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Cogito ergo sum

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18.08.2003
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Cogito ergo sum

Tiberius Johnson ging an einem warmen Julinachmittag die St. Albert Alley entlang. Die dicht bewachsenen Baumkronen spendeten kühlenden Schatten. Aufgrund der Wärme hatte er sein Jackett ausgezogen und sich lose über den Arm gelegt. Ein Mädchen auf einem roten Fahrrad mit Stützrädern fuhr ihm auf dem Bürgersteig entgegen, um plötzlich in irgendeine Auffahrt abzubiegen. Tiberius lächelte darüber und fiel in eine schlendernde Gangart ein.
Cogito ergo sum, dachte er. Was für ein toller Satz. Cogito ergo sum. Ich denke, also bin ich. Tiberius erfreute sich an der unbestreitbaren Logik dieser Aussage und darüber, daß der Tag genau nach seinem Geschmack temperiert war. Dieser Tag hatte sich bislang alle Mühe gegeben ihm, Tiberius, die Schönheit des Lebens vor Augen zu führen. Er hatte ihm diesen wundervollen Satz gegeben, das schöne Wetter und die Gelegenheit beides zu genießen.
Da ich denke, bin ich oder anders: Ausgehend davon, daß nichts, radikal überhaupt nichts ist, kann ich dennoch sagen, daß ich bin, da ich mir Gedanken über das Nichts mache.
Es bereitete Tiberius eine tiefe Befriedigung, daß er dem Nichts sozusagen soeben noch einmal von der Schippe gesprungen war. Und das dank dieses René Descartes. Ein Teufelskerl, befand Tiberius und war ein wenig stolz darauf, daß er dessen Gedanken nachvollziehen konnte, auf dessen Spuren wandelte.
Ich denke, also bin ich. Damit ergibt alles einen Sinn. Tiberius wünschte sich er würde diesem Descartes einmal begegnen können, um mit ihm über diesen Satz zu reden. Auf die Dauer, fand er, war der Satz alleine zu wenig.
Plötzlich blieb er stehen und zwinkerte mehrmals heftig mit beiden Augen. War da nicht eben, hatten sich nicht? Nein, das konnte nicht sein. Hatten sich da nicht eben die Bäume bewegt? Ein wenig die Wurzeln angehoben, als wollten sie sich strecken nach der langen Zeit des auf der Stelle stehens.
Tiberius zwinkerte wieder. Nein, es war alles, wie es sein sollte. Das mußte an der Sonne gelegen haben, redete er sich ein. Es war auch ein wenig heiß. Die Luft flimmerte. Kein Wunder, daß man sich einbildete Dinge hätten sich bewegt, die sich normalerweise nicht bewegen können. Bäume zum Beispiel.
Tiberius ging weiter. Diesmal ging er ein wenig schneller. Von seiner einstigen guten Laune war nicht mehr viel übrig geblieben. Er schien zu ahnen, daß sich etwas ereignen würde und das wollte er lieber zu Hause, in den eigenen vier Wänden, abwarten.
Der Himmel über Tiberius riß auf. Finsternis kam dahinter zum Vorschein. Tiefste Schwärze. Sie breitete sich rasend aus und hatte bald schon alles verschlungen. Den Himmel, die Bäume, Straße, Vorgärten, Häuser. Einfach alles.
Bis auf Tiberius. Der stand plötzlich alleine da und packte sein Jackett, als wolle er sich vergewissern, daß es sich noch an seinem Platz befand. Er konnte nicht begreifen, was vorgefallen war. Er fand das auch ein wenig viel verlangt von einem kleinen kaufmännischen Angestellten. Wenn er nur nicht so viel Angst gehabt hätte. Die Angst lähmte ihn fast völlig, ließ seine Beine zittern und ihn zusammenhanglose Satzfetzen stammeln.
Endlich begann er zu rennen. Ohne daß eine Veränderung eingetreten wäre, daß die Finsternis ihm einen Weg freigegeben hätte, rannte er.
Er rannte die St. Albert Alley herunter bis zu ihrem Ende, das nur in seiner Einbildung existierte. Dann bog er nach links in die gleichfalls entmaterialisierte Avendale Road ein, wo er zu Hause war.
Irgendwie gelangte er in sein nicht mehr existentes Haus und lehnte sich schwer atmend gegen dessen Phantomtüre.
Die Finsternis zog sich zurück. Es gab keine Anzeichen dafür, daß sie besiegt worden wäre. Ihr Rückzug schien kein Eingeständnis einer Niederlage zu sein, sondern Einsicht in eine Notwendigkeit. Ihre Zeit war noch nicht gekommen.
Hinter den schützenden Mauern seiner Wohnung beruhigte sich Tiberius allmählich. Was er gesehen, beziehungsweise, das er zu sehen aufgehört hatte, erklärte er sich als plötzliche Fehlfunktion seines Körpers. Ihm war aufgrund einer Kreislaufschwäche plötzlich schwarz vor Augen geworden. Instinktiv hatte er durch das Laufen das einzig richtige getan; durch Bewegung seinen Kreislauf wieder angeregt. Einmal in Fahrt gekommen, analysierte er auch, was weiter mit ihm geschehen wäre. Nämlich Ohnmacht und anschließend Tod durch plötzlichen Herzstillstand. Einfach so, auf offener Straße und in der Blüte seines Lebens. Die Schlußfolgerung, die sich für Tiberius daraus ergab war, daß er seinem Kreislauf zuliebe mehr Sport treiben müsse.
In der Nacht schlief Tiberius schlecht. Immer wieder erwachte er aus unruhigen Träumen, deren Inhalt er im Augenblick seines Erwachens bereits wieder vergessen hatte. Er hatte eine Ahnung, daß sie in Zusammenhang mit dem Vorfall am Nachmittag standen. Eine Tablette aus der umfangreichen Hausapotheke setzte seinem umtriebigen Unterbewußtsein schließlich ein Ende.
Der nächste Morgen fand Tiberius schon früh in Anzug und Krawatte in seinem Büro sitzend. Er überflog seine Korrespondenz. Es gab nichts für ihn zu tun. Den Vormittag brachte er damit zu sein Büro auf, beziehungsweise umzuräumen.
Dann kam die Mittagspause, zu der ihn niemand eingeladen hatte und er niemanden einlud, da er in melancholischer Stimmung war.
Schließlich die endlosen Stunden vor Büroschluß.
Cogito ergo sum. Cogito. Ergo. Sum. Ich denke. Also. Bin ich. Immer wieder zerlegte er den Satz in seine Bestandteile, drehte sie, betrachtete sie interessiert, wie ein kompliziertes, mechanisches Spielzeug. Er näherte sich der darin eingebetteten Botschaft, wie ein schüchtern Liebender sich seiner Angebeteten nähert. Langsam, furchtsam, immer bereit sich plötzlich wieder zurückzuziehen und jegliches Interesse an ihr zu leugnen.
Irgendwann im Verlaufe des Nachmittages legte er seine selbstauferlegte Zurückhaltung ab und widmete seine ganze Energie diesem Satz.
Er überlegte sich, daß Descarte ihm zwar einen Aussichtspunkt gegeben hatte, von dem aus er die Welt betrachten konnte, aber nicht mehr. Es gab keinen Kompaß, keine Karte, die ihm half, diese Welt, die sich logisch zergliedert vor ihm ausbreitete, zu bereisen.
Ja, ihn gab es. Aber was gab es noch? Was ließ sich denn noch feststellen, außer dem Cogito ergo sum, das auf seiner Zunge allmählich schal zu schmecken begann. Was ist denn noch, außer mir?
Erst einmal mußte er ein Haus schaffen, ehe dort jemand einziehen konnte. Bislang war er alleine auf der Welt und er ahnte, daß das ziemlich einsam werden würde.
Tiberius machte sich mit Feuereifer daran, voranzutreiben, was der französische Philosoph dreihundert Jahre zuvor verwaist zurückgelassen hatte.
Meine sensorischen Fähigkeiten übermitteln mir keine verläßlichen Werte, begann er. Ich muß also davon ausgehen, daß nichts ist, ehe ich es nicht durch logisches Denken bewiesen habe. Meine Existenz ist bereits bewiesen. Von ihr kann ich als einziges als gegeben ausgehen. Wenn ich aber bin, dann muß auch etwas vor mir gewesen sein. Descarte hatte hier Gott eingebracht, aber Tiberius dachte prosaischer an seine Eltern. Da ich bin, sind auch meine Eltern gewesen. Und deren Eltern und deren Eltern und deren, bis. Bis was? Bis zum Beginn der Evolution? Urbrei, Urmeer, Urwasauchimmer. Urknall.
Unruhig schaukelte Tiberius auf seinem Bürostuhl hin und her. Bis jetzt war er ganz logisch vorgegangen. Doch die Richtung, in die seine Beweisführung sich bewegte, behagte ihm nicht. Wie konnte er eine Theorie, und sei sie noch so wahrscheinlich, zur Grundlage einer Beweiskette machen?
Eine Sekretärin betrat Tiberius Büro. Der Anblick, der sich ihr dort bot, war befremdlich. Mr. Tiberius Johnson, abgesehen von seinem eigentümlichen Vornamen bislang eine graue Maus, über die kein Wort zu verlieren gewesen war, hatte sich sein Jackett ausgezogen, den obersten Knopf seines Hemdes aufgeknöpft und die Krawatte gelockert. Hinzu kam, daß er sich seine Schuhe ausgezogen und sie ordentlich vor dem Schreibtisch drapiert hatte.
In Socken und derangierter Aufmachung wanderte er von einer Ecke seines winzigen Büros zur nächsten. Dabei schien er heftig murmelnd mit sich selbst im Streit zu liegen. Das Eintreten der Sekretärin hatte er nicht bemerkt. Sie mußte ihn mehrmals und mit wachsender Lautstärke ansprechen, ehe er sie zur Kenntnis nahm.
„Ja?“ fragte er, über Gebühr erstaunt über ihre Anwesenheit. „Ist denn etwas? Ich meine...“ Er brach hilflos mitten im Satz ab. Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn.
„Es ist nichts“, beeilte sich die Sekretärin zu versichern und deutete auf die orangene Mappe in ihren Händen. Tiberius nahm sie bereits nicht mehr wahr. Bei ihren Worten, es sei nichts, hatte er seine unruhige Wanderung wieder aufgenommen.
Wie er so gesenkten Hauptes unverständlich murmelnd auf und ab lief, schien er der Sekretärin nicht ansprechbar zu sein. Verstört über sein seltsames Verhalten, unternahm sie keinen weiteren Versuch seine Aufmerksamkeit zu erregen und trat den Rückzug an, nachdem sie ihm die Mappe auf den Schreibtisch gelegt hatte. Das Geräusch der sich schließenden Türe riß Tiberius jedoch ein weiteres Mal aus seinen Überlegungen. Er zog sich gedankenverloren Jackett und Schuhe an und verließ das Büro.
Als er auf die Straße trat, atmete er tief ein und fühlte sich sogleich freier. Die frische Luft tat ihm merklich gut und beflügelte auch seine Gedanken, die sich in seinem Kopf bereits im Kreis zu drehen begonnen hatten.
Tiberius schlug den Weg Richtung Innenstadt ein und hielt die Augen offen. Mit einer Intensität wie nie zuvor betrachtete er seine Umgebung. Er versuchte sie sich bewußt zu machen. Wozu das gut sein sollte, hätte er aber selbst nicht zu sagen gewußt.
Schließlich stand er inmitten der Fußgängerzone. Wie er dorthin gekommen war, wußte er nicht. Er hatte sich so sehr darauf konzentriert, sich seiner Umgebung bewußt zu werden, daß er darüber vergessen hatte auf den Weg zu achten.
Tiberius begann die vorbeischlendernden, hastenden Menschen zu beobachten. Er ließ seinen Blick weiter zu den Schaufenstern der Geschäfte schweifen, den angeschlagenen Plakaten an dem Bauzaun und der Plastik am Rande der Fußgängerzone. Von dort aus wieder zu den Menschen, zu den Schaufenstern, zum Bauzaun, der Plastik. Zu den Menschen, Schaufenstern, Bauzaun, Plastik. Plastik, Bauzaun, Schaufenster, Menschen. Hin und her und wieder zurück.
Solange, bis er eine Veränderung zu bemerken begann.
Langsam lösten sich die Konturen der ihn umgebenden Gebäude auf. Zunächst wurden nur ihre Ränder unscharf, begannen sich aufzulösen. Dann griff es auf die eigentliche Struktur der Gebäude über, bis sie frei schwebende Farbkleckse waren. Und bald nicht einmal mehr das.
Tiberius sah sich nach dem Bauzaun um, konnte ihn aber nicht mehr entdecken. Er suchte ihn eine Weile, gab es dann aber auf. Er war verschwunden, wie die Gebäude und die Plastik, hatte sich unter der Schärfe seiner Blicke in Nichts aufgelöst.
Danach wandte sich Tiberius wieder den Menschen zu. Er sah ihnen gezielt in die Augen und auf die Stirn. Wenn sie so dachten, wie er dachte, konnten ihnen seine Blicke nichts anhaben, dachte er. Doch die Menschen blieben ihm verschlossen. Seine Blicke prallten von ihren Stirnen ab. Schließlich lösten auch sie sich auf und er blieb alleine zurück. Um ihn herum war nur Finsternis.
Tiberius machte auf dem Absatz kehrt und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Der nächste klare Gedanke fand ihn vor dem Bürohaus stehend. Er ging hinein und setzte sich in sein Büro. Da es dunkel geworden war, schaltete er die Schreibtischlampe ein. Nichts ist, dachte er. Ich bin alleine.
Irgendwann im Verlaufe des Abends, wurde die Türe seines Büros geöffnet und die korpulente Statur Mr. Cunningworths füllte den Türrahmen aus. Tiberius Chef war gekommen, um nachzusehen, welcher seiner Angestellten zu so später Stunde noch arbeitete. Er fand Tiberius unbeweglich ins Leere starren und seine Anwesenheit nicht zur Kenntnis nehmend. Mehrfach versuchte er ihn anzusprechen, wurde jedoch beharrlich ignoriert. In seiner Hilflosigkeit versuchte Mr. Cunningsworth es mit Schreien, Fluchen und mit Drohungen. Nichts zeitigte einen Erfolg. Er verstieg sich sogar dazu, mittlerweile in aufrichtiger Sorge um Tiberius, gegen ihn handgreiflich zu werden. Er packte ihn am Kragen und schüttelte ihn ordentlich, schlug ihm mit der flachen Hand in das Gesicht. Freilich ohne Ergebnis.
Schließlich rief Mr. Cunningsworth den Notarzt an.
Da Tiberius offensichtlich ein Fall für die Psychiatrie war und keine Angehörigen hatte, wurde er schon nach wenigen Tagen in ein Sanatorium überwiesen. Zunächst nur vorläufig. Aber die krankenhauseigenen Psychologen hatten keine Hoffnung auf eine schnelle Heilung. Ein seltsamer Patient, fanden sie. In einigen seltenen Augenblicken hatte er genug Geistesgegenwart bewiesen, um sich seiner Lage bewußt zu sein, war dann aber wieder in sein stumpfes Brüten verfallen, aus dem ihn niemand erwecken konnte.

Tiberius erwachte in dem kleinen Raum, in dem sie ihn untergebracht hatten. Natürlich wußte er nicht, ob dieser Raum real war. Er nahm es aber an, um nicht verrückt zu werden oder den Grad seines Wahnsinns noch zu steigern. Denn dafür, daß er klaren Verstandes sei, fehlten ihm jegliche Anhaltspunkte. Mit langsamen Bewegungen drehte er sich auf dem harten Stuhl um, um auch den rückwärtigen Raum einsehen zu können. War die spärliche Einrichtung ein Indiz dafür, daß er sich in der wirklichen Welt befand? Sicher hätte ihm seine Phantasie eine luxuriösere Unterkunft gewährt. Eine mit einem Sessel und einem Teppich. Tiberius spürte das heiße Verlangen in sich aufsteigen ein Bild an der Wand zu sehen. Ganz gleich welcher Qualität und was es darstellen mochte. Nur ein Farbklecks an der Wand, an dem sich seine gequälte Seele erfreuen könnte. Er stellte sich vor, wie er dieses Bild von seinem Stuhl aus betrachten würde. Kein Detail, nicht das geringste, würde seinem durstigen Augen entgehen. Weder die Grobkörnigkeit der Leinwand (oder sollte das Bild auf Holz gemalt sein?), noch die Verdickung des Farbauftrages. Dann war dieser karge Raum also die Realität. Er war in ein Sanatorium gebracht worden, mit vergitterten Fenstern und einer Einrichtung, die jeden Gedanken an Selbstmord durch seine Sinnlosigkeit bereits im Ansatz ersticken sollte.
Tiberius stellte fest, daß diese Tatsache ihn beruhigte.
Dieses Sanatorium, in dem er sein Leben beschließen würde, war etwas greifbares. In seiner Tristesse war es ein Ort, von dem man sich sicher sein konnte, daß er keine Wahnvorstellung sei. Tiberius nahm nicht an, daß das Gebäude denken konnte, doch existierte es. Er konnte es sehen, wenn er wollte sogar anfassen. Er war sich sicher, daß er sich einen solchen Ort in seinen schlimmsten Alpträumen nicht vorstellen konnte.
Darum mußte das Sanatorium echt sein.
Die kleine verzogene Türe öffnete sich quietschend. Menschen strömten in den Raum, bis er so voll war, daß sie mit den Knien aneinanderstießen. Sie betrachteten ihn stumm. Er blickte zu ihnen auf. Er sah in ihre hageren, grauen Gesichter und fand sie leer. Ihre großen Köpfe saßen schlecht auf ihren Schultern und baumelten haltlos auf ihnen hin und her, als sie Worte zu sprechen begannen, die er nicht verstand. Er wollte flüchten, konnte sich aber nicht rühren.
Da die Gestalten Arztkittel trugen und sich Stethoskope um ihren Hals wanden, blieb er.
Vielleicht, so vermutete Tiberius, war dies Teil der Therapie, die er über sich ergehen lassen mußte, um wieder gesund zu werden. Gewiß waren diese Köpfe ihm wohlgesonnen, begann er sich einzureden.
Sie ängstigten ihn . Lieber wäre er alleine geblieben.
Sie sprachen noch immer in fremden Zungen miteinander. Ihre Köpfe wogten dabei hin und her, wie ein Meer aus Bällen. Tiberius wünschte sich, er könne sich in sich selbst zurückziehen oder wenigstens seinen Blick von ihnen abwenden, doch er war vor Angst wie gelähmt.
Ein Kopf, es mußte der Anführer sein, redete Tiberius in unverständlicher Sprache an, erkundigte sich nach seiner Befindlichkeit. Zu seiner Verwunderung hörte Tiberius sich ihm antworten, daß es ihm gut ginge. Nur wünsche er sich , daß man ihm ein Bild erlaube. Es sei ihm auch gleichgültig, ob es auf Holz gemalt sei oder auf Leinwand, ob es gut sei oder schlecht. Nur ein Farbklecks an der Wand, an dem sich seine gequälte Seele erfreuen könne.
Der Kopf verneinte in ausschweifender Rede. Es sei gegen die Vorschriften und daher nicht zu verantworten. Ob er, Tiberius, übrigens etwas dagegen einzuwenden hätte, daß er seine Studenten mitgebracht habe.
Wieder mußte Tiberius miterleben, wie er dem Kopf antwortete. Er sagte, daß er nichts dagegen einzuwenden hätte. Im Gegenteil, er freue sich über diese Abwechslung in seinem Alltag. Jeder Anlaß, der etwas Farbe in sein Leben brächte, sei ihm willkommen.
Der Kopf vernahm es lächelnd und begann sich, wortreich zu verabschieden, doch das hörte Tiberius bereits nicht mehr. Seine Gedanken schweiften in die Zeit an, ehe man ihn in das Sanatorium gebracht hatte.
Er sah sich an einem goldenen Sommertag eine schattige Alle entlang schlendern, die Hände in den Taschen einer weißen Hose vergraben. Die Baumkronen wogten leise rauschend im streichelnden Wind, der vereinzelte Geräusche aus den umliegenden Häusern an sein Ohr trug. Die Straße lag still und friedlich vor ihm. Nur ein kleines Mädchen mit einem roten Fahrrad und Stützrädern kam auf ihn zu. Dann verschwand es klingelnd und lachend in irgendeiner Auffahrt.
Tiberius sah sich selbst auf dem Bürgersteig, die Hände in den Taschen einer weißen Hose vergraben. Wohl aufgrund der Wärme war der oberste Knopf seines Hemdes geöffnet. Er mußte genau hinsehen, aber es schien ihm beige zu sein.
Tiberius war überrascht, was für ein gutaussehender Kerl er gewesen war. Es hätte ihn nicht sonderlich verwundert, hätte er eine Melodie gepfiffen oder gesummt. Doch plötzlich sah Tiberius sich stehenbleiben, sich mit einem Ausdruck ungläubigen Staunens umblicken. Hatte es da begonnen, hatte er in diesem Augenblick zu zweifeln begonnen, daß sein Leben real war?
Die Bäume schwankten, das Licht der Sonne flimmerte. Was siehst du, Tiberius? Siehst du zum erstenmal das gesichtslose Nichts, die unendliche Finsternis, die jetzt dein ständiger Begleiter ist?
Tiberius zwinkerte und die kahlen, grauen Wände seiner Zelle betrachteten ihn mit ausdrucksloser Gelassenheit. Der Raum war leer. Die Köpfe waren weitergerollt. Sie hatten noch einen weiten Weg vor sich, den zellenumsäumten Flur herunter.
Tiberius fand sich wieder mit sich selbst alleingelassen, auf einem harten Stuhl sitzend. Er stand auf und ging zwei Schritte auf die gegenüberliegende Wand zu. Seine Schuhe mit den Gummisohlen quietschten leise auf dem Linoleumfußboden. Seine Hand strich zärtlich über die kühle Wand. Sie schien ihm glatt und rauh zugleich zu sein. Es waren kleine Erhebungen vom Putz darin, doch der Anstrich hatte sie glasiert, so daß seine Finger beinahe ohne Reibung an ihr entlangstrichen. Wichtiger war Tiberius jedoch, daß die Wand fest und unnachgiebig war. Dieser Raum würde seine Festung gegen das alles verschlingende, alles zermalmende Nichts sein.
Zufrieden kehrte Tiberius wieder an seinen Platz auf dem harten Stuhl zurück und fuhr darin fort in aufgeräumter Stimmung die Wand zu betrachten.
Vielleicht, überlegte er sich, sollte er ein oder zweimal in die Hände klatschen, um seiner Freude über die neugewonnene Sicherheit Ausdruck zu verleihen. Er entschied sich schließlich dafür und war mit dem Ergebnis leidlich zufrieden.
Tiberius wußte, er war, existierte, lebte. Aber der Rest. Er wußte nicht, konnte nicht wissen, ob der Rest existierte. Wenn er nur einen Beweis hätte, ein Indiz, an dem er das ganze Universum aufhängen könnte. Es mußte doch, von sich ausgehend etwas geben, daß er als genauso gegeben voraussetzen konnte wie sich selbst.
Gott, vielleicht Gott. War seine Existenz nicht ein sichtbarer, unwiderlegbarer Beweis für die Existenz Gottes?
Welchen Gottes, schrie es in Tiberius Inneren. Den der Christen, Allah, Kali, Jupiter, Jehova oder vielleicht Buddah? Einige negieren die Existenz des anderen, während wieder andere ein und derselbe sind, unter anderem Namen und in anderer Gestalt.
Rechtfertigt meine Existenz die Annahme, daß es ein göttliches Wesen gibt oder bin ich das Produkt eines Millionen von Jahren andauernden Evolutionsprozesses? Beides ist unbeweisbar.
Ist meine Existenz also Beweis genug für ein höheres Wesen, einen göttlichen Schöpfer?
Tiberius hätte so gerne daran geglaubt, aber sein Inneres forderte unwiderlegbare Beweise, keine theologische Mystik. Mit einem Beweis konnte er sich aber nicht dienen.
An der Wand erschienen graue Blasen. Sie erreichten die Größe einer kleinen Murmel und verschwanden in einer Erruption.Tiberius verstand nicht, betrachtete die Eigenartigkeit erstaunt, ohne sich zu rühren. Es wurden mehr Blasen. Sie wuchsen auf Murmelgröße heran und zerplatzten dann, pockennarbengleiche Krater hinterlassend. Immer mehr Blasen erschienen, immer schneller durchliefen sie ihre Metamorphose. Schon hatte sich das Geräusch der zerplatzenden Blasen zu einem andauernden Trommelwirbel gesteigert, als die Wand sich an einigen Stellen aufzulösen begann. Widerstrebend ließ sie von ihrer einstigen Konstitution ab und wurde zu einer zähen weichen Masse, gummiartig, lehmgleich.
Erst jetzt weiteten sich Tiberius Augen vor Entsetzen, öffnete er seinen Mund, um einen Schreckensschrei in die Freiheit zu entlassen. Er rutschte weiter auf seinem Stuhl herauf, stellte die Füße auf die Sitzfläche und umfaßte die Beine, unfähig den Blick von der Wand zu nehmen.
Die Türe zu seiner Zelle wurde aufgestoßen. In dem sich auflösenden Rahmen erschien ein Pfleger. Tiberius nahm an, daß es sich bei der Gestalt um einen Pfleger handelte. Er sah, wie sie ihn entsetzt anstarrte und danach die Zelle eilig verließ, ohne die Türe vorschriftsmäßig hinter sich zu schließen.
Tiberius blickte wieder zur Wand. Er sah geradewegs einem kleinen Geysir, der im Begriff stand auszubrechen, in das Auge. Weiter den Stuhl heraufzurutschen, der das einzige von Bestand in diesem Raum zu sein schien, war ihm unmöglich. Einen Augenblick lang wünschte er sich einen Baum herbei, in dessen schützender Krone er hätte Zuflucht finden können. Aber solchen Gelüsten hatten die Erbauer des Sanatoriums keine Rechnung getragen.
Ehe er es sich versah, fand Tiberius sich auf dem Flur wieder und begann zu rennen. Wohin er sich wandte, war ihm gleichgültig. Er rannte durch entfernt vertraute Gänge, durchquerte unverschlossene Eisentüren und hielt erst in seiner ziellosen Flucht inne, als ihm die Luft ausging.
Mit einer Hand stützte er sich gegen eine Wand – diese Kühle, diese Festigkeit – und rang schwer atmend nach köstlicher Luft, die nur zögernd seine Lunge zu füllen begann.
Erst als er sich soweit beruhigt hatte, daß das Wummern in seiner Brust – sein Herz! verklungen war, wagte er es sich umzusehen.
Dieser Trakt des Sanatoriums war ihm unbekannt. Das stumpfe Linoleum auf dem Fußboden war einem Läufer gewichen, das Einheitsgrau der Wände einem hellen Ocker. Von Zeit zu Zeit wurde es von Photographien und Bildern unterbrochen, die in unregelmäßigen Abständen an den Wänden hingen.
Staunend ging Tiberius den Gang entlang und betrachtete die Bilder. Einige zeigten Berglandschaften, andere Blumenwiesen. Wieder andere zeigten eine Uferpromenade oder einfach nur das Meer. Gemein war allen Bildern, daß kein Mensch die Idylle der Natur störte. Tiberius fand, daß die Bilder zu dem Flur paßten. Er hatte den Eindruck, als wäre er der erste Mensch, der diesen Teil des Sanatoriums betrat. Auf eine eigentümliche Weise rührte ihn das an. Er beschloß den Flur weiter zu erkunden.
Als Tiberius die nächste Türe aufstieß, die aus Holz, nicht aus Stahl und Panzerglas gefertigt war, fühlte er sich wie ein Entdecker. Vor uns liegt die Passage zwischen Nord- und Südamerika. Laßt uns hindurchsegeln und sehen, was auf der anderen Seite ist. Auf der anderen Seite waren weitere Läufer, weitere Bilder und ein Fenster.
Tiberius stürzte darauf zu. Er umklammerte das Fensterbrett, bis die Gelenke weiß hervorstachen und starrte nach draußen.
Draußen, jenseits des Fensters, ging gerade die Sonne unter. Sie tauchte einen Garten in ein mildes Licht voller Rot- und Violettöne. Tiberius betrachtete das sich ihm darbietende Schauspiel, bis in der hereinbrechenden Dunkelheit die Schatten miteinander verschmolzen und die Konturen der Bäume und Büsche sich auflösten. Finsternis machte sich breit, aber Tiberius fürchtete sich nicht. Es wurde dunkel, weil es Nacht wurde. Er erinnerte sich, daß das so sein mußte.
Tiberius seufzte erleichtert und entspannte sich. Er verließ das Fenster nicht, sondern wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten und er wieder etwas erkennen konnte. Erst als sich die Pflanzen des Gartens, die Bäume, Büsche, die Blumen, das Gras und die Mauer schwarz vor dem Hintergrund der blauen Nacht abzeichneten, erlaubte er seinen Gedanken in freieren Bahnen zu laufen.
Er, Tiberius, stand sich seiner bewußt an einem Fenster, sich des Fensters bewußt und blickte auf einen Garten, den er sich in der letzten Stunde bewußt gemacht hatte. Seine Gedanken schienen unausgesetzt in Bewegung zu sein. Sie eilten hinaus in den Garten und kehrten mit der Bestätigung dessen zurück, was er sah.
Da draußen ist ein Garten, meldeten sie ihm. Er ist von einer hohen Mauer umgeben. Auf deren Krone sind Eisenstachel eingelassen, wahrscheinlich, um zu verhindern, daß sich jemand darüber schwingt und die Straße erreicht, die vermutlich dahinter verläuft.
Aber nicht alle Gedanken waren dieser Meinung. Einige meldeten Zweifel an, mahnten zur Vorsicht. Du glaubst, daß sich hinter dem Fenster ein Garten erstreckt, der von einer Mauer umfaßt wird, hinter der vermutlich eine Straße verläuft, Tiberius. Du glaubst, daß du in einem Flur an einem Fenster stehst. Woher willst du wissen, daß es wahr ist?
Tiberius löste sich langsam von der Fensterbank, wissend, daß er ihre Festigkeit nicht länger würde spüren können.
Er sehnte sich einen Retter herbei, aber dergleichen war nicht in Sicht.
Er stolperte weiter den Flur entlang, jeden Schritt vorsichtig aufsetzend, als liefe er auf trügerischem Grund. Wohin er wollte, wußte Tiberius nicht. Er wußte nicht einmal, ob es ein wohin gab. Es schien ihm nur sinnlos zu warten, bis die Finsternis ihn eingeholt haben würde.
Armer Tiberius. Wir wissen, daß es gleichgültig ist wohin er sich wendet. Er trägt seine Finsternis in sich.
Viele Türen weiter, viele Flure später, stand Tiberius in einer weitläufigen Halle. Sie war kreisrund und wies in ihrer gegenüberliegenden Seite eine verglaste Türe auf. Er ahnte mehr als das er wußte, daß das Sanatorium hier zu Ende war. Vor ihm mußte das Tor zur Freiheit liegen. Kein Cerberus bewachte es. Die Halle war durch einen Zufall menschenleer, die Plätze am Empfang verwaist. Dennoch zögerte Tiberius, nach draußen zu treten. Er fühlte sich nicht als Gefangener. Die Unfreiheit des Sanatorium hatte er nie als Verlust von Freiheit empfunden. Schließlich war es in seiner Situation gleichgültig, wo er sich befand. Und doch durchmaß er jetzt die Halle mit weit ausholenden Schritten, ohne den Blick von der Glastüre zu nehmen. Halb hoffte, halb fürchtete er jemand könne ihn im letzten Moment zurückrufen.
Es geschah nichts. Kein Rufen, kein Trappeln herbeieilender Füße. Er stieß die Eingangstüre auf und stand vor dem Sanatorium. Kühle Nachtluft umgab ihn. Einen Augenblick war er versucht seinen Aufenthalt hier als eine seiner Wahnvorstellungen abzutun. Doch er schob den Gedanken beiseite.
Mit einer bemerkenswerten Sicherheit, als würde er diesen Weg jeden Tag zurücklegen, ging Tiberius die kiesbedeckte Auffahrt zur Straße herunter. Es kam jetzt nicht mehr darauf an, wohin er sich wandte. Das er ging war genug. Jeder Schritt führte ihn weiter weg von der Finsternis, weiter weg von dem Tiberius, der in seiner Zelle auf einem Stuhl saß und die sich auflösende Wand anstarrte. Es war ihm, als entferne er sich aus einem Leben und beträte ein neues.
Als Tiberius die Straße erreichte, zog er seine wollene Strickjacke fester um sich und bereitete sich auf einen langen Fußweg in die Stadt vor. Er wußte, daß er hier schon einmal gewesen sein war, als man ihn in das Sanatorium gebracht hatte, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern.
Auf seinem Weg in die Stadt begegnete Tiberius niemandem. Es schien ihm, als sei die Welt mit einem Kehrbesen von allem Leben gesäubert worden. Sein Weg führte ihn eine Weile an einem Wald entlang. Aber selbst von dort drangen keine Geräusche, die auf Leben darin hätten schließen lassen können, an sein Ohr. Nur seine Schritte auf dem asphaltierten Gehweg und das Rauschen der Blätter und Zweige im Wind, verhinderten einen Absolutismus der Stille.
Die Eintönigkeit seines Weges machte es Tiberius unmöglich, seinen umtriebigen Geist ständig unter Kontrolle zu halten. Von Zeit zu Zeit durchbrach ein Gedanke die Barriere, die er um sich gelegt hatte.
Schritt, Schritt, Schritt, Laterne. Schritt, Schritt, Schritt, Laterne. Schritt, Schritt, Schritt, nächste Laterne.
Wenn ich bin, weil ich denke, sind dann nicht auch, weil sie denken? Schritt, Schritt, Schritt, Laterne. Schritt, Schritt, Schritt, nächste Laterne.
Oder sind sie nur in meiner Vorstellung, denken daher nicht, sind nicht mehr als dieser Baum oder jene Laterne, bloße Produkte meiner krankhaften Phantasie?
Still endlich. Schritt, Schritt, Schritt, Schritt, Laterne. Laterne.
Aber existieren sie nicht unabhängig von meiner Phantasie? Handeln, wenn ich nicht in ihrer Nähe bin? Das wäre ein Beweis für eigenständiges Denken, von mir unabhängiges Sein.
Tiberius ergab sich. Es gelang ihm nicht, seine Gedanken zu verdrängen. Jetzt wollte er sich ihnen stellen und seinen Kampf austragen. Dieser Ort schien ihm geeignet zu sein. In der Nähe hörte er das Wasser eines mondbeschienenen Weihers glucksen. Die Feuchtigkeit der Nacht machte die Gerüche des Waldes schwer, daß selbst er sie wahrnehmen konnte. Der Geruch von Tannennadeln auf dem Boden, feuchten Harzes an den Stämmen und des niedergedrückten Grases, das den neuen Tag erwartet, der es von der Last des Taus befreien soll.
Wenn es ihm nicht gelänge, sich selbst zu beweisen, daß es mehr als nur ihn und dem Nichts gäbe, wollte Tiberius sich dem Wasser in die Arme werfen und selber zu Nichts werden.
Breitbeinig baute Tiberius sich in der Mitte des Gehwegs auf und stemmte die Arme in die Hüfte.
„Also los“, forderte er sich heraus. „Tragen wir es aus.“
Wenn die Menschen ebenso denken wie ich, dann sind sie ebensosehr oder sowenig real, wie ich es bin.
Aber vielleicht existieren sie nicht auf der selben Ebene wie ich. Vielleicht sind sie eine andere Dimension und was ich sehe sind nur Schatten von dem, was sie eigentlich sind.
Ändert das etwas? Es geht ja nur darum, ob sie existieren. Ich meine, ich habe keinen Beweis dafür, daß sie nicht auf der selben Ebene sind wie ich.
Tiberius knickte ein und kam hart mit den Knien auf dem Asphalt auf. Er hatte seine Kraft überschätzt. Er war noch nicht soweit, es mit sich aufzunehmen.
Seine Arme umfaßten seinen zitternden Körper. Ihm war kalt, ihm fror.
Warum muß ich immer das Schlimmste annehmen? Warum sollten die anderen Menschen auf einer anderen Ebene leben, wo ich ihre Existenz doch bewiesen habe. Und überhaupt; warum darf ich meinen Sinnen nicht trauen? Ich sehe doch, höre und fühle. Aus welchem Grund sollten meine Sinne mir Trugbilder vorgaukeln?
Weil ich nicht glauben kann, was ich nicht beweisen kann, Tiberius. Ich nicht. Ich suche die Wahrheit. Und mit etwas anderem, als mit der absoluten, unwiderlegbaren Wahrheit, kann ich mich nicht zufrieden geben.
Aber nehmen wir einmal an ich hätte die Existenz der anderen Menschen einwandfrei bewiesen, was nicht der Fall ist. Was ist dann mit dem Rest? Was ist mit den Bäumen, dem Gras, dem Boden, auf dem du zu knien glaubst?
„Ich kann nicht“, murmelte der geschlagene Tiberius. „Ich kann einfach nicht mehr.“
Vielleicht weil alle anderen sie auch sehen. Können denn unsere Sinne uns allen die gleichen Trugbilder vorgaukeln?
Aber Tiberius. Die Wahrheit ist doch kein Mehrheitsbeschluß. Mit einem solch armseligen Argument kann ich mich nun wirklich nicht überzeugen.
„Nein“, sagte Tiberius und erhob sich mühsam, ächzend. Mit wankenden Schritten ging er in den Wald. Der Feldweg war naß und morastig. Schon nach wenigen Schritten hatte die Feuchtigkeit der Gräser seine Stoffschuhe durchdrungen. Aber Tiberius war es gleichgültig. Sein Ziel war der kleine See, den er von der Straße aus gehört hatte.
Hinter einer Wegbiegung lag er plötzlich da. Tiefschwarz, finsterer als alles, was Tiberius bisher gesehen hatte. Das Wasser schien von einer Farbe zu sein, die Abwesenheit von Farbe war. Nur in der Mitte, wo die Baumkronen den See nicht mehr vom Mondlicht abschirmten, glänzte es silbern.
Tiberius verspürte keine Angst, als er einen Fuß in das kalte Naß setzte und die Unberührtheit des Wassers durch sich rasch ausbreitende, konzentrische Kreise störte. Eher lockte es ihn noch.
Das Wasser war kalt, eiskalt. Er schreckte nicht zurück und zwang sich zu einem zweiten Schritt. Seine Beine überzogen sich mit Gänsehaut, an der der grobe Stoff seiner Hose unangenehm scheuerte. Ein dritter Schritt folgte, ein vierter.
Er zwang sich nicht darüber nachzudenken, was er tat. Nur weitergehen. Das Wasser war schon nicht mehr so kalt. Ein fünfter Schritt, sechster, siebter.
Jetzt geriet er an den Rand des Mondlichts. Zehn, elf , zwölf. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis er die Mitte des Sees erreicht haben würde. Seine Zähne begannen zu klappern.
Wenn alles nur Einbildung ist, warum zittere ich dann so, warum fühle ich mich dann so erbärmlich, höhnte er.
Neunzehn, zwanzig. Es schien Tiberius, als habe er die Mitte des Sees erreicht. Die tiefste Stelle. Aber das Wasser reichte ihm gerade bis an den Schritt.
So einfach kommst du nicht davon, Tiberius. So einfach nicht. Es gibt noch soviel zu überdenken, so viel zu diskutieren.

 

Uff. Ich habs geschafft..

Hallo Hamilkar!
Eine interessante Geschichte und trotz der Länge recht kurzweilig.
Nur leider finde ich das Schicksal vom armen Tiberius ein wenig erschreckend. Denn eigentlich macht er sich doch Gedanken, die jeder von uns schon mal gehabt hat.
Die Art und Weise, wie du dich mit Descartes' Zitat auseinandergesetzt hast, hat mir gefallen.

 

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