cigarette.
»Hey Clara!«
Im Hintergrund rauschte es und Sammy's Stimme klang verzerrt. Sie hatte schon 3 Mal versucht anzurufen, doch jedes Mal hatte Clara ihr läutendes Handy ignoriert. Ihr war nicht danach, die Stimmen anderer zu hören. Sie hatte Angst, nachzugeben.
»Wie geht es dir? Hast du Lust, heute etwas zu machen?«
Sammy klang glücklich, wie eh und je. Sie kannte das Mädchen sicher schon 2 Jahre lang und noch nie hatte sie Sammy traurig erlebt, was einfach daran lag, dass sie nie traurig war. Manchmal überlegte sie, ob sie Sammy's ganze potentielle Trauer auf sich lud und damit dann durch die Gegend wandelte. Obwohl sie im Moment eher unter der Last kroch. Doch das konnte sie Sammy nicht erzählen.
Clara fing gar nicht erst an, abzuwiegen, ob es klug wäre, sie zu belügen. Sie sprach wie von selbst die Worte aus, die sie jedem behutsam entgegenbrachte, um danach wieder alleine sein zu können.
»Mir geht es gut, leider braucht mich meine Mutter beim Kochen, also ist heute schlecht.«
Clara's Mutter war auf einer Geschäftsreise. Sie würde sicher noch eine Woche fort sein, doch das musste Sammy ja nicht wissen.
Es reichte, dass sie sich enthusiastisch verabschiedete und viel Spaß wünschte.
»Sag mir Bescheid, wenn du mal wieder kannst!« - »Mhm. Mach ich.«
Klack.
Das Rauschen war verebbt und die Stille wieder eingekehrt; so, wie Clara es wollte.
Sie fröstelte, langte nach der Decke. Ihre Kehle lechzte nach frischer Luft. Sie wollte die Kraft dafür aufbringen, aufzustehen, blieb letztendlich aber liegen. Sie konnte später noch aufstehen.
Ihre Gedanken waren leer, ihr Kopf dröhnte etwas. Kam wohl von dem Wetterumschwung. Eine ernüchternde Tatsache nach der anderen erklomm ihr Denken. Dann stand sie auf. Ihre Umgebung schwankte ein wenig, doch sie hielt sich nicht fest; sie würde es auch so schaffen. Clara setzte einen Fuß vor den anderen. Im Vorbeigehen angelte sie sich den Hoodie, den sie gestern schon getragen hatte, und das kleine Zigarettenetui von dem Schreibtisch. Ihre große Schwester hatte es ihr mal geschenkt – Clara wusste nicht mehr so recht, wann und warum – und ein paar Sticker ihrer ehemaligen Lieblingsserien zierten die silbrig glänzende Oberfläche.
Sie klemmte es sich zwischen die Lippen, während sie vor dem von Wasserflecken behafteten Spiegel ihre Haare zu einem schlampigen Dutt band. Sie hatte keine Lust, jetzt etwas großartig Tolles mit ihnen anzustellen, zumal sie nur kurz rausgehen wollte. Der schwarze Haargummi drückte sich schmerzhaft in die blasse Haut ihrer Hände; es machte ihr nichts aus.
Der Hoodie war ihr sicher zwei Nummern zu groß, ähnelte doch mehr einem Mantel. Der Stoff innen war vom vielen Tragen kratzig. Sie steckte das Etui in die Tasche des Pullis. Ihr Blick fiel auf ihr mageres Gesicht. Clara's hohe Wangenknochen schienen noch markanter durch die Augenringe und die eingefallenen Wangen. Sie hatte nun sicher zuletzt gestern gegessen; oder war es vorgestern gewesen? Die einzige spürbare Folge war die Müdigkeit, die sie auch anderweitig einholen würde. Sie hatte nicht das Bedürfnis zu essen.
Ihr war trotz des dicken Stoffes kalt. Sie zog sich die Kapuze über die Ohren, schlüpfte in die abgenutzten Chucks. Man konnte die Reste des weißen Eddings erahnen, mit dem sie Namen und kurze Sprüche auf den Stoff gekritzelt hatte; doch das war schon etwas her.
Clara's Schritte hallten laut in dem schier leeren Treppenhaus. Eine Frau kam ihr entgegen. Eine Wolke von billigem Parfum umgab sie und ließ Clara die Nase rümpfen. Die Beine der Dame steckten in hochhackigen Stiefeln, die ihr fast bis zu den Knien reichten, sie wirkte müde, erschöpft, ausgelaugt.
Sie hätte sie grüßen können, aber mehr als ein paar flüchtige Begegnungen in den Fluren des Mehrfamilienhauses verband sie nicht. Sie kannte nicht mal den Namen der Frau, geschweige denn wusste sie, in welchem Stock sie lebte. Oder ob sie überhaupt hier lebte. Sie konnte sich gut vorstellen, dass ihr Macker irgendwo hier seine vier Wände hatte und sie ihn in dieser Aufmachung besuchte, um ihm schöne Augen zu machen. Wie dem auch sei, Clara dachte zu lange darüber nach und da war die Dame schon weg.
Ihre Finger schmerzten leicht, als sie die schwere Eingangstür aufdrückte und ihr ein Schwall kühler, feuchter Herbstluft entgegenkam. Missbilligend verzog sie das Gesicht. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss.
Ihre Finger bahnten sich einen Weg in die warme Tasche. Sie holte das Etui hervor. Das Zigarettenpapier fühlte sich unter ihren Fingerkuppen schneidend an. Während sie weiterging und ihr Feuerzeug auf und zu schnappen ließ, schlossen sich ihre Lippen um die Zigarette. Sog. Atmete ein, und aus. Rauch stieg in die Luft. Bildete gekräuselte Wolken, ehe sie vom nächsten Windstoß hinfort getragen wurden.
Clara sah ihm kurz nach, vertiefte sich dann wieder in ihre Aktion. Sie lief ohne bestimmtes Ziel. An diesem Sonntag schliefen die meisten noch ihren Rausch aus oder bevorzugten es im Schutze ihrer Wohnungen zu bleiben.
Wie graue Riesen erhoben sich die Häuser um Clara herum und ließen es, wie ein Gefängnis wirken. Alles, was man sah, war die graue, schlecht verputzte Betonwand eines x-beliebigen Gebäudes; alles nach demselben Schema erbaut. Kopien von Kopien reihten sich aneinander. Fingen alle Blicke ab.
Ihre Füße trugen sie die Lilienstraße entlang. Ihre Lungen füllten sich mit dem bitteren, herben Geschmack von Tabak. Doch selbst der vermochte es nicht, die Leere in ihr aufzufüllen. Uneben erstreckten sich die asphaltierten Platten des Gehwegs vor ihr. Sie folgte ihnen, ohne zu überlegen, wo sie sie hinbringen würden.
Man hatte Bäume an den Seiten der Wege gepflanzt, um der Umgebung die Trostlosigkeit zu nehmen; doch sie hatten eher das Gegenteil bewirkt. Die Tatsache, dass die Bäume schon vor langer Zeit gestorben waren und nun kahl in der Gegend standen, zeigte nur ein weiteres Mal, wo man sich befand. Jämmerlich, war die treffende Bezeichnung, fand Clara.
Man hatte dieses Fleckchen schon lange aufgegeben. Man hatte es immer wieder mit den Skizzen verglichen, die man sich vor dem Bau gemacht hatte, und war zu dem Schluss gekommen, dass es die Anwohner schon nicht stören würde, wenn man das Geld anderweitig investieren und die Verschönerung des Viertels einstellen würde. Es hatte Leute gegebene, die Unterschriften gesammelt haben. „Besorgte Eltern fordern mehr Farbe für ihre Kinder!“ oder derartiger Schrott. Clara war damals an dem Stand zweier Mütter vorbeigekommen, die rufenderweise ihren Standpunkt vertreten hatten. Vielleicht hätte sie unterschrieben. Doch zu diesem Zeitpunkt war sie gerade mal 15 gewesen und damit zu jung. Letztendlich wurde der Antrag abgelehnt und seitdem war auch kein neuer Versuch unternommen worden, die Gegend auf Vordermann zu bringen.
Sie hatte ihre Zigarette fast zu Ende geraucht, als sie an dem Tor zum Skaterpark entlang schritt. Rap dröhnte durch das metallene, verrostete Tor. Linkin Park, erkannte Clara die Band. Sie hörte Quietschen, Rollen, die auf Beton trafen, begeisterte Rufe. Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen, um über die Mauer gucken zu können, krallte ihre Finger in den kalten Wall, nachdem sie den Stummel zu Boden geworfen hatte.
Eine Gruppe saß auf einer Rampe. Rauch stieg in die Luft und ihr Gelächter wirkte so echt, wie Clara es lange nicht mehr gehört hatte.
Seitdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, haben ihre Mutter und ihre Schwester aufgehört, zu lächeln. Sie lachten ab und zu, doch selbst das wirkte aufgesetzt. Clara gab sich selbst die Schuld daran. Vielleicht würden sie wieder glücklich sein können, ohne sich dafür schuldig zu fühlen, wenn sie weg war.
Sie musste sich von dem Gedanken losreißen, schoss es ihr durch den Kopf. Clara sah wieder zu den Jugendlichen. Es waren vier Leute – 3 Jungs, ein Mädchen. Sie schätzte sie auf ihr eigenes Alter. Typische Punks. Ihre Haare hoben sich von dem Grau ab, stachen Clara ins Auge.
Ein verwundertes „Huh“ ließ Clara zusammenzucken. Blitzartig drehte sie sich auf dem Absatz um und sah in die dunklen Augen eines Mädchens.
»Wer bist du denn?« Die Stimme der Fremden war niedlich, sehr hoch.
Clara fühlte sich ertappt, obwohl sie nichts Verbotenes getan hatte. Sie spürte, wie sie das Bedürfnis packte, wegzurennen. Doch sie zwang sich zum Bleiben. Insgeheim hoffte sie, dass das Mädchen etwas mit ihr reden würde. Einfach etwas Ablenkung.
Wie die Punks im Skaterpark hatte auch sie farbige Haare, pink. Wie passend, dachte Clara sich. Sie war ein ganzes Stück kleiner als Clara und hatte eine süße Stupsnase.
»Ich hab' dich hier noch nie gesehen. Bist du neu?«, fragte das Mädchen Clara aus und musterte sie.
Schnell sah sie weg.
»Nein, uhm, ich lebe hier schon etwas«, erwiderte sie unsicher.
»Dass wir uns da noch nicht getroffen haben... Mein Name ist Holly! Und wie heißt du?«
Probleme, mit Fremden zu reden, hatte Holly schon mal nicht. Irgendwie war sie Clara suspekt, allerdings hatte sie keinen triftigen Grund, ihr nicht zu antworten.
»Clara.«
Stille breitete sich aus, die abrupt von den Rufen der Jugendlichen unterbrochen wurde.
»Oi, Holly!«
Das kam von dem Mädchen.
»Wen hast du denn da aufgegabelt?«, ließ jetzt einer der Jungs verlauten. Er war der einzige, der nicht auf dem Skateboard stand.
»Die stand hier rum!«, plärrte sie zurück.
Dann fügte sie noch an Clara gewandt hinzu:»Kommst du mit rein? Dann sind wir Mädchen endlich nicht mehr in der Unterzahl.«
Ihre rosigen Lippen formten sich zu einem Lächeln. Clara hätte beinahe eine Augenbraue in die Höhe gezogen. Sie wollte eigentlich nur kurz frische Luft schnappen. Aber wenn sie schon so eine brillante Gelegenheit bekam, sich ablenken zu können, sollte sie nicht ablehnen.
Sie zuckte mit den Schultern:»Von mir aus.«
Zögerlich folgte Clara Holly durch das Tor. In ihrem Kopf entstanden die furchtbarsten Szenarien. Die Leute könnten sie für dumm halten oder sie von Anfang an unsympathisch finden, sie für ihre Unbeholfenheit auslachen oder sie gar anfangen, zu hassen. Sie musste verdammt aufpassen, was sie sagte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Die Fingernägel bohrten sich in die blasse Haut.
»Das ist Clara! Sie stand hier einsam rum und deswegen dachte ich mir, dass ich sie einlade«, erklärte Holly die Situation und deutete demonstrativ mit beiden Armen auf Clara.
Die Jungs, die bis jetzt die Rampe rauf und runter gefahren sind, stoppten ihre Skateboards und gesellten sich zu dem Rest der Truppe.
Nervös verzog sie ihr Gesicht, bemühte sich, zu lächeln.
Die Punks musterten sie genau und am liebsten wäre Clara einfach aus der Situation geflüchtet. Sie konnte es nicht leiden, nach ihrem Äußeren beurteilt zu werden. Gerade wirkte sie wohl wie der letzte Penner, der sich irgendwie im halbtoten Zustand aufgemacht hatte, um etwas Bier aus dem nahegelegenen Supermarkt zu holen.
»Hey Clara«, kam es zuerst von einem schwarzhaarigen Jungem mit blonden Strähnchen. Er strahlte sie aus seinem kantigen Gesicht strahlte an.
Gott, hat der was genommen?, kam es Clara in den Sinn. Oder warum war der so gut drauf?
»Hey Clara«, fingen jetzt auch die anderen an.
Ungewollt erinnerte Clara diese Situation an ihre erste Gruppentherapiesitzung. Alle hatten zu dem stehenden Mädchen aufgesehen und sie gegrüßt, als würden sie sie schon ewig kennen. Als wüssten sie, wie es ihr ging. Doch das wussten sie nicht. Das konnten sie gar nicht wissen. Clara versuchte, tief durchzuatmen. Nicht jetzt. Sie durfte sich doch nicht durch solche Kleinigkeiten triggern lassen. Mit zittrigen Händen griff sie nach dem Etui in ihrer Hoodietasche.
»Hey«, murmelte sie, während sie mit dem Feuerzeug kämpfte. Als ihm endlich eine Flamme entsprang und sie den Rauch inhalieren konnte, beruhigte sich ihr Puls wieder.
In ihrem Kopf ratterte es.
»Wollt ihr auch eine?«, fragte sie der Höflichkeit halber.
Die Gruppe sah sie an. Ihr wurde unwohl unter den stechenden Blicken der Fremden.
»Nein, danke, hab noch«, meinte das Mädchen, dessen Name sie nicht kannte, und zog als Beweis eine halb leere Schachtel Malboro aus der Tasche ihrer Lederjacke. Auch die anderen lehnten dankend ab.
»Ashley, du wirst nicht glauben, was passiert ist!«, brach schließlich Holly das Eis und ließ sich auf den Schoß des Mädchens, das offenbar Ashley hieß, plumpsen.
Es schien Ashley wenig auszumachen. Sofort schenkte sie der Kleinen ihre ganze Aufmerksamkeit.
Clara kam sich fehl am Platz vor. Wie sie da vor den Leuten stand und rauchte. Ihre Anwesenheit war nicht von Bedeutung. In ihrem Kopf bildete sich schon der Satz. „Ich geh dann mal. Euch noch viel Spaß.“
Doch noch bevor sie die Worte aussprechen konnte, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen.
»Wohnst du hier?«, fragte der Junge, der sie zuerst begrüßt hatte.
Clara nickte. »Und du?«
»Bin erst vor 2 Monaten her gezogen, aber ja.«
Sie nickte wieder, verständnisvoll.
»Ich heiße übrigens Kyle.«
»Hey.«
Und Kyle sagte:»Hey.«
Dann lächelte er. Und Clara bemühte sich, zurückzulächeln.
»Na dann, ich gehe mal. Viel Spaß euch noch!«
Mit diesen Worten drehte sich Clara auf dem Absatz um und wäre beinahe losgerannt, hätte Kyle sie nicht aufgehalten.
»Lust, mal mit uns in den Park zu gehen?«
Sie überlegte nicht lange:»Mal schauen.«
»Nächste Woche Samstag treffen wir uns um 10 im Orangeriepark. Wäre schön, wenn du kommst.« - »Mhm.«
»Mach's gut!«, rief Kyle.
»Ja, ihr auch.«
Dann ging Clara. Sie schaute nicht, ob sich noch jemanden der Truppe nach ihr umsah. Ehrlich gesagt war es ihr auch egal. „Wäre schön, wenn du kommst.“ Wohl kaum, murmelte sie in sich hinein und eilte nach Hause.