgenbilder zeigten es dann: die Toten wuchsen auch in meiner Brust. Seit ich die Diagnose hatte, rauchte ich. Es fühlte sich richtig an. Der Arzt meinte, man könne noch behandeln. Mir erschien das, wie Tauben verscheuchen. Für solche Spiele fehlt mir die Kraft. Zu all den Toten werde ich gesogen, fort von der Spiegelung. Es geht nur in eine Richtung.
Die ganze Menschheit ist mir wie ein Korallenriff. Der dünne Saum, der im Licht lebt, wächst auf einem Gebirge von Gestorbenen, die in die Tiefe verschwinden. Nurnoch Materie. Bis zum Grund. Bald werde auch ich zu einem Ding, so nicht-mehr-menschlich wie ein abgeschnittener Fingernagel. Werde aufhören zu sein. Ein Sandkorn, das den Berg hinabrollt. Kein Denken mehr, kein Ich. Nie mehr kommt das Licht zurück. Ich werde restlos verschwinden, wie meine Frau verschwunden ist in ihrer Urne. Wie all die Geliebten vor ihr. Die Kinder, die Mütter, Väter, Großeltern. Von den Toten kommt das Blut in uns. Das Meer trocknet mich letztlich aus: Ich ende...
Noch nicht. Die Enge in der Brust hält mich wach. Noch schmeckt mein Morgen nach Geronnenem. Braune Sprenkel auf meinen Händen, Kissen, dem Laken. Das Leben, die Dunkelheit, lässt einen nicht einfach so los. Kein Friede, keine Erhabenheit, kein Erbarmen. Statt zu Asche, verbrenne ich zu Schweiß. Nach dem Duschen geht es mir meist besser. Es kostet Überwindung, meine Zigaretten zu rauchen aber ich habe es mir vorgenommen. Meine Finger zittern. Die Anderen wird es beruhigen, hinterher.
Immernoch gehe ich in die Arbeit. Das Licht glänzt auf der Haut, die Toten stört es nicht. Kaffee trinken vor dem Fenster, wie immer. Knochenreste flirren in der Sonne. Meine Kollegen plätschern so dahin. In all ihrer Heiterkeit, ihrem Ärger und mit so schrecklich vielen Plänen. Ich beneide sie nicht. Wenn sie Pech haben, werden sie einmal wissen, was ich jetzt weiss. Die gleiche Dunkelheit, die uns frei gab, wird uns auch wieder verschlucken. Nichts bleibt.
Manchmal, wenn ich gegen die schwelende Schwäche trinke, löst sich meine Entschlossenheit. Dann erzähle ich von dem Tag am Meer und von den krachenden Wellen. Davon, wie glücklich wir waren. Wie ich ihr Haar vom Laken strich. Ich schließe dann die Augen und sehe in der Ferne etwas vorbeigleiten. Dunkel und unvorstellbar groß.