Come away with me
Come Away With Me ….
Die Geschichte von Julie und ihm begann in einem Kel-ler. Sie begann auf eine Weise, die so typisch ist für ihn. Denn seine Geschichte mit Julie begann viel früher, als ihre Geschichte mit ihm. Sie war in diesem Keller ein strahlendes Licht, schön wie die Sonne, kraftvoll wie ein Wasserfall, so extrovertiert, so sexy, so aufregend und blond, wie man mit dreizehn nur sein kann. Und er war das alles nicht. Er sah nur, was Nabokov sah und er verstand. Er aber war ein Schatten in einer Ecke des Kellers, so weit weg damals von ihr, so weit weg eben wie die Sonne von der Erde. Jahre später sprach sie mit ihm, in einem Dorf in der Nähe der Kleinstadt, in der sie aufwuchsen.
Samstags im Dorf verwandelt sich seit Generationen die Turnhalle in ein Tanzlokal und die Jugendlichen des Dorfes und die der Dörfer der Umgebung fühlen sich für ein paar Stunden den Jungs und Mädchen in London, Paris und Berlin ein bisschen näher. Genau wie ihre Eltern vor Jahren und deren Eltern vor Jahrzehnten. Im Dorf und in der Stadt tut man dieselben Dinge zu den gleichen Songs, nur im Dorf singt nicht Morrissey, spielt Andi Strummer nicht die Gitarre oder es tanzt nicht Madonna. Es bedarf einer Portion Phanta-sie, einem Provinzsänger den Enthusiasmus entgegen zu bringen, der für das eigene Erlebnis notwendig ist. Immer schon fehlte ihm diese Vorstellungskraft, er sah auf dem Dorf nur die neue Turnhalle und nie die Brixton Academy, auf der Bühne nie den Rockstar sondern den Siemens-Angestellten, den er vom Ferienjob kannte. Es gab nur einen einzigen Grund, aus dem er in dieser traurigen Eingangsdiele dieser traurigen Turnhalle herumhing und versuchte, den Eindruck zu erwecken, dazu zu gehören, Spaß zu haben und cool zu sein, obwohl er schon damals wusste, er gehörte nicht rich-tig dorthin. Sie, erzählt man sich im Gymnasium, sie, schön wie die Sonne, sollte in dieser Halle samstags tanzen. So stand er da und kann nicht anders. Er konnte da nicht rein, weil ihm die Leute und ihr Selbstbetrug Leid tun, er mochte diese Leute und er wollte sie nicht verletzen. Er konnte da nicht rein, weil er den Anblick, sie tanzt, nicht hätte ertragen können. Zu sinnlich, zu sexy für seine sechzehn Jahre. So stand er da, kann nicht vor und kann nicht zurück und so stand sie plötzlich vor ihm. Obwohl er seit Tagen an nichts anderes gedacht hatte, ist er aus der Fassung, es standen zwei Sonnen vor ihm. Ihre Freundin war ebenso schön, e-benso sexy, er und die Dorfjungs waren diesem Anblick nicht gewachsen. Die Freundin sprach zu ihm, die Freundin ist offen, denn die Freundin wußte nicht, wie schön sie ist, weiß es bis heute nicht. Die Freundin ist das echte Leben, außer-halb seines unechten im Gymnasium, die Leidenschaft, die Realität. Die Freundin arbeitete bereits, hatte eine jahrelange Beziehung zu einem Mann und der Gedanke an das, was die Freundin bereits erlebt hat, bringt seine Gedanken, auf eine ihm neue Art, durcheinander. Und Julie stand neben ihr, sie nahm ihm den Atem. Er glotzte und er spürte, wie unattrak-tiv er wirkt. Das Gespräch dauerte kaum zwei Sekunden und sie ließen ihn stehen. Zu Recht. Damals kannte er das Wort nicht, das Amerikaner für Leute wie ihn haben, Nerd. Er ist ein Nerd. Er war ein Nerd. Ein bisschen cleverer als viele, viel dümmer als manche, ein bisschen talentierter als viele, sehr viel ungeschliffener als manche, sehr viel dünner als alle, mit einer sehr uncoolen Frisur. Ein Nerd.
Seine Nerdness verlor sich in den Jahren danach, sie war da bereits weg. Sie war in den grossen Städten, sie kannte berühmte Leute, wurde selbst berühmt. Zweimal sagte er ihr, dass er sie liebt. Einmal blinzelte sie amüsiert in das Licht der Neu-Köllner Schlafzimmerlampe, das andere Mal fuhr sie, völlig besoffen, ihn sofort nach Hause. Danach war er nicht mehr verliebt, doch liebt er sie bis heute. Sie wur-den Freunde. Sie ist noch immer schön wie die Sonne. Sie ist die Einzige seiner Freunde, die weiß, woher er kommt, wer er ist und deshalb ist sie die Einzige, von der er solche E-Mails akzeptiert.
*
„Meine Lieblingsfarbe ist Regenbogen!“. Marie steht an der Reling des Bootes und betrachtet ihn versonnen über den Steg hinweg durch ihre Sonnenbrille. Er löst den Blick von seinem Laptop und sieht den Regenbogen hinter den Bergen mit den blutorangenen Spitzen. Es ist einer dieser magischen Momente, derentwegen er nach Kanada gekommen ist. Der Augenblick, kurz nachdem die Sonne durch den Nebel gebrochen ist, die Stadt mit ein paar Strahlen aus dem Schlaf holt. Einer dieser Momente hat vor ein paar Jahren sein Le-ben verändert, jetzt nimmt er sie kaum noch wahr. Damals hat jeder Sonnenstrahl über den Coast Mountains, jeder Wel-lenschlag des Fraser Rivers ihm eine Geschichte erzählt, heute ist es sehr still. Marie war offensichtlich aus der Schule gekommen, er hatte sie nicht kommen hören.
„Was ist Deine Lieblingsfarbe?“, fragt sie. Sie kennt seine Lieblingsfarbe genau und er muss ein wenig schmunzeln über den Charme, mit dem sie ihn aus seinen Erinnerungen holt. Eines Tages wird Marie sich ihres Charmes, ihrer Schönheit und ihrer Intelligenz bewusst werden und er wünscht ihr jene Weisheit, ihren Männern, die neben ihr höl-zern und ein wenig albern wirken werden, trotzdem mit Re-spekt zu begegnen. Mit dem Respekt, den seine Frau für ihn verloren zu haben scheint.
„Meine Lieblingsfarbe ist Marie.“, sagt er und wendet sich wieder seinem Laptop zu.
„Das sagst Du immer, aber ich weiß jetzt, dass es keine Farbe gibt, die Marie heißt.“ Aus den Augenwinkeln sieht er Marie auf den Steg klettern, die paar Schritte an die Treppe der Terrasse gehen. Sie setzt sich mit dem Rücken zu ihm auf die zweitoberste Stufe. Er weiß, sie wartet jetzt darauf, dass er sich zu ihr setzt. Und er weiß auch, dass er es tun wird.
„Ich habe nach der Schule mit Mamá gesprochen.“ Sie sagt „Mamá“ wie eine Französin, eine Eigenart, die ihn amü-siert. Er sitzt jetzt auf der Stufe über ihr und wünscht sich, sie würde ihre Sonnebrille abnehmen. Marie trägt eine Sonnen-brille, immer. Neun Monate des Jahres ist Marie der einzige Mensch in Vancouver, der eine Sonnenbrille trägt. Nur in den drei kurzen Monaten des Sommers und den wenigen strah-lenden Wintertagen ist sie damit nicht alleine. Marie hat wun-derschöne Augen, groß und mandelförmig, mit einer wasser-blauen Iris, die umschlossen ist von einem breiten Rand, der manchmal grau und manchmal rosa unter langen, pech-schwarzen Wimpern hervorschimmert. Irgendwann wird er ihr einmal sagen, dass die Farbe Marie wasserblau-grau-rosa ist, irgendwann.
„Was sagt Mamá denn so?“, fragt er und sieht sie von der Seite an. Er wartet darauf, dass ihre kleine Nasenspitze sich vor gespielter Entrüstung ein wenig zur Seite dreht, wie sie es tut, wenn sie sich über ihn ärgert. Dabei mag sie es, wenn er sie mit ihren kleinen Schrulligkeiten ein wenig aufzieht.
„Sie sagt, sie kommt uns an meinem Geburtstag besu-chen.“.
„Dann kommt sie auch.“
„Ich weiß. Ich zeige ihr dann Friedman!“. Friedman heißt in Wahrheit Jeremy und ist der neue Delphin des Aquariums im Stanley Park. Marie verbringt Stunden damit, ihn durch die Glasscheiben seines Beckens zu betrachten, Friedman ver-bringt Stunden damit, ihren Blick zu erwidern. Jedes Mal, wenn er sie so sieht, beneidet er sie beide. Einmal schlug er vor, Friedmans Trainerin zu fragen, ob Marie mit ihm schwimmen dürfe, doch das wollte sie nicht.
„Hat sie gesagt, wie lange sie bleibt?“, fragt er, obwohl er es weiß, es stand alles in ihrer E-Mail. Da stand, dass sie Marie vermisst und dass in naher Zukunft alles anders wird und dass sie nur noch diesen Film machen wird und sie dann ab nächsten Monat für zwei Jahre nach Vancouver kommen wird. Und dass sie glaubt, seine Frau hat den Respekt für ihn verloren.
„Sie bleibt drei Wochen hier, dann dreht sie einen Film in Cinecittà. Wo ist denn Cinecittà?“.
Davon stand nichts in dieser E-Mail, es überraschte ihn aber auch nicht. Rom, wundervolles Rom, wer möchte da keinen Film drehen. Sie wird Rom verzaubern, wie sie alle Städte verzaubert, in die sie kommt. Sie wird sich in einen Römer verlieben, der schön ist wie die Stadt selbst, der sie glücklich machen wird. Für zwei, vielleicht drei Monate. Wenn sie Glück hat, ein Jahr. Sie werden Julie erst wieder sehen, nachdem sie in den Zeitungen erst ihr neues Glück, dann die Skandale und schließlich die Trennung verfolgt haben wer-den. Sie wird anrufen, alles sei nicht wahr, was nicht nötig sein wird, denn sie kennen die erlogenen Geschichten der Yellow Press. Die einzige Geschichte, die es wert wäre, über sie geschrieben zu werden, steht im Aquarium des Stanley Parks und liebt einen Delphin durch eine Glasscheibe. Julie wird nach Vancouver kommen und sie werden für sie da sein. Er wird mit Marie und ihr ins Aquarium gehen.
„Cinecittà ist in der Nähe von Rom, der Hauptstadt Ita-liens. Rom ist Tausende von Jahren alt und alles dort ist schön, die Menschen, die Kunst, und immer scheint die Son-ne. Rom wäre die richtige Stadt für Deine Sonnenbrille. Rom war das Zentrum der antiken Welt.“
„Ich möchte nicht nach Rom!“, sagt sie und dreht sich zu mir. „Nicht, wenn Mamá dort einen Film dreht. Dann ist alles chaotisch.“. Damit hat sie Recht. Sie hatten Julie einmal in Paris besucht und er wollte Marie und Julie die Venus von Milo zeigen. Nach drei Versuchen, den Louvre zu besuchen, die zu panikartigen Massenaufläufen führten, hat man ihn dazu überredet, den Louvre eben mitten in der Nacht zu be-suchen. Julie brachte noch ein paar „Freunde“ mit und so hatte er die Gelegenheit, die Venus mit Georgie, Nicole Kid-man und Julie zu vergleichen. Wieviel Schönheit verträgt ein Mann, ohne dass er sie berühren darf?
„Ich habe jetzt Hunger, machst Du mir ein Sandwich?“.
„Wenn Du mitkommst und dabei hilfst.“, er zieht kurz an ihrem Pferdeschwanz und steht auf. Sie läuft hinter ihm her und schiebt ihre kleine Hand in seine.
„Ich bin blind und Du bist mein Hund.“, sagt sie und läuft absichtlich gegen den Türbalken. Dabei verschiebt sich ihre Sonnenbrille ein wenig und er sieht in ihre großen, rot ge-weinten Augen. Sie schiebt die Brille zurück und geht schnell voran in die Küche. Während er das Brot und den Käse holt, sitzt sie auf einem der Hocker und baumelt mit den Füssen.
„Warum bist Du heute so traurig?“, fragt sie ihn und er ist einigermaßen verblüfft.
„Möchtest Du Mayonnaise auf Dein Sandwich?“, fragt er. „Wer sagt denn, dass ich traurig bin?“.
„Mayonnaise und Käse passen doch nicht. Wenn das Georgie gehört hätte, hättest Du ganz schön Ärger am Hals. Außerdem braucht mir niemand zu sagen, dass Du traurig bist. Das seh' sogar ich als Blinde.“
Sie springt vom Hocker, läuft zu ihm hin und tritt ihm hef-tig auf den Fuß, was ihn zum Lachen bringt. Er hebt sie hoch und setzt sie vor sich auf die Arbeitsplatte. Sie sitzt da und sieht ihn an.
Er sagt zu ihr: “Ich bin so traurig, weil heute vor siebzehn Jahren mein Vater gestorben ist. Er ist sehr schnell gestor-ben, ich konnte mich nicht einmal richtig von ihm verabschie-den. Weil ich dafür zu blöd war. Deshalb bin ich heute traurig, nicht weil ich keinen Vater mehr habe, sondern weil ich ihm nicht mehr gesagt habe, was noch zu sagen war.“ Er sagt ihr nicht, dass an diesem Morgen, als sie in der Schule war, Dr. Friedman angerufen hatte.
Sie sieht ihn lange an, gibt ihm einen schnellen Kuss auf die Wange und sagt: „Wann gibt’s denn endlich was zu es-sen? Ich komme um vor Hunger!“. Sie springt von der Ar-beitsplatte direkt auf seinen anderen Fuß, bleibt darauf ste-hen und hält sich an seinem Hosenbein fest. Er macht ihr Sandwich fertig, geht an den Tisch, stellt das Sandwich ne-ben ihr Glas, das immer dort steht, und setzt sich. Während der ganzen Zeit steht sie auf seinem Fuß, denn sie ist ja blind. Während Marie ihr Sandwich kaut, klingelt in seinem Arbeitszimmer das Telefon. Der Anrufbeantworter springt an und er hört Maries Stimme: „Hey, how you doin’, sorry you can’t get through, why don’t you leave your name and your number and I’ll get back to you.“. Der Anrufer hat schon auf-gelegt, bevor Maries De La Soul Impro beendet ist. Georgie, seine Frau, sitzt sicherlich gerade irgendwo auf der Welt in einer Flughafenlounge und hat zwischen Conference Call und Boarding noch schnell den Versuch gequetscht, eine Ehe zu führen. Seit einiger Zeit vermeidet er diese Gespräche, die ihm immer mehr wie eine Einbahnstrasse erscheinen. Geor-gies Geschichten hatten ihn früher restlos fasziniert. Damals, als sie noch ein echtes Ehepaar waren, kein virtuelles im Cyberspace von Mobilfunk und E-Mails, als sie noch zusam-men lebten, aßen, lachten. Miteinander schliefen. Damals war er selbst noch im Geschäft. Seine Firma, die er aus einer einzigen, kleinen Idee aufgebaut hatte, der einzigen Idee, die er jemals hatte. Die Firma, die für ihn nach gar nicht so langer Zeit sein Lebensziel erfüllt hatte, unabhängig zu sein, alles tun und lassen zu können, was er wollte. Aufhören zu kön-nen, wenn ihm etwas zu dumm war. Und ihm war sehr bald danach vieles zu dumm. Die Kunden, die Mitarbeiter, die Geschäftspartner. Sogar sein eigenes Verhalten wurde ihm zu dumm. Und heute? Nicht arbeiten zu müssen, um leben zu können, war ihm immer als Traum erschienen. Sich mit den Dingen zu beschäftigen, die ihn wirklich interessieren, oder von denen er annahm, dass sie ihn wirklich interessieren. Endlich die Meisterwerke sehen, junge Kunst entdecken, die großen Meister lesen und sein Buch schreiben. Seit Jahren arbeitet er an seinem Buch, den Mut, das Manuskript an ei-nen Verlag zu schicken oder es auch nur irgendwem zu zei-gen, den hatte er bisher nicht. Und mit seinem Traum schwindet auch langsam sein Glaube an sich selbst.
„Marie, morgen ist dein Termin bei Dr. Friedman, hast Du Deine Sachen schon herausgesucht?“, fragt er die kauende Marie.
„Ich nehme nur meinen iPod mit“, entgegnet sie. „Ich brauche ein paar neue Playlists, die vom letzten Mal kann ich nicht mehr hören“. Er muss schmunzeln, er kann sie auch nicht mehr hören. Marie hatte Norah Jones entdeckt und jede Playlist begann und endete mit „Come away with me“. Ob-wohl er noch nie ein Foto von Norah Jones gesehen hatte und deshalb nicht wusste, ob sie schön oder jung, hässlich oder bereits tot war, würde er mit ihr überall hingehen, wenn sie nur ihr „Come away with me …. in the night“ in sein Ohr hauchen würde, und er kann die Verlockung des Ungewis-sen, der unwiderstehlichen Versprechungen des Unbekann-ten und sein altes Bedürfnis, sich ihm hinzugeben, körperlich spüren. Dann regt sich der alte Optimist in ihm, den er schon für tot hielt, unter den schweren Trümmern seiner großen Träume. Maries Faszination für dieses Lied dagegen macht ihm Angst. Aber Marie hat ihn bei seinem Versuch, es ihr zu verbieten nur lange angesehen, wie sie ihn immer ansieht, wenn er etwas unbegreiflich Blödes sagt. Dafür nimmt sie sogar ihre Sonnenbrille ab. Und wenn er sich in ihren Augen sieht, fragt er sich, wem das Gericht vor ein paar Jahren für wen den Erziehungsauftrag übertragen hat.
Er kann sich noch gut an die alte Richterin erinnern, von der er nie das Gefühl hatte, dass sie die familiären Verhält-nisse zwischen Julie, Georgie, Marie, Tom, Charles und ihm durchdrungen, noch dass sie sich sehr dafür interessiert hät-te. Diese Frau hatte das zweite Gesicht, als es darum ging, herauszufinden, welche der vielen möglichen Lösungen die Beste für Marie war. Und für alle anderen. Sie entschied ge-gen allen juristische Präzedenzfälle und gesellschaftliche Konventionen, die Charles’ Anwälte ins Feld geführt hatten und gab Marie in die Obhut des alten Freundes der Mutter, der Julie schon kannte, als sie noch Julia hieß und sich von ihm küssen ließ. Der in intransparenten ehelichen und berufli-chen Verhältnissen lebte und nicht dem millionenbeladenen Vater, der versuchte, die Liebe seiner Tochter einzuklagen.
Also geht er zurück an sein Notebook und stellt ein paar Playlists für Maries iPod zusammen. Währenddessen denkt er wieder über Julies Mail nach. Schon immer stand er der Offenheit ihrer Kommentare zu der Wahl seiner Freundinnen, der Frauen, für die er schwärmte und letztlich seiner Ehefrau machtlos gegenüber. Machtlos, weil sie immer Recht behielt, nur diesmal macht es ihm ein wenig Angst.
*
Als er einige Tage später ihr Zimmer betritt, fällt sein Blick er als erstes auf ihr schönes Gesicht, entspannt, eine Haar-strähne liegt schräg über ihrer Stirn. Ihr OP-Hemd hat sich in der Infusionsnadel verfangen, langsam und vorsichtig entfernt er das grüne Tuch von der Nadel und legt es beiseite. Die einzigen Geräusche im Zimmer sind das leise Piepen der Maschinen und das Gurgeln des Sauerstoffs aus dem Schlauch unter ihrer Nase. Er hört, wie hinter ihm die Tür geöffnet und wieder geschlossen wird, Georgie ist da, er spürt den sanften Druck ihrer Hand, die sie in seinem Nacken legt. Georgies Hände sind wunderschön, es sind Frauenhän-de, zierlich, grazil mit perfekten Proportionen und sichtbaren kleinen Adern an all den richtigen Stellen, er hatte sich zuerst in Georgies Hände verliebt. Zu Beginn ihrer Liebe saß er am Ende langer Arbeitswochen im Flugzeug und dachte an et-was Schönes und Wunderbares um sich wieder in den Griff zu bekommen, es fielen ihm Georgies Hände ein und der Gedanke, dass sie ihn ein Wochenende lang mit ihnen berüh-ren würde, elektrisierte ihn.
Er startet den iPod, drückt die weißen Stöpsel des Kopf-hörers erst in seine und dann in Maries kleinen Ohren. Julie ist mit ihrem Römer und Charles in einem Privatjet auf dem Weg nach Vancouver. Maries Zustand ist schlecht, er kennt Dr. Friedmans elegante Phrasierungen und Euphemismen zu gut, um nicht zu wissen, wie schlecht.
Er hört jetzt die ersten leisen, weichen Töne von Norah Jones’ Steinway und glaubt zu spüren, wie auch Marie durch ihr Koma sie wahrnimmt. Marie wird sich heute entscheiden, ob sie mit ihm nach Hause oder mit Norah in die Nacht kom-men wird. In jedem Falle wird sie glücklich sein.
Norah singt.
Come away with me
in the night
Come away with me
and I will never
stop
loving you
So gerne würde er mit ihr gehen