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Coitus Mortale
Coitus Mortale
Es war das Gefühl, wiedergeboren zu sein, das Mikes Herz berauschte und ihm das Leben so rund und vollkommen vor Augen führte. Er war in die Stadt gekommen, um fruchtbaren Boden zu finden, fühlte er sich doch selbst wie ein Keim, der überreif darauf drängte, sich zu öffnen und Wurzeln zu schlagen. So viel Geist, so viel Mut und so viel Energie floss durch seine Venen, dass er in dem kleinen Dorf, das er freudig verlassen hatte, zu explodieren drohte. Doch nun war er in der Stadt und fühlte sich wie ein Löwenzahnsamen, den der Wind in einen unendlich großen Blumentopf getragen hatte. Kaum gelandet, hatte er auch schon begonnen, Wurzeln zu schlagen. Ein Ausläufer in der Phosphatstraße des riesigen Blumentopfes, seine eigene Anwaltskanzlei, und ein zweiter in der Kaliumoxidgasse, seine Wohnung, sein Apartment, sein Reich.
Alles war so schnell und so unproblematisch gegangen, dass er befürchtete, sich selbst in einen Traum wieder zu finden. Doch er träumte nicht, er wachte und verspürte nicht einen Anflug von Müdigkeit. Er wollte auch nicht schlafen, konnte nicht. Nie mehr. Er wollte leben.
Und so suchte er an diesem Tag, am Tag der Vertragszeichnungen und Möbelwagenlieferanten, den hiesigen Nachtklub auf, ein nobles und teures Lokal, dessen basslastige Musik und die synchronen Bewegungen der oberen tausend Mittzwanziger, den Boden und die Wände erzittern ließen. Eine weitaus hedonistischere Möglichkeit, als seine Zeit in der Benommenheit seines eigenen Verstandes zu fristen. Scheinwerfer reflektierten buntes, grelles Licht in jede Ecke des Tanzsaales. Es wurde von Mikes Augen aufgenommen, von seinen Synapsen weiter getragen und schließlich von seinem Verstand als ein weiteres Indiz für die paradiesischen Umstände in seinem Leben aufgefasst.
So lehnte er an der Bar, beobachtete die Menge anderer junger, erfolgreicher Löwenzähne und lächelte, als er eine warme, zarte Hand auf der seinen spürte. Er blickte sich um und sah blaue, meeresgleiche Augen, sonnenscheiniges Haar und den Körper einer Frau, der seine Vorstellung von Fruchtbarkeit personifizierte.
„Mein Name ist Michelle“, flüsterten Lippen an seinem Ohr und trotz der schallenden Musik verstand er die Worte genau. „Michelle“, welch wohlklingend Name, wie fremd, wie städtisch, wie schön.
„Mike“, schrie er zurück, auf sich deutend und sich selbst verdammend, da er ihr nicht mit der gleichen Eleganz und Eloquenz entgegenkam.
Doch sie, Michelle, distanzierte sich nicht. Im Gegenteil. Sie verringerte den geistigen und körperlichen Abstand, in dem sie ihren Körper an seinen drückte und sprach: „Ich wohne nicht sehr weit von hier. Komm mit und sein mein Erlöser!“
Er vermied es, wieder ungeschickt auszusehen, indem er nichts sagte, trank sein Glas aus und folgte der Versuchung.
Sie wohnte wahrlich nicht weit. Sie durchquerten einige Gassen, die, obwohl sie dunkel und vom Regen übergossen waren, Mike wundervoll und lebendig vorkamen. Alles war so vollkommen, sein Leben hatte er auf wunderbare Weise gestaltet und nun hatte er eine Frau getroffen, oder sie hatte ihn getroffen, deren Hüften nicht einladender, deren Brüste nicht wohlgeformter und deren Wesen nicht williger sein konnten. Das war das Leben. So ist es vorgesehen, so soll es sein.
Als sie in der Wohnung der Frau mit dem harmonischen Namen ankamen, vollzogen sie den Tanz der Liebenden. Sie küssten sich und Mike fühlte, dass es richtig war, dass mit jeder weiteren Handlung, die sie nun ausführen würden, er auf der Suche nach dem Leben dem Ziel näher kommen würde, dass Michelle ein weiterer Ausläufer seiner Wurzel war, der ihm Kraft gab, zu wachsen und das Paradies zu finden.
Er berührte ihren heißen, weiblichen Körper, spürte ihre Hände auf seinem, roch ihr Parfum und ihren eigenen Duft, hielt dem Druck ihrer Hüften entgegen und versank im Leben, das aus nacktem Fleisch, Keuchen, Drehen, Drücken, Halten und Loslassen bestand. Er kostete sie, verleibte sich ihr ein, suhlte sich in ihr. Feuchtigkeit, die immer mehr zu einem Strom wurde, tränkte die Erde der Extase und ließ seltsame Pflanzen gedeihen. Die Welt drehte sich und in diesem Moment - kurz vor dem kaum irdischen Ende, in dem er sich vorkam, wie ein in die Luft katapultierter Spielball, der kurz bevor er wieder hinunterfällt in der Luft stehen bleibt - genau in diesem Moment verspürte er das Glück als vollkommenes Gefühl, als einzig erstrebenswertes, göttliches Geschenk, dem gegenüber so viele Menschen einfach blind waren. Ja, das war das Leben, nur so konnte es sich Gott für seine Menschen gewünscht haben.
Eine heiße Flutwelle ergoss sich über das Land, vermischte sie und ihn und machte sie für kurze Zeit zu einer einzigen Einheit im großen Ganzen des Universums. Dann entschwand ihr beider Bewusstsein in einem gemeinsamen, bewusstlosen Schlaf.
Doch dieser Schlaf hielt nicht lange. Bald erwacht Mike und richtet sich, von lauten Geräuschen geweckt, in dem fremden Bett verdattert auf.
„Was ist denn los?“, fragt er das verschwommene Bild, das ihm seine Augen zeigen.
„Ich habe etwas gesucht“, erklingt eine bekannte Stimme und Mike lächelt, sich erinnernd. Genau, das Leben.
Er reibt sich die Augen und kann schließlich Michelle erkennen, die ein Blatt Papier in der Hand haltend, nackt am Fensterbrett des geöffneten Fensters sitzt. Sie ist wunderschön, denkt er und mit neu erlangter Erregung schlendert er zu ihr.
„Ist dir nicht kalt“, fragt er sie.
„Ist das denn wichtig?“
„Wohl kaum“, grinst er. Sie empfindet wohl die gleiche, innere Wärme wie er.
„Ich möchte, dass du etwas liest.“
„Etwas lesen?“, sagt er etwas mürrisch. Wieso sollte er denn jetzt etwas lesen wollen? Am schönsten Tag seines Lebens? „Was ist es denn?“
„Das hier.“ Sie gibt ihm den Zettel. „Und lass dir Zeit.“
Er nimmt ihn und schlendert zu dem Tisch, der mitten im Zimmer steht. Er setzt sich und beginnt zu lesen. Entspannt und zufrieden fängt er an, doch mit jedem Satz verkrampft sich sein Herz mehr und sein Verstand rutscht aus und schlittert ins Unbekannte. Er liest, liest und liest, presst seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um nichts Falsches zu lesen. Und schließlich fällt er. Fällt vom Paradies vertrieben auf die Erde zurück.
Als er den letzten Satz erreicht hat, beginnt er von neuen, liest den ärztlichen Befund immer und immer wieder. Doch auch nach dem vierten Mal stehen die schwarzen Buchstaben hart und unverändert vor dem weißen Hintergrund.
„Positiv?“, winselt er.
„HIV-positiv. Ja.“
Tränen laufen über Mikes Gesicht. Es sind Tränen der Verzweiflung. Wie konnte ihm das jetzt passieren? An dem schönsten Tag seines Lebens? Es war erst eineinhalb Stunden her, als er zu leben begonnen hatte, beginnt er nun zu sterben? Das kann nicht sein! Das ist unmöglich! Unbesiegbar war er, unerreicht! Unmöglich kann das nun sein. Er träumt, es müsse doch ein Traum sein. Ein schrecklicher Traum, ein peinigender Traum. Er ist doch im Paradies gewesen! Wie konnte das so schnell aus sein. Er habe doch nichts Schreckliches gemacht.
Die Gedanken an seine Anwaltskanzlei und an seine Wohnung entflammen sich und verbrennen sein verwirrtes Herz, zerstören seinen Verstand.
„Wie konntest du das tun...“, sagt er leer zu der Frau am Fenster, deren wirklicher Name laut Protokoll gar nicht Michelle ist. „Wie konntest du so etwas nur tun?“ Diesmal brüllt er und hört wie seine Stimme vom Hof vor dem Fenster widerklingt. Ihm ist auf einmal so unglaublich kalt. Es ist der Tod, der ihn nun holt. Weg vom Leben, das gibt es nun nicht mehr. Der Keim ist verdorrt, hat durch seine Wurzel tödliches Gift aufgesogen und wird nun langsam vergehen. Der Boden, auf dem er gelandet ist, ist nicht fruchtbar, er ist verseucht. Verseucht durch Millionen von selbst gemachten Giften!
„Es ist ein Spiel, lieber Mike, ,Coitus Mortale’. Mach dir nichts daraus.“ Erzählt die Frau am Fenster gelassen, die mit keinem einzigen Haar mehr Michelle ist. „Vor drei Monaten hat es mich erwischt. Bin verführt worden, verzaubert und schließlich verteufelt. Es zerstört all unsere Träume, alle Pläne und das Leben, das wir lebten, ist vorüber. Es ist ein Spiel, Mike. Es zerfrisst den Verstand, zersetzt jedes Gefühl, so lange, bis du nur noch daran denkst, Rache zu üben. Rache an dem Menschen, der dir das angetan hat und schließlich an einem Menschen, der so ist, wie du selbst es warst, glücklich, unbekümmert und von seinem eigenen Paradies so gefangen genommen, dass er an nichts mehr denkt. Du warst so wie ich damals. Ich sah die Zufriedenheit in deinem Lächeln. Und ich sah die ignorante Dummheit, die dabei mitschwang. Du warst perfekt.“
Mike hört nicht viel von dem, was die Frau sagt. Sein Verstand hat sich verkrochen, er ist winzig klein geworden. Er hat Angst. Angst vor dem, das Mike nun führen wird.
Wieder rinnen Tränen seine Wangen hinunter, doch diesmal sind es Tränen des Zorns und unmenschlichen Hasses auf sich und die Frau vor dem Fenster.
„Du...“, beginnt er, doch mag ihm kein rechter Ausdruck für das einfallen, was sie ihm angetan hat.
Der Gesichtsausdruck der Frau bleibt gelassen, ja beinahe erwartungsvoll, so als würde ihre lang erhoffte Erlösung bald eintreffen.
Mike springt auf und der Tisch, hinter dem er gesessen ist, fällt laut zur Seite.
„Du Mörderin!“, keucht er und stapft auf sie zu. „Du Teufel!“ Er kommt ihr immer näher.
Die Frau am Fenster schließt die Augen. Sie lächelt.
„Du verdammtes Biest!“ Mike hat sie beinahe erreicht. Der Zorn und die Wut in seinem Verstand sind übermächtig. Der Keim, der einst auf anscheinend so fruchtbarem Boden gelandet ist, stirbt.
Mike erfasst die Hände der Frau. „Du elendiges Miststück!“ Doch statt der erhofften Angst in ihren Augen, sieht er nur ihr erwartungsvolles Lächeln. Voll Abscheu stößt sie Mike vom Fensterbrett. Er hört sie noch „Danke!“ flüstern und dann fällt sie. Er weiß nicht mehr, in welchem Stockwerk er sich befindet, aber sie fällt lange, stumm, ohne einen Laut von sich zu geben.
Schließlich hört er den Aufprall und das Brechen von Knochen.
Er beginnt zu schreien...
Brigitte wird glücklich sein, in den nächsten Wochen, zum ersten Mal seit langem. Seitdem sich ihre Eltern vor fünf Jahren haben scheiden lassen, ist sie nicht mehr richtig glücklich gewesen. Doch das Glück, das sie da verspüren wird, wird nicht lange bei ihr verweihlen.
„Komm schon, Brigitte!“, wird ihre Freundin rufen und nur knapp die laute, basslastige Musik des Nachtclubs übertreffen. Doch Brigitte wird abwinken. Ihr eigenes Paradies wird sie gefangenhalten und ihre Sinne trüben.
So wird sie dann an der Bar bleiben, wird die Menge junger, erfolgreicher Schulabsolventen beobachten und lächeln, bis sie eine warme, kräftige Hand auf der ihren spüren wird. Wenn sie dann zur Seite sieht, wird sie einen großen, gut aussehenden Mann erblicken können.
„Mein Name ist Michel“, werden Lippen an ihrem Ohr flüstern und trotz der schallenden Musik, wird sie die Worte genau verstehen. „Michel“, welch schöner Name.
Die Überraschung und die Freude über ein so nettes, attraktives Gesicht werden ihre Zunge lähmen, doch der Mann wird sich nicht distanzieren. Im Gegenteil.
„Ich wohne nicht weit von hier“, wird er sanft an ihr Ohr hauchen. „Willst du meine Erlöserin sein?"
Und ja, das wird sie wollen. Sie wird austrinken und ihm folgen.