Christophorus
Die Straßen waren überschwemmt von einem matschigen Schneebraun und die Stadt behangen von einer trüben, nebligen Dunkelheit, wie sie nur ein mittelschwacher, deutscher Winter hervorbringen konnte. Eine hässliche, graue Wolkendecke bedeckte den blauen Himmel und schien einer schweren Aura gleich, alles Gute unter sich zu erdrücken und im Keim zu ersticken. Vereinzelt fiel ein wenig Schneeregen, kein Regen und kein richtiger Schnee, es war vielmehr irgendein nasses, kaltes Zwischending, das im braunen Matsch zu meinen Füßen lautlos verschwand. Meine schwarzen Stoffschuhe waren bereits aufgeweicht und meine Zehen schmerzten vor Kälte, noch etwas das ich dem braunen Zwischending aus Schnee, Regen, Eis und staubigem Straßendreck zu verdanken hatte und dennoch kämpfte ich mich weiter durch die trübe Kleinstadt, voller gereizter, missmutiger Weihnachtseinkäufer. Ja, Weihnachten stand direkt vor der Türe, war quasi bereit zum Anklopfen und zögerte denn noch ein wenig. Kein Wunder, dachte ich sarkastisch bei mir selbst. Wäre ich ein Gott, würde ich mir diese menschliche Weihnachtshölle dann entgehen lassen wollen? Oben von meiner kleinen, beschaulichen Wolke aus, würde ich sie beobachten, jene Menschen die abgehetzt von einem Geschäft zum anderen rannten, mit ihres Gleichen ungeplant kollidierten, um sich dann in einem Gewust aus zerknitterten Einkaufstaschen und sorgsam ausgewählten Geschenken, die überall verstreut auf dem Boden lagen, lauthals gegenseitig zu beschimpfen. Oder jene Menschen, die eben sorgsam abgepasst um die Weihnachtszeit herum beschlossen, nun doch für die verhungernden Kinder der dritten Welt, eine x-beliebige Tierrechtsorganisation oder als aufklärende Gegner der Atomkraft auf die Straße zu gehen. Seit jeher hatte ich mich gefragt, was die Menschen der gesamten Welt dazu bewegte gerade an Weihnachten, dem Fest der Liebe, auf die Straße zu gehen, zu demonstrieren oder ihr sorgsam erarbeitetes Geld irgendeiner Kinder- Menschen- oder Tierrechtsorganisation zu spenden.
Warum an Weihnachten? Vielmehr warum NUR an Weihnachten? Das genügte nicht, um die Welt zu verändern oder zu verbessern, bei weitem nicht. Ja, diese Menschen waren heuchlerisch, dieses ganze, verfluchte Weihnachten war eine riesige Heuchelei! Von den großen Firmen, den Diskountern und der Werbung, die großherzig an jeder Ecke mit einem weiteren Weihnachtsschnäppchen zum halben Rabattpreis oder einer guten Tat winkte.
Und trotzdem stapfte ich weiter durch die matschigen Straßen, mit meiner rar gefüllten Einkaufstasche irgendeines Großdiskounters in der Hand, von der aus mich schon wieder so ein beschissener, aufgedruckter Weihnachtsmann angrinste. Ich hasste und verfluchte Weihnachten, nicht in seinem Ursprung, vielmehr verfluchte ich die Menschen und die Großfirmengesellschaft, die eben das aus Weihnachten gemacht hatten, was es jetzt war. Das Fest der Liebe ließ mich also nur noch resigniert den Kopf schütteln und eben darum beschloss ich, mich dieser Weihnachtshölle Massenkonsum nicht länger auszuliefern und meinen Verwandten, Eltern und Freunden eben dieses Jahr etwas Besonderes zu schenken: Etwas selbstgemachtes, vielleicht ein paar selbstgenähte Schlüsselanhänger in Kombination mit ein paar selbstgebackenen Plätzchen und selbstgemalten Weihnachtskarten. Ja, so würde ich Weihnachten dieses Jahr handhaben, komme was da wolle und trotzdem steuerten meine halb erfrorenen Füße automatisch auf den innerstädtischen, kleinen Weihnachtsmarkt zu. Süße, würzige, aromatische Gerüche hingen in einer unsichtbaren Wolke über den einzelnen Ständen und mischten sich mit dem Duft von fettiger Bratwurst, Toilettenhäuschen, sowie dem gegenüberliegenden, großen Nudel-Wok eines chinesischen Restaurants.
Mein Magen protestierte peinlich laut und trotzdem weigerte ich mich etwas Nahrungsähnliches auf diesem Weihnachtsmarkt mit anliegendem Toilettenhäuschen zu kaufen, doch an dem typisch weihnachtlichen Glühweinstand kam ich nicht vorbei.
Eine ältere Dame, mit Schal, dicken Handschuhen und einem noch wärmeren Wintermantel begrüßte mich mit einem freundlichen Lächeln. „Was darf`s denn sein?“, fragte sie und streckte bereits ihre ledernen, schwarzen Handschuhhände nach einem Pappbecher aus.
Schweiß stand auf ihrer faltigen Stirn, aber durch ihre dicke Tiefwinterkleidung vermittelte sie wenigstens den Anschein des weihnachtlichen Winters, auch wenn wir weiterhin zehn Grad über Plus hatten.
„Ein Kakao zum Mitnehmen, bitte“, antwortete ich, weiterhin amüsiert über mein Gegenüber.
„Mit Sahne?“
„Nein, danke. Bitte ohne“, entgegnete ich, kramte ein wenig Kleingeld aus meinem Portemonnaie zusammen und nahm den Kakao an mich.
Er schmeckte gut und wärmte mich von innen, auch wenn meine Füße weiterhin der Meinung schienen, ihnen stünde eine aufwärmendere, schuhlose Pause zu. Gerade als ich mich wieder in Bewegung setzen wollte, fiel mir ein älterer Mann am Rande des kleinen, beschaulichen Weihnachtsmarktes in den Blick. Seine unzulängliche, löchrige Winterkleidung wiedersprach dem Hippen, dem Modernen, dem momentan angesagtem in jeder Form. Seine blaue Jacke und ausgewaschene Jeans starrten nur so vor Dreck und nassem Schneematsch, ebenso seine durchgelaufenen Turnschuhe. Er saß in einer vor Regen und Schnee geschützten Ecke, an eine Hauswand gelehnt, auf einer roten Decke, zumindest war diese einst rot gewesen. Sein Kopf, mit einer abgetragenen, grünen Wintermünze, war ihm im scheinbareren Schlaf auf die Brust gefallen und dennoch hielt er weiterhin einen leeren Plastikbecher bittend in den Händen.
Ich zögerte nicht lange und kramte mein restliches Kleingeld zusammen, um im nächsten Moment geradewegs auf den alten Mann zuzusteuern. Selbst als ich vor ihm niederkniete und meine Münzen in seinem Plastikbecher klirrten, wachte er nicht auf und dennoch hatte ich kein unterwürfiges „Dankeschön“, wie man es von jedem Obdachlosen gewohnt war zu hören, erwartet.
„So kommt man also auch an sein Geld“, spottete plötzlich eine Stimme hinter mir und ich wandte mich irritiert um. Zwei Männer mittleren Alters hatten hinter mir Stellung bezogen. Einkaufstaschen noch und nöcher, baumelten um ihre Handgelenke, wobei sie beide jeweils eine Tasse Glühwein mit hochprozentigem Schuss in der Rechten hielten.
„Den ganzen Tag pennen und dafür auch noch Geld bekommen“, lästerte einer von ihnen.
Er trug eine gepflegte, schwarze Lederjacke, sowie schwarze, lederne Handschuhe. Sein graumeliertes Haar hatte er ordentlich nach hinten zurückgekämmt und entblößte damit seine sorgfältig rasierten, faltigen Wangen.
„So ein Leben hätt` ich auch gern“, merkte der Zweite spottend an, wobei seine braungefärbten Koteletten sich unförmig zu seinem Mund bewegten.
„Die ganze Zeit saufen und hübsche Mädchen bringen dir dein Kleingeld“, lachte Lederjacke und Kotelette stimmte in sein gehässiges, oberflächliches Lachen mit ein.
Mir jedoch stand der Mund offen. Tausende Gedanken, einer unschöner und beleidigender als der andere, schossen mir in den Kopf, doch meine Zunge schien keinen einzigen von ihnen in die Tat umsetzen zu können und so starrte ich beide Männer einfach nur sprachlos an.
„So ein Penner!“, lachte Kotelette weiter, um dem schlafenden Obdachlosen, samt mir, schließlich spöttisch den Rücken zu zukehren und von dannen zu ziehen.
„Arschlöcher“, flüsterte ich bei mir selbst – endlich ein richtiger Gedanke den ich hatte aussprechen können!
„Stör dich nicht dran, Mädel“, entgegnete besagter „Penner“ plötzlich und ich wandte mich erschrocken zu ihm um.
Eisblaue Augen bedachten mich freundlich und ein warmes, herzliches Lächeln lag auf seinen schmalen Lippen. Sein faltiges, unrasiertes Gesicht war wettergegerbt und sein Atem roch nach Hochprozentigem, dennoch strahlte dieser obdachlose Mann eine so tiefe Freundlichkeit und Wärme aus, dass es mir abermals die Sprache verschlug.
„Ach ja und danke“, fügte er weiterhin lächelnd hinzu.
„Bitte“, brachte ich leise hervor und musterte den Alten vor mir erneut.
Nur zufällig blieb mein Blick dabei auf seinem abgetragenen Rucksack hängen, aus dem mich eine halb geleerte Wodkaflasche ebenso spöttisch angrinste, wie der aufgedruckte Weihnachtsmann auf meiner Einkaufstüte.
Der Blick des Alten veränderte sich merklich und hastig schloss er den Rucksack vor meinen Augen. „Keine Sorge Mädel. Der wärmt mich nur und füllt mir den Magen, dann und wann…“, merkte er leicht hustend an. „Dein Geld gebe ich dafür nicht aus“, fügte er hinzu, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Obdachlosen ein wenig Geld zu geben, war eine Sache. Aber ihre Alkoholsucht damit zu finanzieren, eine ganz andere und prompt bereute ich meinen Entschluss, diesem Mann, mit dem so freundlichen, warmen Lächeln überhaupt Geld gegeben zu haben.
„Wofür denn dann?“, fragte ich irritiert und auf den Lippen des Alten erschien ein Grinsen.
„Ja, für meinen kleinen Freund hier“, merkte er an und rutschte ein Stück auf seiner roten, dreckigen Decke beiseite.
Aus einer eingewickelten, grauen und viel saubereren Decke in dem Rücken des alten Mannes, blinzelten mich verschlafen die schwarzen Augen eines kleinen Hundewelpen an. Dennoch hob der Kleine, trotz sichtbar großer Müdigkeit, interessiert den Kopf und seine schwarzen Kulleraugen weiteten sich in freudiger Neugierde. Hastig befreite er sich aus dem Schutz der mollig warmen Decke und tapste verschlafen auf mich zu, um im selben Moment ungeschickt mit den Vorderpfoten auf meine Knie zu springen und meine linke Wange abzulecken.
Ich begann zu lachen und kraulte dem Kleinen den Kopf, wobei der Alte seinen Schützling und mich mit weichem Lächeln bedachte.
„Er scheint dich zu mögen“, merkte er leise hustend an und zog den Welpen im selben Moment auf seinen eigenen Schoß. „Aber du magst alle Fremden, nicht wahr Flocke?“, fragte er und der Kleine leckte auch die Wange des Alten.
„Flocke?“, wiederholte ich und mein Gegenüber nickte.
„Ja, so heißt er, ne Flocke?“, als hätte der Welpe nur auf seinen Namen gewartet tapste er in erneuter freudiger Anspannung über den Schoß des Alten und leckte ihm abermals schwanzwedelnd die Wange.
Das weißgraue Fell des Hundes war weich und schien ordentlich und gepflegt. Er war ein deutscher Schäferhund, doch ähnelte seine Färbung eher der, eines Huskys, was mich zu der Überzeugung brachte, dass der Name „Flocke“ hervorragend gewählt war.
Flocke wiederrum stolperte nun wieder auf mich zu und erwischte bei einem weiteren Ableck-Versuch meinen heißen Kakao, der mit einem leisen Klatsch seinen gesamten Inhalt auf der roten Decke und dem schmutzigen Boden entleerte. Hastig ergriff ich den Kleinen unter seinem Bauch und hob ihn hoch, damit er sich die Pfoten an dem heißen Getränk nicht verbrannte, dennoch hatte ich die Decke des Alten nun vollkommen ruiniert.
„Oh Entschuldigung“, sprach ich hastig, wobei der Alte mir mit einem weiteren „Verzeihung, es tut mir leid“, ins Wort fiel.
Wir musterten uns beide gegenseitig, nur für einen kurzen Moment und begannen gleichzeitig zu lachen.
„Komm, ich kaufe dir einen neuen Kakao“, sprach der Alte freundlich lächelnd und kramte ein paar Münzen aus seinen Taschen zusammen.
„Nein, warte“, unterbrach ich ihn in seinem Vorhaben. „Was hältst du davon, wenn ich dich und Flocke auf einen kleinen Happen und einen heißen Kakao einlade?“, entgegnete ich, obwohl mir im selben Moment mulmig zumute wurde.
Immerhin war dieser Mann, ob obdachlos oder nicht, ein völlig Fremder und die Zeit meines Lebens hatte mich gelehrt, keinem Fremden zu vertrauen. Instinktiv hörte ich schon die warnende, mütterliche Stimme der Vernunft in meinem Inneren: „Geh niemals mit Fremden!“, dennoch ignorierte ich sie, bei einem weiteren Blick in die aufrechten, eisblauen Augen des Alten, gekonnt.
Gesagt, getan und so ließen wir uns zu Dritt in einem Cafe, ganz in der Nähe des menschenüberlaufenen Weihnachtsmarktes nieder. Wir bestellten zwei heiße Kakao, etwas zu Essen für den Alten und eine Schüssel Wasser für Flocke, der es sich auf seiner grauen Wolldecke zu unseren Füßen bequem gemacht hatte.
Ich ignorierte die merkwürdigen Blicke der weiteren Besucher, sowie der jungen Kellnerin, die uns bediente und lauschte gebannt den Geschichten des alten Mannes. Er erzählte mir viel aus seiner Kindheit und Jugend, dann wie er seinen Job verloren hatte, begonnen hatte zu trinken und dadurch auch seine Ex-Frau, seinen Sohn und schließlich seine Wohnung verloren hatte. Einige Wochen hatte er schließlich bei einem stationären Entzug mitgemacht, doch als er auf der Straße gelandet war, hatte er notgedrungen wieder angefangen zu trinken. Im Winter könne er vor Kälte häufig nachts nicht einschlafen, also trank er sich in den Schlaf, wohlwissend, dass er damit auch der frostigen Kälte zum Opfer fallen könne. Seitdem er jedoch Flocke, ein ausgesetztes, nicht gewolltes Hundebaby gefunden hatte, hatte sich sein gesamtes Leben auf der Straße geändert. Jetzt gab es für ihn wieder einen Sinn, wenn auch nur einen ganz kleinen. Jetzt trank er sich nicht mehr in den Schlaf, denn er wusste, dass da wenigstens Flocke war, der ihn brauchte.
Mein zuvor dampfend heißer Kakao war unangetastet erkaltet und weiterhin beobachtete ich diesen alten Mann, der mir soeben die Geschichte seines Lebens beim Essen erzählt hatte, sich nun zurücklehnte und mich abermals mit einem weichen Lächeln bedachte.
„Und jetzt erzähl du mir, warum ein so junges Ding wie du an einem Samstagnachmittag nichts besseres zu tun hat, als mit einem Obdachlosen und seinem Hund in einem Cafe zu sitzen und sich deren Geschichten anzuhören“, sprach der Alte plötzlich und abermals ruhte sein Blick so warm und freundlich auf mir.
Ich erzählte ihm alles, nur war meine Lebensgeschichte weit aus nicht so dramatisch, wie die des alten Mannes. Ich war behütet aufgewachsen, in einem kleinen, Reihen-Elternhaus, indem ich mit meinen stattlichen 23 Jahren immer noch wohnte. Vor drei Jahren hatte ich das Gymnasium mit einem mittleren Durchschnittsabitur abgeschlossen, danach ein Jahr gejobbt, da ich keinen Studienplatz bekommen hatte. Schließlich hatte ich eine Ausbildung angefangen, die ich schließlich abbrach, da ich der Meinung war, dass ich nicht zu dem Beruf oder der Beruf nicht zu mir passen würde. Seitdem hielt ich mich mit einem Vierhunderteurojob über Wasser, gab die Hoffnung jedoch nicht auf insgeheim eine weltberühmte Autorin zu werden…irgendwann…und ganz zum Entsetzten meiner Eltern.
„Dann werde doch diese weltberühmte Autorin“, sprach der Alte neugierig lächelnd. „Das ist doch eine gute Idee“
„Ja…“, merkte ich an und richtete meinen Blick ein wenig beschämt auf meinen erkalteten Kakao. „Nur weiß ich im Moment nicht, worüber ich schreiben soll“, fügte ich kleinlaut hinzu, wohlwissend wie bescheuert sich das Ganze anhören musste.
Ich hatte meine Ausbildung abgebrochen, im Wiederspruch zu meinen Eltern, die die Situation in der ich mich nun befand natürlich nicht gut heißen konnten. Desweiteren hatte ich keine Notlösung parat, kein Ass im Ärmel. Ich hatte zuvor keinen Beruf gelernt und konnte mich jetzt nicht entscheiden, was ich tun oder vielmehr „werden“ sollte. Sozialpädagogik studieren, oder doch lieber Germanistik? Oder doch eine Ausbildung, etwas Festes, Sicheres in den Händen halten, wenn ich denn eine Stelle bekomme, wenn ich denn einen Studienplatz bekomme, wenn... Dieses typisch deutsche Sicherheitsdenken. Und trotzdem gab es soviele „Wenns“ und „Abers“ in meinem Kopf, dass alles in meinem Inneren nach einem anderen Weg schrie, als den Weg zu gehen, den meine Eltern gegangen waren. Seit Monaten schon war ich auf der Suche nach dieser kleinen, beschissenen Lösung, aber ich fand sie nicht. Was wollte ich werden, was wollte ich sein? Hatte denn das Gymnasium mich nicht auf diese Fragen vorbereitet? Wo ist der Plan? Ich hatte keinen und hatte nie einen gehabt. Außer Schriftstellerin werden, Bücher schreiben und veröffentlichen. Ja, Schreiben war so ziemlich das einzige was ich gut konnte, was ich mir auch beruflich vorstellen können würde. Aber wenn, dann bitte nur mit meinen eigenen Büchern, zumindest galt das für den Idealfall.
„Du bist also eine angehende Autorin, die eine Schreibblockade hat?“, fragte der Alte interessiert, weiterhin freundlich lächelnd und vor allem nicht einmal versucht sich darüber lustig zu machen.
„Ja, aber das ist nur das geringste meiner Probleme“, merkte ich an und ließ frustriert die Schultern hängen. „Selbst wenn ich Autorin werde, ist es recht aussichtslos damit richtig Geld verdienen zu können“, das wusste ich aus tausenden von Internetforen, in denen angehende Autoren ihren Leidensweg beschrieben. „Und etwas anderes kann ich nicht oder will ich nicht können“, fügte ich hinzu und weiterhin bedachte der Alte mich mit einem freundlichen, warmen Lächeln.
„Und was halten deine Eltern davon?“, fragte er, doch ein Blick in mein Gesicht schien ihm zu genügen. „Oh, die scheinen nicht sonderlich angetan von deinen Plänen?“
„Das ist ja das Problem“, merkte ich mit Nachdruck an. „Ich habe keinen Plan!“
„Aber einen Weg“, entgegnete er, während Flocke sich genüsslich zu seinen Füßen räkelte. „Eine gute Freundin hat mir einmal gesagt“, fuhr er fort und beugte sich beinah verschwörerisch zu mir vor. „Gehe nicht, wohin dein Weg dich führen mag, sondern dorthin wo kein Weg ist und hinterlasse eine Spur“, rezitierte er, worauf ich mein Gegenüber voller Irritation bedachte, der nun in seine Manteltasche griff und mir seine Hand reichte. „Vielleicht hilft dir das ja, deinen Weg zu finden“, merkte er an, während seine eisblauen Augen abermals weich auf mir ruhten. „Danke für das Essen“, fuhr er fort und raffte sich, samt Flocke auf. „Wir müssen jetzt los, gucken wo wir schlafen. Das Wetter wird immer ungemütlicher“
„Ja, ehm…“, brabbelte ich, vollkommen perplex. „Vielleicht sieht man sich ja mal wieder“, sprach ich hoffnungsvoll und der Alte bedachte mich erneut mit einem weichen, herzlichen Lächeln.
„Vielleicht“, wiederholte er und trat, Seite an Seite mit Flocke, in das abendliche Gemisch aus kaltem, nassen, Schneeregen, missmutigen Passanten, sowie der städtischen Weihnachtslichterhölle.
Weiterhin verwirrt blieb ich noch eine Weile an dem gemütlichen, warmen Cafetisch sitzen und blickte irritiert in meine Handfläche, auf der ein kleiner Kettenanhänger lag. Ein hünenhafter, muskulöser, junger Mann mit schütternem Haar war aus edlem Silber gefertigt. Auf seinen Schultern trug er ein kleines Kind, einen Jungen, und noch während mir die Bedeutung jenes christlichen Anhängers verborgen blieb, kam mir ein zweiter, abstrakterer Gedanke. Warum trug ein Obdachloser solch einen kostbaren Anhänger mit sich herum? Warum hatte er ihn nicht verkauft, oder verpfändet für etwas zu Essen oder ein Dach über dem Kopf?
„Ah. Christophorus“, die piepsige Stimme der jungen Kellnerin hinter mir und irritiert wandte ich mich zu ihr um. „Der Schutzheilige der Reisenden“, fuhr sie erklärend und auf den Anhänger deutend fort und erst jetzt wurde mir bewusst, was der Alte mir überhaupt geschenkt hatte. „Wollen Sie jetzt zahlen?“, fragte sie freundlich und ich nickte.
„Ja, bitte“, antwortete ich.
Erst später im Auto fiel mir ein, dass ich ganz vergessen hatte, den Alten nach seinem Namen zu fragen.