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Chrissy (7): Martin
Der Ast brach. Ich hörte das Knacken der dünnen Zweige, die unter meinem Gewicht nachgaben. Äste schlugen mir ins Gesicht, kratzten an Arm und Bein. Grün und Sonnenlicht im Wechsel, ich schloss die Augen. Spürte die harte Erde zuerst im Rücken, mein Kopf schlug auf. Silvesterraketen in meinem Gehirn. Dann wurde es still. Jetzt bin ich tot. Wie Opa, auch er ist von weit oben gestürzt. Ob er jetzt kommt? Oma hat gesagt, wenn sie stirbt, trifft sie Opa im Himmel.
„Chrissy, Chrissy!“ Martin, Luddi und Bruno riefen gleichzeitig. Ich hörte das Reiben der Rinde, die Jungs rutschten den knorrigen Stamm hinunter. Das Laub raschelte, gleich würden sie bei mir sein. Ich wollte die Augen nicht öffnen.
Martin schluchzte. „Wach doch bitte auf!“ Ich spürte seine Hand an meiner Schulter.
„Die ist tot!“ Benno zog den Rotz hoch.
„Nee, die hat sich den Kopf angehauen und ist bewusstlos. Ich glaub, wir müssen einen Krankenwagen rufen, ich renn heim und sag es Mama.“
Wenn Luddi jetzt losrannte und Bescheid sagte, gab es Ärger. Ich würde nicht mehr auf Bäume klettern dürfen. Der Wald war mein Kinderzimmer, die Bäume meine Puppen, mein Bilderbuch, sie waren mein liebstes, einziges Spielzeug. „Nein!“ Ich riss die Augen auf, ich wusste nicht, ob die Jungs mich so erschrocken anstarrten, weil ich laut schrie oder weil ich nicht tot und bewusstlos war.
„Chrissy, kannst du aufstehen, tut dir was weh?“ Martin kniete neben mir, ich sah, dass er weinte, obwohl er seinen Kopf schnell wegdrehte und sich mit dem Ärmel über die Augen fuhr.
„Vielleicht hat sie sich ja den Rücken gebrochen.“ Luddi trat von einem Bein auf das andere.
„Wenn sie sich den Rücken gebrochen hätte, dann wär‘ sie jetzt tot.“ Benno tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
„Vielleicht hat sie sich ein Bein gebrochen oder den Arm, wenn man von da oben runterfällt.“ Luddi blickte zur Spitze des Baums und pfiff bewundernd durch die Zähne, „dann ist was hin.“
„Mensch, wie kann man nur so blöd sein und ganz bis zum Gipfel klettern.“
Benno tippte sich wieder mit dem Zeigefinger an die Stirn.
„Damit du mich nicht fängst, Blödmann, du warst ja schon hinter mir.“
Das war ganz schön mutig. Benno war mit seinen elf Jahren der älteste meiner Freunde. Blödmann durfte keiner zu ihm sagen, ohne dass man eine auf die Nase bekam. Mein Rücken und Kopf taten weh, als Martin mir die Hand gab und mich hochzog.
„Beweg mal deine Beine und Arme“, forderte Benno mich auf.
„Mensch, du siehst doch, dass sie stehen kann und die Arme kann sie auch bewegen, da ist nichts gebrochen“, fuhr Luddi ihn an.
„Ich gehe jetzt trotzdem heim.“
„Gute Idee, ich komm mit. Und ihr?“
Martin hielt seinen älteren Bruder am Arm fest: „Ihr braucht Mama aber nicht erzählen, dass Chrissy vom Baum gefallen ist, die erzählt es sonst ihrer Mutter.“ Seine Brüder schüttelten den Kopf. „Nee, sind doch nicht doof.“
Martin und ich schauten den beiden hinterher, sie verschwanden zwischen Wacholderbüschen und kleinwüchsigen Weidbuchen.
Die Nachbarin würde ihre Söhne nicht fragen, wo sie herkamen. Sie schaute erst beim Abendessen, ob alle Kinder zu Hause waren und danach musste der Nachwuchs schnell ins Bett, bevor ihr Vater vom Wirtshaus kam. Frau Lang legte sich mit dem Baby auch früh schlafen. Die letzten zwölf Jahre hatte sie immer eines zu stillen. Ein paarmal war sie nicht schnell genug im Bett gewesen, deshalb hatte sie keine Vorderzähne mehr.
Mein Rücken tat weh und mein Kopf brummte und ohne dass ich es wollte, begann ich zu weinen. Martin, der mich anschaute, sah aus, als ob er Fieber bekommen hätte, knallrot, brüllte er los: „Nie wieder! Nie wieder spielen wir auf diesem Baum! … Der ist viel zu hoch und du willst immer bis zum Gipfel klettern. Warum musst du immer so gefährliche Sachen machen.“
Ich wischte mir mit dem Handrücken übers Gesicht. Dieses Spiel, bei dem es darum ging, sich nur auf Bäumen zu bewegen und beim Klettern zu fangen, gewann meistens ich. Es war das Einzige, was ich richtig gut konnte. Ich schluckte und meine Stimme klang piepsig: „Ist okay, sei jetzt nicht mehr so böse auf mich.“ Martin war mein allerbester Freund, er wusste alles von mir. Alles, bis auf zwei Geheimnisse, die wusste er nicht. Das eine war die Sache mit den Briefen, da hatte ich Papa versprochen, es niemand zu erzählen, und das andere Geheimnis war das mit dem Klauen. Es war so schlimm, dass ich schon beim Denken daran ganz heiß im Gesicht wurde. Genau weiß ich es nicht mehr, wie oft ich vorher etwas geklaut hatte. Mal eine Rama, Salz, Butter, was Mama so brauchte. Wenn sie sich wunderte, dass ich ihr Geld wieder mitbrachte, habe ich gelogen: Das hat mir der nette Mann an der Kasse bezahlt oder Das war heute im Angebot oder Die Frau Gubi hat es vergessen zu kassieren. Mama schaute mich dann mit zusammengezogenen Augenbrauen seltsam an, aber sie sagte nie etwas. Ich weiß, sie war froh über jede Mark, die wir sparen konnten. Mama ging ab und zu abends aus dem Haus, um auf dem Feld Kartoffeln zu holen. Sie sagte: „Das ist nicht klauen, die paar Grombira, die haben die Bauern beim Ernten übersehen.”
Wir bekamen nie Taschengeld. Ab und zu schenkten uns Onkel oder Tanten ein paar Pfennige. Die wurden sofort für Eis oder Süßigkeiten ausgegeben. An Mamas Geburtstag fehlte mir das Geld, um ein Geschenk zu kaufen. Ich wusste, sie würde sich über einen Schöpflöffel freuen. Unser Schöpfer war ursprünglich weiß gewesen. Hässlich, dunkel und fleckig sah er jetzt aus. Das Emaille blätterte ab. Manchmal knirschte es beim Essen zwischen den Zähnen. Im Gubiladen gab es einen schönen silbernen Schöpflöffel.
Mama schickte mich einkaufen, um Salz und Vanillezucker zu holen. Ich schaute mich nach allen Richtungen um, erst als keiner in der Nähe stand, versteckte ich den Schöpflöffel in meinem Korb. Zwei andere Frauen liefen durch das Geschäft. Sie bogen nach rechts zum Obst und Gemüse ab. Schnell griff ich in das Regal mit dem Salz und schob es in meinen Korb. Vorne an der Kasse legte ich den Vanillezucker auf den Verkaufstisch. Frau Gubi, die richtig Gabriel hieß, schaute mich an und fragte: „Ist das alles?“
Stumm nickte ich. Ich spürte, wie meine Hände und Beine zu zittern begannen. Ich fing in meinem Kopf zu beten an. „Bitte nur nicht in meinem Korb nachsehen.” Doch die Ladenbesitzerin griff über den Tisch nach dem kleinen Korb mit dem auseinanderziehbaren Blümchenbezug. Meine Finger verkrampften sich bei dem Versuch, den Bügel festzuhalten. Mit weitaufgerissenen Augen, bebend vor Angst sah ich hilflos zu, wie Frau Gubi zuerst den Schöpflöffel aus dem Korb zog und dann das Salz. Sie schaute mich an. Ich war allein mit zwei Augen, die immer größer und größer wurden.
„Den Vanillezucker willst du wohl bezahlen?“
Die Hand, mit der ich zwei Mark aus der Hosentasche zog, war nass und klebrig. Das Bimmeln der Ladenglocke, als ich durch die Tür ging, war das Signal zum Laufen. Ich rannte und rannte. In meinem Kopf stritten sich die Gedanken: Da waren Leute im Laden, die würden allen erzählen, dass ich eine Diebin bin. Nein, keine der Kundinnen stand an der Kasse hinter mir. Die Frau Gubi wird es Mama erzählen und Mama, Papa. Er würde mich schlagen. Nein, sie wird es nicht erzählen, sie hat auch Angst vor Papa. Nie, nie wieder würde ich in den Laden gehen. Den ganzen Nachmittag weinte ich.
Dann gab es noch die Sache mit den Briefen: Papa war mit mir in den Keller gegangen: „Ich möchte mit dir ein kleines Geheimnis haben”, sagte er zu mir. „Weißt du, die Briefe von der Frau Kohler regen Mama immer ganz schlimm auf. Ich möchte, dass du sie für mich hier im Keller versteckst. Du brauchst nur dienstags aufzupassen und wenn Frau Kohler nachmittags kommt und den Brief in den Briefkasten wirft, holst du ihn wieder heraus und schiebst ihn hier unter das Regal.“
Mama und ich gingen am Anfang des Monats ins Obere Dorf, da holte Mama in dem Haus von Frau Kohler Papas Lohn. Die hatte auf einem Schreibtisch einen kleinen Geldschrank und drehte an einer Scheibe mit Zahlen, dann machte sie die dicke Türe auf und gab Mama das Geld.
Ich habe lange darüber nachgedacht … Es war kein gutes Geheimnis, weil es mit Mama und Geld zu tun hatte, aber wenn ich es nicht machte, würde Papa wütend, das wollte ich auf keinen Fall. Also versteckte ich die Briefe dienstags unter dem Regal. Das war gar nicht so einfach, ich wusste nie genau, wann Frau Kohler kam, deshalb musste ich immer in der Nähe vom Briefkasten warten.
Ich versprach Papa, das Geheimnis niemand zu verraten. Sonst würde etwas Schlimmes passieren, hat Papa zu mir gesagt.
„Tut es arg weh?“
Heftig schüttelte ich mit dem Kopf. Jetzt tat es weh, ich dachte an einen Riesen, der meinen Kopf zwischen seine Hände nahm und zudrückte. Kurz und schnell atmete ich, mir wurde übel. „Können wir langsam laufen, mir ist ein bisschen nicht gut.“ Gleich hinter dem Hang über die Wacholderheide hinunter, schon waren wir in unserer Straße. In der kaum ein Auto fuhr und wir mittendrin einen halben Tag lang Federball spielen konnten. Weder mein Papa noch Martins Papa besaßen einen Führerschein und viele andere Papas in der Straße auch nicht. Ich glaube, es war einfacher, Kinder zu haben als Autos, denn davon gab es in unserer Straße jede Menge.
„Kommst du nachher noch mal raus?“
„Weiß noch nicht.“
Ich hatte den ganzen Weg nicht geweint. Jetzt wollte ich schnell ins Haus.
Martin winkte mir zu. „Bis später dann.“
Ich drückte die Klinke der Haustüre runter, sie war offen. „Mama, Mama!“ Nichts rührte sich. Mama war bestimmt bei unserer Nachbarin, bei der sie im Quelle Katalog manchmal etwas bestellte und dann in Raten abbezahlte. Meine drei kleinen Schwestern hatte sie mitgenommen. Ich spürte, wie etwas von meinem Bauch im Mund landete. Mir war so schlecht, ich presste eine Hand auf die Lippen und lief zur Toilette. Bücken ging nicht, mein Rücken tat weh, also kniete ich mich davor. Wie gut, dass wir nicht mehr in Omas altem Haus waren, dort gab es nur ein Brett über dem Klo und was darunter herumschwamm stank und wimmelte von Würmern. Wenn es voll war, kam ein Pferdewagen mit einem großen Plastikfass und einem langen Schlauch, dann wurde das Klo geleert und es stank tagelang.
Mein Frühstück, ein matschiges Zuckerbrot landete ausgekotzt in der Kloschüssel. Ich musste ins Bad mich waschen, im Spiegel sah ich die Kratzer im Gesicht. Martin meinte auf dem Heimweg: „Du siehst aus, als ob alle Katzen aus dem Dorf auf dich losgegangen wären.”
Obwohl es warm war, zog ich eine langärmelige Bluse an, so konnte Mama die Armkratzer nicht sehen. Ich würde ihr erzählen: Eine Katze hätte mich gekratzt. Schon klar, dann musste ich mir anhören, man streichelt keine fremden Katzen. Mama wollte am Morgen, dass ich eine kurze Hose anziehe, doch ich bettelte, bis ich eine lange tragen durfte. Das war gut. Ich zog die Jeans aus und legte mich nur mit der Bluse ins Bett. Noch nie bin ich ins Bett gegangen, wenn es taghell war. Entweder musste ich zur Strafe ins Bett, dann wurden die Rollläden heruntergelassen, oder abends zum Schlafen, und es wurde auch dunkel gemacht. Warum das Zimmer Kinderzimmer hieß, verstand ich nicht. Richtig hätte es Schrankzimmer oder Bettenzimmer heißen müssen. Es gab nur Platz für Möbel. Mein Kopf schmerzte und mein Rücken tat weh. Nur wenn ich mich nicht bewegte, war es gut. Ich schloss die Augen und wünschte, ich wäre im Wald, würde im Laub liegen und auf Opa warten.
Mama weckte mich nicht, als sie nach Hause kam, so schlief ich den restlichen Nachmittag und auch die Nacht. Morgens schmerzte mein Kopf nicht mehr ganz so schlimm, doch der Rücken tat weh. Ich erzählte Mama von der Katze.
„Unglaublich“, sagte sie. „Du bist nicht einmal aufgewacht, als ich die Kleinen ins Bett gebracht habe, so fest hast du geschlafen.“ Heute gab es zum Frühstück kein Zuckerbrot. Weil Samstag war und Mama samstags 100 g Aufschnitt bei unserem Dorfmetzger holte. Es war immer eine Scheibe Gelbwurst dabei und weil wir uns um die Gelbwurst stritten, entschied Mama, dass jeden Samstag eine andere von uns das Rädchen bekam. Obwohl ich heute dran gewesen wäre, verzichtete ich.
„Chrissy, wir gehen in den Wald für Oma Anzündholz holen.“ Langsam stieg ich die Treppe hinunter, biss mir auf die Lippen. Dieser blöde Buckel, kann der nicht endlich aufhören wehzutun? Auf den Stufen vor dem Nachbarhaus saß Martin. Als er mich sah, kam er an den Zaun.
"Mensch Chrissy, ich habe gestern auf dich gewartet.”
„Ich bin eingeschlafen und erst heute Morgen wieder aufgewacht. Mama will, dass ich mit ihr in den Wald gehe, um Reisig für Oma zu holen.“
„Für was braucht deine Oma Reisig?”
„Zum Wäschewaschen, sie hat keine Waschmaschine und wäscht mit der Hand und muss mit Holz das Wasser anheizen. Als wir noch bei Oma in Miete wohnten, da hat Mama unsere Wäsche auch in dem großen Kessel gewaschen. Jetzt im neuen Haus haben wir eine Waschmaschine. Kannst du nicht mitkommen und mir helfen, mein Rücken tut noch weh.“
„Zeig mal her, vielleicht hast du dich verletzt."
Ich drehte mich um und schob meine Bluse nach oben.
„Nee, da ist nichts, kein bisschen verletzt, nicht mal blau.“
Mama kam mit dem Leiterwagen aus dem Haus. Schnell zog ich die Bluse wieder nach unten.
„Martin geht mit Holz holen”, rief ich ihr zu.
„Viele Hände geben ein schnelles Ende.“ Weil sie diesen Satz so gerne sagte, lachte sie sogar.
Zu dritt liefen wir zum Wald. „Meine Güte“, sagte Mama. „Was da alles auf der Erde liegt. Früher war das ganz anders, da war der Waldboden wie abgeschleckt, da fand man oft nicht einmal mehr einen Tannenzapfen, geschweige denn kleine Äste, so sauber war es hier nach dem Krieg.”
Ich konnte mich nicht bücken, setzte mich in die Hocke und griff rechts und links nach kleinen Zweigen.
„Als wir noch zu Hause in Ungarn waren, da war es ganz anders”, begann Mama zu erzählen. „Wir besaßen einen kleinen Wald und mein Vater schlug dort Holz. Wir Kinder mussten damals kein Anzündholz suchen. Wir waren oft bei den Kühen im Stall. Oder bei den Hühnern und Ziegen. Im Herbst, auf unserem kleinen Weinberg, da durften mein Bruder und ich so viele Trauben essen, wie wir wollten.“
Während Mama erzählte, lächelte sie und sammelte ununterbrochen kleine Zweige und Tannenzapfen auf. Martin tat es ihr gleich und nur ich blieb auf der Stelle sitzen. Ich träumte von Ungarn, von Kühnen und Ziegen, von Mama und mir und wie wir beide als kleine Mädchen zum Weinberg liefen und Trauben aßen.