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Chrissy (8): Die Schule der alten Damen
Mir klapperten vor Angst und Kälte die Zähne an diesem Tag im Februar 1969.
Martin warf Schneebälle auf das Hausdach.
„Gehst du mit Schlittenfahren?“, wollte ich wissen.
„Klar, bin dabei.“ Martin kam aus dem Nachbargarten zu mir auf die Straße gelaufen. „Warum hast du keine Handschuhe an?“ Er wischte sich über die Nase, hinterließ eine glänzende Spur auf seinen Fäustlingen.
„Vergessen!“ Sie lagen in der Küche. Da saß Mama. Vor ihr auf dem Tisch mein Zeugnis. „Zwei ungenügend“, schrie Mama, „noch eine Fünf und du bleibst sitzen. Warte nur, bis Papa heute Abend kommt!“
Obwohl ich es nicht wollte, begann ich zu weinen.
„Heulst du, weil du deine Handschuhe vergessen hast?“
Schluchzend schüttelte ich den Kopf.
„Haste Angst wegen deinem Zeugnis?“
Ich nickte, biss mir auf die Lippen, drückte meine geballten Hände tiefer in die Jackentaschen.
„Der Olaf kriegt heute Abend auch Kloppe. Der muss jetzt in die Blödenschule.“ Bedauernd zog er seine Schultern in die Höhe.
„Der Lehrer hat gesagt, wir sollen nicht Blödenschule sagen, das heißt Sonderschule. Du kriegst auch Haue wegen deinem Zeugnis.“
„Nö, wenn unser Alter den Olaf verdroschen hat, ist der fertig. Meine Schwestern brauchen keine Angst zu haben, die schlägt er nie.“
In meinem Kopf sah ich Martins Mama, mit den fehlenden Vorderzähnen und dem blauen Auge. „Und deine Mama?“
„Nur, wenn die dazwischengeht und uns helfen will. Komm, wir rennen, dann wird dir warm. Den Schlitten kann ich ziehen.“ Ich gab ihm das Seil und er rannte los. Seine langen Haare flogen nach allen Seiten. Einen Kurzhaarschnitt gab es im April, da stutzte seine Mutter ihm und seinen sieben Brüdern die Haare. Danach wünschte sich Martin immer eine Mütze. Meine Füße rutschten in den großen Stiefeln hin und her. Mama wollte sie noch mit Zeitungspapier ausstopfen.
Martin zog den Schlitten im Zickzack über die nie geräumte Straße. Ein Schneehaufen am Straßenrand wurde sein Feind. „Attacke!“, rufend, kickte er in den Schnee. Wie Pulver staubte er nach allen Seiten, hüllte ihn in eine weiße Wolke. Mit breitgezogenem Mund, die Arme zur Seite ausgestreckt, stand Martin da. Er sah aus wie ein Schneemann. Ich lachte.
Die Kinder aus dem oberen Dorf mieden den Hügel auf der Wacholderheide. Er war uns Kindern aus der Siedlung vorbehalten. Es war früher Nachmittag und außer Ludi, der nur von unserem Lehrer Ludwig genannt wurde, keiner da.
„Sollen wir ein Wettrennen fahren?“ Begeistert von seiner Idee, strahlte Ludi uns an.
Noch bevor ich auf dem Schlitten saß und Martin hinter mir aufstieg, fing er an: „Auf die Plätze, fertig, los!“ Wir stemmten unsere Füße in den Schnee und mit einem heftigen Stoß glitten wir den Abhang hinunter. Ich mochte den Schneewind im Gesicht, die flatternden Haare und das Kribbeln im Bauch.
Die Arme nach oben gestreckt, triumphierte Ludi am Ende der Bahn. „Hab gewonnen, lasst uns auf dem Bauch fahren, das ist toll.“ Wir stampften den Abhang wieder hinauf.
Martin reichte mir das Seil. „Du zuerst, ist dein Schlitten.“
„Ich lass’ dir einen Vorsprung, bist ja ein Mädchen.“ Ludi stellte sich neben Martin und sah mir zu, wie ich mich bäuchlings auf meine Sitzlatten legte und abstieß. Der Schlitten fuhr mit einer irren Geschwindigkeit den Abhang hinunter. „Juhu!“, rief ich und zappelte mit den Füßen. Ein Stiefel rutschte vom Bein. Wütend bremste ich. Der Schlitten kippte und ich landete im Schnee. War ja klar, dass ich kippen würde, wenn ich nur mit einem Fuß bremste.
„Aus der Bahn!“ Ludi kam auf mich zugefahren. Erschrocken wollte ich aufstehen.
„Weg, geh weg!“
Es ging so schnell … da war dieser Schmerz, als ob ein riesiger Stein nach dem anderen auf mein Bein fallen würde. Ich krallte die Finger in den Schnee und versuchte, den Kopf zu heben. Ludi rappelte sich von mir herunter. Ich schrie, wie nie zuvor in meinem Leben.
„Mensch, Chrissy, ich konnte nicht anhalten. Komm’, steh auf.“ Ludi wollte mich hochziehen.
„Au … aua mein Bein!“
Er ließ los.
„Dein Stiefel.“ Martin kam mit meinem Stiefel wedelnd den Hang heruntergerannt.
„Mama, Mama“, jammerte ich.
„Ich hol’ deine Mama.“ Er zog seine Handschuhe aus und ohne auf meinen brüllenden Protest zu achten, streifte er sie über meine rot angelaufenen Finger.
Stöhnend drückte ich den Kopf in den Schnee. Meine Zähne klapperten.
Dann war Mama da. „Jessesmaria! Was ihr immer schafft!“
Ludi, der bleich und wortlos neben mir gewartet hatte, rannte davon. Mama zerrte mich unerbittlich auf den Schlitten. Mit gesenktem Kopf und flüsternd,– ich war sicher, dass Mama betete – zog sie mich über die verschneite Heide. Wenn der Schlitten über eine Unebenheit fuhr, jammerte ich laut. Martin lief hinter mir, er weinte.
Wir bogen in unsere Straße. Mama sah so traurig aus.
„Martin, lauf zu Frau Rinter, sie soll einen Krankenwagen rufen, in die Welfenstraße 9. Sag ihr, was Chrissy passiert ist.“ Martin rannte los.
Nur in der Getränkehandlung von Frau Rinter gab es in unserer Straße ein Telefon.
Mama hielt vor unserem Haus.
„Ich will nicht in den Krankenwagen!“
„Im Krankenhaus werden sie dir helfen, hör auf, du brüllst ja die ganze Nachbarschaft zusammen!“
Martin kam von Frau Rinter zurück und hielt auf der Straße Ausschau nach dem Rettungswagen.
Ein Sanitäter wollte wissen, was passiert war und wo genau es mir weh tat. Mit der Schere schnitt er meine gute Hose auf. Erschrocken sah ich Mama an. Die presste ihre Lippen aufeinander.
„Es ist keine offene Fraktur. Wir werden das Bein stabilisieren und dann darfst du Krankenwagen fahren.“ Die Sanitäter machten mein Bein fest, mit etwas, dass wie ein großer Schwimmflügel aussah. Das Luftpolster umschloss das Bein.
Im Krankenhaus wurde es geröntgt. „Schienbeinbruch“, sagte der Arzt und gipste es vom Fuß bis zur Unterhose ein. „Mein kleines Fräulein, du darfst jetzt für eine Weile nicht mehr laufen, dafür aber unser Gast sein. Schwester Uli bringt dich in dein Zimmer.“
Schwester Uli in einem blauen Kleid, mit weißer Schürze und einer kleinen Haube auf den braunen Haaren, lächelte mich an. „Na, Süße, dann wollen wir mal. Wie heißt du denn?“
Meine Stimme musste sich versteckt haben. Ich fühlte mich fremd und verwirrt, es dauerte eine Weile, bis ich „Chrissy!“, flüsterte.
„Wir müssen auf die Frauenstation, im Momente haben wir keine Kinder hier“, sagte sie und drückte einen Schalter an der Wand. Ich machte große Augen, als sich in der Wand ein viereckiger Kasten öffnete, der wie eine Blechdose glänzte. Schwester Uli schob mein Bett hinein, drückte einen Knopf, und der viereckige Kasten ging wieder zu. Schade, dass sich die Schiebetür so schnell wieder öffnete. Hoffentlich, dachte ich, fahren wir noch einmal damit, davon musste ich Martin erzählen. Sie schob mein Bett über einen weißen Flur. Klopfte an einer Türe und ohne das „Herein“ abzuwarten, machte sie auf. Es roch seltsam, ein wenig wie Oma und dann war da auch noch etwas Scharfes, ein wenig wie Papas Schnaps.
„Hallo meine Damen, hier bringe ich euch ein junges Fräulein.“ Drei Frauen in weißen Betten schauten mich an.
„Die Chrissy hat ihr Bein gebrochen und wird für eine Weile hierbleiben. Das ist die Patientenklingel, wenn du etwas brauchst oder aufs Klo musst, einfach drücken.“ Sie hielt mir ein kleines Plastikteil hin, das an einem Kabel hing und einen Knopf zum Drücken besaß. Sie schob es unter das Kissen. Ich schloss die Augen.
Als ich sie wieder öffnete, pochte mein Bein. Schwester Uli stellte ein Tablett mit Brötchen, Marmelade und sogar Nutella auf mein Nachtschränkchen. Sie zog ein kleines Tischchen nach oben und klappte es über mein Bett. Mit einem Hebel stellte die Schwester mein Kopfteil auf, sodass ich bequem essen konnte. „Lass es dir schmecken, du hast ja gestern das Abendbrot verschlafen.“
Mama kam, sie brachte mir Waschzeug, ein neues Nachthemd und Hausschuhe. Ich hatte noch nie Hausschuhe gehabt. Alles war neu. Ich dachte an das Geld und bekam ein schlechtes Gewissen.
„Es ist nicht so einfach, mit den Kleinen und jetzt im Winter die drei Kilometer hierherzulaufen. Ich kann nicht so oft kommen“, meinte Mama. Sie blieb nicht lange. Sie nahm mich in den Arm und gab mir einen Kuss. Das tat sie sonst nie. Ich glaube, das war, weil die anderen zuschauten.
„Wo wohnt ihr denn, wenn deine Mutter so weit laufen muss?“, wollte die Dame neben der Tür wissen. Sie hatte sich in ihrem Bett aufgesetzt und stützte sich mit beiden Armen ab. Ich musste schnell wegschauen, denn ich starrte auf ihren Busen, der bei jeder Bewegung vor ihrem Bauch hin und her schwabbelte. Der Busen war riesig, wie alles an dieser Frau. „Wir wohnen in Hausen.“ Ich starrte ihr in die Augen.
„So, meine Süße“, Schwester Uli nannte mich immer meine Süße, ich fand das toll, denn das tat sonst niemand. „Ich habe hier die Speiseliste: Was möchtest du diese Woche essen?“ Es gab jeden Tag zwei Gerichte zur Auswahl. Manches kannte ich gar nicht; Kohlrouladen oder Kaiserschmarren, Risotto … Schwester Uli kreuzte einfach für mich an. Bevor sie ging, griff sie in ihre Schützentasche. „Hier ein Kartenspiel für dich. Vielleicht hat die Frau Paul“, sie blicke auf die Dame im Bett neben mir, „mal Lust, mit dir zu spielen?“
„Ja, das können wir gerne machen, wir haben ja sonst nicht viel zu tun. Die Frau Diemer kann auch mitspielen?“, meinte Frau Paul.
„Was ist das für ein Kartenspiel?“, fragte die Dame mit den schwarzen Haaren.
„Schwarzer Peter.“
Frau Diemer zog ihre Bettdecke über die Nase. „Kenne ich nicht!“
Bestimmt hat sie keine Lust. Jeder kennt doch Schwarzer Peter, dachte ich. Ich war froh, dass die Frau neben der Türe nicht da war, sonst hätte Schwester Uli die auch noch gefragt.
Vor Heimweh lag ich lange wach. Meine kleinen Schwestern und Mama fehlten mir. Leise weinte ich in mein Kissen. Drei Abende ging das so. Bis ich mir das Heimweh weggedacht hatte. Zu Hause gab es nie so gutes Essen, es war oft kalt, Wind pfiff durch die Fensterrahmen und Papa und das Zeugnis waren dort. Hier war es schön.
Frau Paul neben mir sah, dass ich mich schämte, auf das Töpfchen zu gehen. Ich unterdrückte es, bis ich knallrot wurde und vor Bauchweh hin und her zappelte.
„So geht das nicht, Kindchen, das kann man ja nicht mehr mit anschauen, du musst auf die Toilette.“ Sie erklärte mir, was ich tun sollte: „Du stellst dein gesundes Bein auf den Boden und ziehst dein Gipsbein nach. Nicht darauf stehen, dann setzt du dich auf deinen Hintern und rutscht zur Toilette.“ Ich bekam Angst, dass es wehtun würde … es klappte und schmerzte nicht.
Bei der Visite meinte der Doktor: „Chrissy, du weißt, du darfst dein Bein nicht belasten.“ Tat ich ja nicht, nur meine Unterhosen. Mama war sauer, nachdem sie das erste Loch entdeckt hatte.
Nach einer Woche brachte mir Mama meinen Schulranzen mit den Hausaufgaben. Sie wollte mit mir lesen üben. Die Wörter, die ich auswendig kannte, waren kein Problem, aber der Text dazwischen. Mama las mir den Satz vor, ich wiederholte ihn. Die alten Damen hörten zu und schüttelten die Köpfe. Meine Wangen wurden heiß, sicher auch rot. Ich wollte nicht mehr lernen und versprach Mama, jeden Tag zu üben.
Frau Gallenstein lag neben der Tür, ich nannte sie wegen ihres schwierigen Namens so, sie hatte Gallensteine. Sie tat mir leid, mit dem schweren Busen und den Steinen. „Sag mal, Kindchen, in die wievielte Klasse gehst du denn?“, wollte sie wissen.
„Die vierte!“
„Das hätte ich nie gedacht, höchstens in die zweite.“
„Warum haben dich deine Eltern nicht noch ein Jahr zurückgestellt, so mickrig wie du bist?“
Stirnrunzelnd blickte Frau Paul zu Frau Diemer, die sich über ihre schwarz gefärbten Haare strich und den Kopf schüttelte.
„Meine Mama wollte mich ja zurückstellen, aber Papa hat nicht auf sie gehört. Er wollte, dass ich zwei Kurzschuljahre habe.“
„Ach, die hatte mein Enkelkind auch, zwei Schuljahre in nur einem Jahr.“ Frau Gallenstein nickte und ihr Busen schwabbelte.
Nach dem Abendessen war ich still. Ich dachte daran, dass ich immer noch nicht lesen konnte und in die Sonderschule kommen würde. Ich wollte mich nicht mehr mit den Damen im Zimmer unterhalten und stellte mich schlafend. Nach einer Weile hörte ich Frau Paul flüstern: „Wir müssen etwas tun und dem Mädchen helfen.“
„Meine Güte, die Mutter ist doch vollkommen überfordert mit den vier Kindern. Was ist denn mit dem Vater, der war noch nicht einmal da.“ Frau Diemer klopfte auf ihre Bettdecke.
„Mir tut das Mädel auch leid“, meldete sich Frau Gallenstein, „wie die Mutter das macht, mit dem Lesen üben, das hat doch keinen Wert, die lernt nichts. Nur auswendig.“
„Wir könnten nachmittags ein wenig mit ihr üben“, hörte ich Frau Paul sagen.
„Ob ich das kann, weiß ich nicht.“ Frau Diemers Stimme piepste. „Ich habe keine Kinder.“
„Sie können ja erst einmal nur zuhören“, antwortete Frau Paul, „dann wird das schon.“
Oh, nein, dachte ich und spürte die vertraute Angst, das flaue Gefühl im Magen. Was war, wenn ich zu dumm war. In meinem Kopf sah ich die enttäuschten Frauen. Ich fühlte mich klein, wie in einer dunklen Schneekugel.
„Wir werden jetzt jeden Tag eine Stunde mit dir Lesen üben“, verkündete mir Frau Paul am nächsten Nachmittag. „Danach spielen wir. Komm, bring dein Lesebuch und setz dich zu mir ans Bett. Kennst du alle Buchstaben?“ Stolz sagte ich ihr das ABC auf. „Prima, wir versuchen es mit einer kurzen Geschichte.“ Sie blätterte in meinem Lesebuch. Der Fuchs und die Katze, das wäre doch was!“ Sie gab mir das aufgeschlagene Buch. Ich freute mich, denn der Anfang war nicht schwer. Die meisten Wörter kannte ich auswendig. Dann las ich: „ar – m se – li – ger Ba – rt – pu – tz –er.“ Frau Paul ließ mich Silbe für Silbe wiederholen.
„Das kann man ja nicht mehr mitanhören. Armseliger Bartputzer heißt das!“
Frau Paul lächelte. „Frau Diemer, dass Sie lesen können, wissen wir.“
Laut schnaufend, drehte sie uns den Rücken zu. Bis ich: „bu – nt – sche – ck – ig – er Na – rr“, lesen musste. Mit einem Ruck warf sie ihre Bettdecke herum und setzte sich auf. Ihr ausgestreckter Zeigefinger deutete auf Frau Paul. „Können Sie nicht eine einfachere Geschichte lesen?“
„Doch, können wir, aber dann lernt Chrissy nichts. Sie können ja morgen die Geschichte aussuchen.“ Frau Paul schlug das Lesebuch zu und reichte es Frau Diemer.
Die machte große Augen. Ich glaube, ihr war nichts eingefallen, was sie hätte sagen können.
„Die Schulstunde ist für heute beendet. Wir spielen jetzt Schwarzer Peter.“
Am nächsten Nachmittag rief Frau Gallenstein: „Komm, Chrissy, heute üben wir beide.“ Ich wunderte mich, denn gestern hatte Frau Diemer das Lesebuch bekommen.
„Wir üben morgen, mir geht es heute nicht so gut“, ihre Stimme war kaum zu verstehen. Ich rutschte zu Frau Gallenstein. Zog mich aber nicht in ihr Bett, da war kein Platz, sondern auf einen Stuhl daneben. Wir lasen die Geschichte von Katze und Fuchs weiter. Ich übte Wort für Wort, bis ich die Sätze zusammensetzen konnte. Dann spielte Frau Gallenstein mit mir Schwarzer Peter.
Frau Paul ging es am nächsten Tag besser, sie winkte mir … mit meinem Lesebuch. In ihrem Bett hätte ich noch Platz gehabt, aber sie meinte, ich sollte den Stuhl nehmen.
„Was haben Sie denn für eine Geschichte ausgesucht?“, wollte Frau Paul wissen.
„Ein Gedicht passend zum Wetter: Die Vögel warten im Winter vor dem Fenster, von Bertolt Brecht.“
Frau Gallenstein hielt sich die Hand vor den Mund, lachend sagte sie: „Ganz einfache Kost heute.“
Das Gute an dem Gedicht war, dass sich die Vogelnamen ständig wiederholten. Frau Paul moserte: „Nach einem Komma musst du eine kleine Pause machen und nach einem Punkt eine größere.“
„Aber das Kind macht doch bei fast jedem Wort Pausen, weil es die Silben noch üben muss. Das ist doch unwichtig.“ Frau Gallenstein sah zu Frau Paul. „Oder was meinen Sie?“
„Na ja, ich denke, so wichtig ist das nicht, aber es ist ja ein Gedicht und da finde ich es nicht unwichtig.“
Frau Diemer lächelte. Ich sah, dass Frau Paul Frau Gallenstein zuzwinkerte.
Dann kam der Satz: Buntspecht, komm nach vurn. Ich las: „Vo – rn.“
„Kind, so heißt das nicht, lies es noch einmal.“
„Vu – rn.“
„Was bringen Sie dem Kind denn bei, so ein schwachsinniges Wort … vurn. Was soll das den heißen?“ Frau Gallensteins Busen bebte.
„Das ist Literatur, davon verstehen Sie nichts!“
„Ein Kind, das lesen lernen soll, muss keine Wörter lernen, die es nicht gibt.“ Frau Gallenstein sprach lauter.
„Aber, wenn es in dem Gedicht so steht, dann muss sie es so lernen.“ Frau Paul’s Stirn war jetzt rot, sie schnaufte tief.
„Der Herr Brecht hätte sicher ein anderes Wort geschrieben, wenn er gewusst hätte, dass sie sich deswegen so in die Haare bekommen.
„Chrissy, jetzt lies mal den Rest von dem Gedicht.“ Frau Paul hob aufmunternd den Kopf.
Nachdem ich die letzten beiden Verse des Gedichts gelesen hatte, klatschten Frau Paul und Frau Gallenstein in die Hände.
Jeden Tag übte ich. Als es mit dem Lesen besser klappte, musste ich abends eine Geschichte aus dem Schulbuch vorlesen. Nach drei Wochen rutschte ich durch den Krankenhausflur. In einer Ecke stand ein Regal mit Büchern zum Ausleihen. Ich war enttäuscht, es gab nur Bücher für Erwachsene. Trotzdem suchte ich eins aus. „Die Verwandlung“ war mein erstes Buch. Ich verstand nicht, warum der Mann, der sich in einen Käfer verwandelte, nicht davonflog.
Mir war, als könnte ich fliegen, mit jedem Buch woanders hin.