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Chrissy (6): Ein bisschen was Gutes
Nichts von der Helligkeit des Tages drang in unser kleines Kinderzimmer. Papa hatte die Rollladen heruntergelassen. Ich saß zusammengekauert auf dem Fußboden, die Arme um die Knie geschlungen. Die düstere Stille machte mir Angst, eine andere Angst als die im Keller mit den Mäusen, dem modrigen Geruch und der feuchten Erde.
Wie wenn ein Riese auf meiner Brust sitzen würde.
Eine Tür fiel ins Schloss. Ich horchte. Leise klirrte die Milchglasscheibe. Es war die Haustüre. Papa ging hinters Haus. Er lief zu dem Holzpflock.
Leise bat ich: „Bitte Papa, tu es nicht, bitte!“
Dann war ich still und lauschte … Hörte das dumpfe Geräusch, mit dem das Beil auf das Holz krachte.
Vor und zurück. Hart schlug ich meinen Kopf gegen den Kleiderschrank. Es klapperte, Bügel fielen hinunter. Auch die Kleider meiner Schwestern.
Die drei Kleinen waren nicht da, Oma war gekommen und hatte sie abgeholt. Mama wollte, dass ich auch mitgehe, und ich wollte, dass Papa es nicht tut, wollte es verhindern.
Umsonst war mein Weinen und Betteln, er war wütend, wollte seine Ruhe haben. Sperrte mich ein.
Der Schrank krachte, ich wippte weiter, Wumms vor und zurück, Wumms.
Vor… da war es wieder, das Geräusch. Der zweite Beilhieb.
Vielleicht, wenn ich bete, vielleicht, wenn ich den lieben Gott bitte, dass er wenigstens eins übrig lässt. Den ganzen Tag würde ich auf den Welpen aufpassen, ihn mit dem Babyfläschchen füttern. Betend faltete ich die Hände.
„Bitte lieber Gott, ich verspreche dir, ich bin auch immer ganz brav.“
Ich horchte hinters Haus. Dachte an die winzigen Welpen, wie sie in Papas großer Hand lagen, hilflos mit geschlossenen Augen.
Es dauert zwei Wochen, hatte Mama gesagt, bis die Welpen sie öffnen können.
Vielleicht fürchteten sie sich nicht, sie konnten ja noch nichts sehen.
Wieder schlug er auf den Holzpflock.
Der liebe Gott hörte mich nicht.
Ich wippte weiter, immer schneller, immer lauter, wollte nichts mehr hören. Wumms, der Schrank krachte.
Ich blinzelte gegen die Helligkeit, als die Tür aufschlossen wurde und Mama vor mir stand.
„Spinnst du? Du machst den Schrank noch kaputt!“
„Papa ist ein Mörder! Ich will, dass er aufhört.”
„Was glaubst du eigentlich? Denkst du, Papa macht das Spaß? Die würden verhungern!“
„Ich würde sie doch mit dem Fläschchen füttern.“
Wieder hörte ich das Beil auf den Holzpflock krachen.
„Das geht nicht, man kann keine zwölf Welpen mit dem Fläschchen großziehen!“
„Eins Mama, wenigstens eins!“
„Mir kommt kein Hund mehr ins Haus, für so was haben wir kein Geld. Dein Vater hat sich eine schwangere Hündin andrehen lassen und jetzt kann er sehen, wie er da rauskommt. Wir brauchen …“
Keine Ahnung, was Mama noch sagen wollte, denn als wir von draußen den nächsten Schlag hörten, sah auch Mama ganz traurig aus und sagte nichts mehr.
Ich sprang auf und wie wild hämmerte ich mit beiden Fäusten gegen den Rollladen. “Bitte, Papa, bitte, lass mir doch eins.“
Mama zog mich weg und schüttelte mich. „Wenn dein Vater jetzt reikommt, dann setzt es was. Du gehst raus und weg vom Haus, bis er Sirri und die Welpen vergraben hat, und wenn du zurückkommst, will ich nichts mehr davon hören.“
Sie schüttelte mich noch kräftiger. „Hast du mich verstanden?“
Ganz von selbst nickte mein Kopf.
Weinend lief ich über die Straße zu der großen Wiese. Ich verstand nicht, wie mein Papa kleinen Hunden den Kopf abhacken konnte.
Er war ein Mörder, ja ein böser Mörder, und so schnell würde ich nicht mehr nach Hause gehen, sollten sie sich doch Sorgen machen.
Mit dem Ärmel fuhr ich über die triefende Nase und trocknete meine Augen. Das hohe Gras kitzelte an den Beinen, sonst fand ich das lustig, jetzt machte es mich wütend, voller Zorn riss ich an den Grashalmen. Ich sah eine Bewegung am Ende der Wiese, die Halme schwankten, irgendetwas schien dort zu sein. Still blieb ich stehen.
Was war das? Es hörte sich an wie ein leises Weinen. Vorsichtig ging ich auf die Stelle zu.
Wie ein Käfer lag ein blonder Junge in einer kleinen Mulde. Er hatte den Kopf zwischen die Arme geklemmt und sein Rücken bewegte sich unter leisem Schluchzen auf und ab.
„Hey du!“ Ich tippte mit dem Zeigefinger an seine Schulter. Erschrocken drehte der Junge sich um. Die Sonne blendete ihn und er hielt sich die Hand vor die Augen. Seine Tränen glänzten zwischen den Fingern wie kleine Regenbogenmurmeln.
Genau wie ich fuhr er sich mit dem Ärmel über die Nase und rieb hastig die Tränen weg.
„Hau ab!“ Der Junge setzte sich ins Gras und verschränkte die Arme. Er zog die Augenbrauen zusammen, presste seinen Mund so fest zu, dass die Lippen unsichtbar wurden
Er sah aus wie Michel aus Lönneberga, strohblonde Haare und blaue Augen.
Der hier war aber ein trauriger Michel, ich schaute in sein wütendes Gesicht und wusste gar nicht, was ich sagen sollte.
Dann dachte ich daran, warum ich zu der Wiese gelaufen war und dass Papa bestimmt alle Welpen totgemacht hatte und die armen Hundebabys nicht einen Tag leben durften und ich weinte wieder.
Der traurige Michel aus Lönneberga starrte mich an und jetzt wusste er nicht, was er sagen sollte.
Langsam streckte er mir die Hand entgegen, packte meine und zog mich ins Gras.
Als ich neben ihm saß, legte er einen Arm um meine Schultern und ich fühlte ein bisschen was Gutes.
Nur ein klein wenig weinte ich noch. Nach einer Weile fragte er mich: „Warum hast du denn so geheult?“ Ich erzählte ihm von Sirri, unserer schwangeren Schäferhündin, und dass sie bei der Geburt ihrer Babys verblutet war, und von den Welpen, die Papa gerade tot machte.
„Und du, warum hast du denn geweint?“
„Weil es so weh getan hat!“
Er zog sein T-Shirt nach oben und ich sah rote Striemen auf seinem Rücken.
„Papa nimmt immer den Gürtel.“
Ich fing sofort wieder an zu weinen, doch diesmal, weil mir der Junge so leid tat.
„Du brauchst nicht zu heulen.“ Tröstend streichelte er mir über die Schulter. „Es tut schon gar nicht mehr weh!“
„Wie heißt du denn überhaupt?“, schluchzte ich.
Er hieß nicht Michel, doch er wurde mein bester Freund.