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Chrissy (5): Vom Erdbeerjoghurt, dem Herrn Pfarrer und anderen Tragödien
„Aufstehen!“ Mama rüttelte mich am Arm. „Du auch Marie!“
Im Bett unter mir gähnte meine ein Jahr jüngere Schwester. Mit einem lauten Ruck zog Mama den ersten Rollladen hoch. Blinzelnd, geblendet von der Helligkeit beobachtete ich im Stockbett gegenüber Lotte. Sie kletterte die Leiter zu unserer Kleinsten hinunter und kitzelte sie.
„Nein, nicht aufmachen!“
Ich blickte auf das graue Fenster. Dahinter, wo das Gras so rot gewesen war, so viel rot.
Nach Opas Beerdigung war Papa mit einer Schaufel in den Garten gegangen. Jetzt war da Erde, schwarze Erde.
Mama nahm die Hand vom Rollladengurt und sah mich an. „Ihr müsst euch beeilen, sonst kommt ihr wieder zu spät.“
Schnell stieg ich die Leiter hinunter und zog mich an. Gestern mussten Marie und ich in der ersten Stunde in der Ecke stehen - obwohl noch alle vor ihren Stühlen standen und erst bei der Begrüßung waren.
Diesmal trödelten wir nicht und waren pünktlich. Es gab nur zwei Klassenzimmer. Die Tür mit der großen Eins für die Erst- und Zweitklässler und die mit der Zwei für die Dritt- und Viertklässler. Neben dem Eingang stand unsere Lehrerin, einer nach dem andern durften wir hinein.
„Christiane.“
Starr vor Schreck blieb ich stehen. Ich schluckte, spürte, wie die Backen heiß wurden. „Ja?“
„Mach deine Schnürsenkel zu! Wenn du fertig bist, kannst du reinkommen.“
Beim Bücken rutschte der Schulranzen an meinen Kopf. Ich nahm ihn nicht ab, beeilte mich, den Schuh zu binden. Wie Mama es mir gezeigt hatte, versuchte ich eine Schleife zu machen. Doch so sehr ich mich bemühte, es funktionierte nicht. Jedes Mal, wenn ich das eine Ende des Schnürsenkels durchzog, ging alles wieder auf.
Leise kam Frau Wengert aus dem Klassenzimmer und stellte sich hinter mich. Jetzt klappte nichts mehr, der Schuhbändel zitterte zwischen meinen Fingern.
„Sag mal, kannst du immer noch keine Schuhe binden? - Schau her, erst in der linken Hand die Schlaufe machen ein Hasenohr, noch ein Hasenohr. Kuscheln sich ein, bring einen Knoten hinein.“
Das war ja leicht. Ganz anders als die Schleife von Mama.
„Steh auf!“
Was jetzt … was würde meine Lehrerin mit mir machen? Ohne Strafe und Schimpfe schob sie mich durch die Tür. Mit heißem Kopf setzte ich mich neben Marie.
In der großen Pause stieg Frau Wengert die Holztreppe in den zweiten Stock hoch. Zur Mittagszeit zog von hier ein hungrigmachender Geruch nach Speck, Zwiebeln, Eiern und anderen Köstlichkeiten durchs Schulhaus.
Nach der Pause gab der Herr Pfarrer Religionsunterricht. Er war ein alter, dicker Mann, mit einem langen schwarzen Gewand und einem viereckigen Hütchen auf dem Kopf. Immer wenn er ins Klassenzimmer kam, legte er den Hut auf das Pult und holte sich aus der Ecke den Zeigestab. Der Unterricht begann mit einem Vaterunser. Dabei schauten seine kleinen, dunklen Äuglein jeden ganz genau an, ob wir das Gebet auch richtig aufsagen konnten. „Du.“
Ängstlich blickten wir in die Richtung des Zeigestabs. „Komm nach vorne.“
Langsam, mit gesenktem Kopf, kam der blonde Karl. „Das Vaterunser!“
Leise fing Karl an … doch schon nach: „Dein Wille geschehe“, wusste er nicht weiter.
„Wie im Himmel so auf Erden“, formten meine Lippen.
Doch Karl sah auf den Boden. Der Pfarrer packte den Jungen und legte ihn über das Pult, „Du dummer Bub du. Wie – im – Himmel – so – auf – Erden.“ Bei jedem Wort sauste der Zeigestab auf Karls Hintern.
„Führe – uns – nicht– in Versuchung.“
Er schrie nicht. Nur ein Schluchzen war zu hören, auch in der Klasse schluchzte es leise. Ein Zusammenzucken bei jedem Schlag. Marie und ich hielten eine Faust an den Mund gepresst, während unsere Tränen auf die Schulbank tropften. Der Herr Pfarrer war ganz rot im Gesicht . „Und – in – Ewigkeit – Armen.“
Blut tropfte aus Karls Nase, als er ihn vom Pult zog und zurück an seinen Platz schickte. Wir sahen zu, wie seine dicken Finger ein Schnupftuch aus der Tasche holten und er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Er setzte sein Hütchen wieder auf.
„Jetzt du.“ Der angsteinjagende Stab zeigte auf ein Mädchen in der ersten Bank.
Anna stockte vor dem letzten Satz. Ihre Ohren wurden vor Aufregung rot und durchsichtig.
Der Herr Pfarrer schlug mit dem Zeigestab auf das Pult.
„Und – führe – uns – nicht – in Versuchung, – sondern – erlöse – uns – von – dem – Übel. Armen.“ Er stellte den Stab zurück in die Ecke.
„Liebe Kinder.“ Freundlich lächelte er uns an und faltete seine Hände vor der Brust. „Bis zur nächsten Religionsstunde möchte ich, dass ihr alle das Vaterunser sprechen könnt. Übt mit euren Eltern. Ihr wollt doch keine Heidenkinder sein.“
Dreißig Köpfe schüttelten sich.
„Heidenkinder kommen nicht in den Himmel.“
Karl war einer der Jungen, die im Nachbarhaus wohnten. Auf dem Heimweg lief er vor uns.
„Tut dein Hintern noch weh?“, fragte Marie voller Mitleid.
Karl drehte sich um: „Nee, mein Vater schlägt härter!“ Schnell lief er davon.
„Das tut bestimmt noch weh“, sagte Marie. „Ich bin so froh, dass der Herr Pfarrer keine Mädchen schlägt, sondern nur die Jungs.“
„Heute ist Elternabend in der Schule, Mama hat gesagt, Papa geht hin.“
„Warum, was macht er da?“
„Reden!“
Ich dachte an den Elternabend, als ich in der ersten Klasse war. Wie wütend Papa am anderen Morgen davon erzählte. Frau Wengert war der Meinung, dass ich noch nicht in die erste Klasse gehöre und er mich zurückstellen solle. Sie zeigte ihm meine Bilder, die waren alle schief und krumm gemalt. Papa sagte ihr aber ganz gehörig die Meinung. Was sie denn erwartete in der ersten Klasse … Das ist doch keine Lehrerin, wütend war er aufgestanden.
Nach dem Mittagessen durfte ich mit Mama zum Einkaufen. Oma war da und passte auf meine Schwestern auf.
In unserem kleinen Dorf gab es drei Lebensmittelläden, zwei Bäckereien und eine Metzgerei. Heute gingen wir in den Gubi-Laden. Die Glocke über der Tür bimmelte und ich roch Obst und Käse, als wir hineingingen. Frau Mangel kam hinter einem Vorhang in den Laden. Ich mochte die freundliche Frau mit den roten Backen und der blauen Schürze. Jedes Mal bekam ich ein Brausebonbon, wenn Mama zahlte. Wenn sie anschreiben musste, bekam ich keins. Wir brauchten Mehl, Salz und Zucker, das sagte Mama zu Frau Mangel. Die holte es aus den Regalen und stellte es auf die Theke. Ich stand am Kühlregal. Bunte Becher mit Bildern von Erdbeeren, Bananen und anderem Obst gefielen mir. „Mama, bekomme ich so einen Becher?“
„Nein, das magst du nicht!“
„Doch, ganz bestimmt!“
„Das ist Joghurt!“ Frau Mangel lächelte mich an.
„Mama, bitte, ich möchte so gerne einen Becher.“
Meine Mutter stellte sich neben mich, ganz fest krallte sie ihre Finger in meinen Arm. „Wehe dir, du isst das nicht!“
Wütend, mit Schlitzaugen und zusammengepresstem Mund sah Mama mich an. „Welchen willst du?“
„Den“, ich deutete auf einen Becher mit Erdbeerbild.
Frau Mangel schenkte mir ein Brausebonbon. Voller Stolz und Freude nahm ich meinen Joghurt von der Theke. Kaum war die Ladentür geschlossen, fing Mama an zu schimpfen: „Wie konntest du mich nur so blamieren, ich wollte den Becher nicht kaufen, wir haben kein Geld für so was. Aber du konntest ja keine Ruhe geben. Er wird dir sowieso nicht schmecken.“
Ich blickte auf meinen Joghurt. Ganz bestimmt würde er schmecken.
„Mein Geld reicht jetzt nicht mehr für den Bäcker.“
Ich fühlte mich schlecht, warum nur hatte ich unbedingt diesen Becher haben wollen. Zu Hause holte ich mir einen Löffel, vorsichtig zog ich den Deckel ab. Voller Vorfreude schob ich den Joghurt in den Mund.
Ich erwartete etwas besonders Leckeres. Er war nicht süß, ungewohnt sauer und schmeckte nicht. Mama stand vor mir und schaute mich an. Sie sagte kein Wort und ich aß, Löffel für Löffel, unter ihrem Blick den Joghurt leer.
Papa gab uns einen Gutenachtkuss und ging zum Elternabend. Ich schlief tief und fest, als Mama mich weckte. Im schmalen Lichtschein, der aus dem Hausgang ins Kinderzimmer fiel, sah ich ihre roten Augen. „Pst, sei leise, damit deine Schwestern nicht aufwachen, du sollst zu Papa kommen.“
Mir fiel der Joghurt ein, jetzt würde Papa bestimmt mit mir schimpfen.
Er saß in der Küche und hielt meinen Schuh in der Hand. „Fräulein, du bist zu dumm, um deine Schuhe selber zu binden. Frau Wengert musste das heute für dich machen.“
Der Schuh traf mich am Arm. „Anziehen und zubinden, ich will sehen, wie du das machst!“
„Es ist schon so spät, sie kann dir das ein anderes Mal zeigen. Das Kind hat doch morgen wieder Schule.“
„Wenn du zu blöd bist, es ihr beizubringen, dann muss ich es tun.“
Ich zog den Schuh an und setzte mich auf den kalten Küchenboden. Schlaufe machen, Hasenohr, Hasenohr kuscheln sich ein … und festziehen, ich hatte zwei Schlaufen. „Papa schau.“ Ich zeigte auf meinen Schuh.
Doch Papa war an meinem Schulranzen und holte das Lesebuch heraus.
„Nicht mal die einfachsten Wörter kannst du lesen, hat deine Klassenlehrerin gesagt, du lernst alles auswendig.”
Ich zuckte zusammen, als das Buch vor mir auf dem Boden landete. „Wo seid ihr gerade?“
„Seite 28!“
„Lies!“
„Hans und Susi gingen zu Oma.”
„So und jetzt das hier.“ Papa zeigte mit dem Finger auf eine Zeile, die ich nicht auswendig kannte.
„Was steht da?“
„Bitte, es ist doch schon so spät, das Kind ist müde.“
„Ich bin auch müde und muss morgen wieder zur Arbeit.”
„Morgen Abend, sie kann es dir doch morgen Abend vorlesen. Sonst erzählt sie noch in der Schule, dass sie nachts lesen üben muss.“
Angestrengt versuchte ich die Tränen zurückzuhalten und starrte auf den Text. Die Buchstaben verschwammen. Warum war ich so dumm und konnte es nicht lesen. Ich wollte es doch so sehr.
„Geh ins Bett und gnade dir Gott, du kannst es bis morgen Abend nicht.“
Erleichtert ging ich ins Bett. Stumm bat ich die Schatten aus der alten Wohnung herzukommen. Ihnen würde ich alles erzählen können. Doch so sehr ich auch versuchte, die dunklen Gestalten zu sehen, sie kamen nicht. Sie kamen nie ins neue Haus.
Am anderen Tag übte Mama mit mir. Ich konnte Seite achtundzwanzig und neunundzwanzig auswendig.
Doch vorlesen brauchte ich es nicht. Papa ging jetzt jeden Abend ins Wirtshaus und hat es vergessen.