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Christmas
Graues Mondlicht sickerte durch das Fenster, brach sich an der sperrigen Schrankwand und hinterließ schmutzige Flecken auf dem alten Teppich. Die Augen halb geöffnet lag sie in seiner eisigen Umarmung, den Kopf an seine Brust geschmiegt und wartend. Sie sah hinüber zu der rot schimmernden Anzeige des Radioweckers. Sechs Uhr, am Weihnachtsmorgen. Heute sollte es endlich so weit sein…
Viele dieser Nächte hatten sie nicht gemeinsam im Bett verbracht, sondern auf der Jagd. Das ewige Leben, das ihnen geschenkt wurde war bestimmt vom Überleben. In jeder einzelnen Nacht.
Über der durchgelegenen Matratze, auf der sie lagen, hing der süßliche Geruch eines Schlachthauses. Nach all den Jahren, in denen sie dazu verdammt waren, ihre Körper von dem Blut der Menschen zu nähren, hatten sie einen unverkennbaren Eigengeruch entwickelt. Es war abstoßend, sie konnte das alles nicht mehr ertragen.
Seit dem Tag, an dem er sie angesteckt, ja infiziert hatte, wünschte sie sich nichts so sehr, wie den Tod. Sie war dem Sterben näher, als es je ein Mensch sein könnte und dennoch so unendlich weit davon entfernt, verdammt für die Ewigkeit.
Sie atmete tief ein. Der Geruch der Toten. Auch sie würden bald unter ihnen sein.
Sechs Uhr Neunzehn. Sie berührte seine Brust, seine muskulösen Arme. Seine weiße Haut schimmerte hell in dem fahlen Licht des Mondes. Zu dieser Zeit warf nichts einen Schatten und auf der Fensterscheibe gab es keinerlei Reflexion. Das faszinierte sie. Nur das Geräusch ihres Atems zeugte vom Leben in diesem Zimmer.
Er zog sie näher an sich, als würde er sich davor fürchten, sie loszulassen. Dann küsste er sie. Ein langer, weicher Kuss, wie beim ersten Mal. Sie hatte, genau wie damals, das Gefühl in seinen Lippen versinken zu müssen, nie mehr damit aufhören zu können. Sie hörte, wie ihr Herz brach, während sie sich ihm hingab.
Als sie ihn kennengelernt hatte, war sie ihm sofort verfallen. Er besaß einen unglaublichen Charme und eine geheimnisvolle Art, die sie fast um den Verstand brachte. In der ersten Nacht, in der sie sich liebten, hatte er sie zu dem gemacht, was sie nun schon so lange war. Sie hatte ihm das nie vorgeworfen, denn nur so hatte sie bei ihm sein können. Und auch nach der heutigen Nacht, würden sie weiterhin vereint sein, nur auf eine andere Weise als jetzt.
Es dämmerte. Der Mond schien an Bedeutung zu verlieren, in den Hintergrund zu rücken, unwichtig zu werden. Ein einschlägiger Grauton verdrängte die endgültige Schwärze des Nachthimmels.
Schwer atmend lag sie auf ihm, die Haare auf der Stirn verklebt. Sie sah, wie ihm eine Träne über die Wange huschte. Auch er war schweißnass und wirkte mitgenommen, doch seine Haut strahlte unverändert silbrig. Wie ein Engel, ging es ihr durch den Kopf. Mein Engel.
Sie war wieder neben ihn geglitten, atmete nun ruhiger. Er hielt seine Arme fest um sie geschlossen.
Sieben Uhr Dreiundzwanzig. Beinahe schwerfällig wirkte es, als er den Arm ausstreckte und das Messer zu seiner Linken am Griff packte. „Ich liebe dich so sehr, dass du mich jetzt töten musst. Du weißt es. Du darfst nicht zögern, niemals, egal was passiert.“ Sie wusste es. Sie nahm das Messer aus seiner Hand, die Klinge funkelte im trüben Grau des anbrechenden Tages.
Mit einer Kraft, ungleich der eines Menschen, schnitt sie seine Brust auf. Er stöhnte, erst leise, dann lauter.
Da sah sie es. Die Umrisse seines Herzens glitzerten in ihrem Schatten. Es pumpte schnell und heftig, um sein Leben zu erhalten, ein aussichtsloser Kampf. Als sie das Blut sah, dass sein Herz wie ein schützender Burggraben umgab, kam ein unstillbarer Durst in ihr auf. Sie versuchte diesen Trieb zu unterdrücken und sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Sie presste die Silberklinge an sein Herz. Er atmete nun sehr flach.
Unterdessen wurde es jenseits der mächtigen Betonwände immer heller. Sie legte eine Hand auf sein Gesicht, um ihn vor dem Tag zu schützen und um seine schmerzverzerrten Gesichtszüge nicht mehr sehen zu müssen. Sie wollte ihn in seiner vollen Schönheit in Erinnerung behalten, nicht als schwachen Sterbenden.
Sie hob das Messer und stieß die lange Klinge mitten in sein Herz. Er stöhnte ein letztes Mal und es hörte auf zu schlagen. Warmer Lebenssaft schoss ihr entgegen und umspülte ihre Hand. Für einen Moment bewegte sich nichts mehr, bis auf den stetigen Blutstrom der sein Herz verließ.
Während sie langsam die Hand von seinem Gesicht nahm, schwappte goldenes Sonnenlicht über den Horizont. Es war ein unglaublich erlösendes Gefühl. Es begann mit einem leichten Kribbeln in den Zehenspitzen, dann stieg eine angenehme Wärme in ihr auf. Die Sonne stieg immer höher. Wie lange war es wohl her, dass sie Tageslicht gesehen hatte? Als die Wärme sich in eine brennende Hitze verwandelte hob sie die Arme über den Kopf und schloss die Augen. Fast augenblicklich umgab sie das tödliche Feuer. Nie hatte es für sie ein intensiveres Gefühl gegeben, als das Töten. Das Sterben war es nun, dass selbst diese Empfindungen übertraf.