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Chraim
Ich war ein Mensch.
Gestern noch oder vorgestern oder vor ein paar Tagen; es fällt mir mit jeder Stunde schwerer, das zu bestimmen.
Ich war kein besonderer Mensch. Ein unsportlicher Mann von Mitte Dreißig mit in die Jahre gekommener Frisur und einem Bauchansatz unter dem immer gleichen Heavy Metal T-Shirt. Ich hatte keine Freunde - woher sollten die auch kommen, wo ich mich alle Zeit in meine Science-Fiction Bücher vergrub und in inflationärer Zahl Filme guckte.
Verwandte hatte ich mir vom Leib geschafft, Kollegen …
Ha, meine Kollegen hatten gar keine Wahl: Sie mussten mit mir klarkommen; sich dazu überwinden, mich anzusprechen und ihre „Problemchen“ vorzutragen. Es war mir ein Vergnügen, ihnen dabei zuzusehen wie sie sich meinem Schreibtisch gleich einer versifften Toilette näherten, wie ihre Ungeduld schon beinahe in Panik zu kippen drohte, weil ihr Rechner seinen Dienst verweigerte und ihnen nun mal kein anderer helfen konnte außer der Freak.
Ich brachte ihre Technik in Ordnung und zerknirscht dankten sie mir dafür, fühlten sich von mir abhängig und verdächtigten mich insgeheim, ihre erotischen Internet-Ausflüge (meist Ursache der Systemabstürze) nach oben zu melden.
Frühling, Sommer, Herbst und Winter kamen und gingen mit einer einzigen Zäsur: dem alljährlichen Urlaub. Ich stopfte zwei Unterhosen, Zahnbürste und Bücher in die Packtaschen meiner altersschwachen Harley, tankte auf und fuhr los. Kurvte über die Alpen und das Velebitgebirge hinweg in Richtung Fähre und setzte auf die immer gleiche Insel über; zog eine Plane zwischen zwei Olivenbäume und las.
Noch war ich ein Mensch.
Wäre es noch heute und die Katastrophe wäre nicht geschehen, hätte ich mich woanders aufgehalten; an einem öffentlichen, sicheren Ort.
Ich aber hasste die Campingplätze mit ihrer Presslufthammer-Musik und dem Gelaber der Menschen. Zog mich unter Sterne zurück, betrachtete ihr Flimmern und philosophierte Romantik, ohne zu erkennen, das da oben Kriege tobten, Schlachten jenseits menschlicher Vorstellungskraft.
Jetzt weiß ich es.
Jeden Abend verließ ich meine Oase, kaufte Wurst und Brot. Ich trank Bier, las und schlief. Begab mich jeden Morgen auf einen ausgiebigen Spaziergang. Lief die schmale Straße entlang bis zum nächsten Dorf, und dann zum nächsten und dann immer weiter, vom Meer weg tief in das Land hinein. Pilgerte und gelangte in eine Art Trance dabei, empfand die Hitze der aufsteigenden Sonne als angenehm, das Gewicht meines durchgeschwitzten T-Shirts als gottgegebene Last. Außerirdisch anmutende Libellen begleiteten mich wie Bodyguards. Hin und wieder tuckerten Traktoren, kutschiert von kopfschüttelnden Bauern an mir vorbei.
Wenn mich überhaupt etwas störte, waren es die Radtouristen. In schreiendbunten Darm gepresste Idioten: Kopf nach unten auf den Tacho, kein Blick für die Schönheit der Natur rasten sie an mir vorbei, grußlos und immer zu knapp, verzagt und schmallippig die Pedalen tretend.
Ich ignorierte sie. Setzte meine Schritte, schweißüberströmt - denn noch war ich ein Mensch.
Chraim zu ignorieren war mir nicht möglich.
Ihr Rad streifte meinen Arm, ich wollte aufbegehren, doch dann sah ich ihre Silhouette und hielt meine Klappe.
Chraims schlanker Körper steckte in einem enganliegenden Dress. Ihre Beine bewegten sich wie in keramischen, perfekt geschliffenen Lagern, wie die Teile einer komplexen, hochmodernen Maschine. Ich öffnete meinen Mund und blieb mit klopfendem Herzen stehen.
Ich und die Frauen, ha. Ich hatte das längst aufgegeben. Nur die Schönen hatten mich je interessiert – doch war ich stets Ungeziefer für sie oder bestenfalls Luft.
Ich beschloss, dieser Frau so lange wie möglich hinterher zu sehen, dem gleichmäßigen Auf und Ab ihrer Oberschenkel zu folgen, auf ihren Arsch zu starren und später zu träumen von ihr. Davon zu träumen, dass sie die Füße aus den Pedalen klicken und am Feldrand halten und warten würde, auf mich.
Genau das aber tat sie.
Warf das Bike ins Feld und drehte sich nach mir um. Ich sah sie an: Mit herabhängenden Armen ruhte Chraim in sich selbst. Verkörperte nicht diskutierbare Macht.
Zögernd setzte ich meine Schritte - noch zehn, acht, sechs … Ich schluckte. Niemals würde ich wagen, sie anzusprechen, sie mit meinem Vorhandensein zu beleidigen, sie zu beschmutzen wie eine Zecke den Wirt. Ich würde an ihr vorbeigehen, der Situation mit einem Räuspern entfliehen.
Dann aber sah ich auf, genau in ihre Augen.
Herrgott.
Ich hatte die Gemälde Gustav Klimts gesehen, das Gold, mit dem er seine Frauen umarmte. Von diesem Gold waren ihre Augen - leicht ovale Katzenaugen mit goldener Iris und tiefschwarzer Pupille; kunstfertig gemeißelt in ihr junges, schönes Gesicht.
„Ich …“
„Ich weiß, was du willst“, unterbrach mich Chraim, nahm meine Hand und zog mich fort. Ich folgte ihr, kopflos, ins Feld, stolperte über Gestein, schlug Haken durch das Gestrüpp. Auf einem flachen Stück Wiese hielt sie inne, streifte sich das Dress vom Leib und stand nackt vor mir.
Noch war ich ein Mensch, noch Mann.
Ich kapierte nicht, wer oder vielmehr was diese Frau war, dass ich sie nicht ohne Gegenleistung bekommen würde.
Mit einem Grunzen umfasste ich ihre Taille, griff ihren Arsch, ließ meine Hände wie ein hungriges Tier über ihre Brüste wandern und ihren Bauch. Tauchte meine Nase in ihre Achseln, roch ihre Verderbtheit und verlor die Kontrolle.
Hätte ich gewusst, was mir diese Frau antun würde, wäre ich dann davongelaufen? - Ich glaube es nicht. Stand ich doch längst unter ihrem Befehl, war ihr ausgeliefert wie ein Junkie dem Stoff.
Meine Erektion schmerzte. Chraim griff danach und erlöste mich mit den Händen einer Taschendiebin. Gewährte mir eine letzte menschliche Regung vor dem Nichts.
Ich ergoss mich, Gott anrufend mit fettgedruckten Fragezeichen in den Augen; Augen, die sie mir schon bald nehmen würde, ebenso rauben wie Stimme und Trieb.
„Wie … heißt du?“, wagte ich zu fragen und: „Chraim …“, antwortete sie, grollte es wie ein vor dem Ausbruch stehender Vulkan.
Mit offener Hose stand ich vor ihr.
Chraim sah mich mitleidig an. Dann legte sie mir die flache Hand auf die Brust und brachte mich um.
Wie lang ist das her?
War es gestern, vorgestern oder vor ein paar Tagen?
Der Schmerz war entsetzlich. Energie floss aus Chraim und ich glaubte im Netz einer Hochspannungsleitung zu hängen. Der Schmerz drang wie flüssiges Metall in meinen Körper; dann geißelte er mich, mit glühender Peitsche von innen heraus.
Ich sah meine Haut Blasen werfen und sich entzünden; begriff, dass ich wie eine Fackel brannte. Wollte mich hinwerfen und über den Boden wälzen - doch etwas lähmte mich und so sank ich auf die Knie …
Inhalierte den Rauch meiner verkohlenden Haare und schrie.
Ich bin.
Bin Gedanke.
Taumle durch den Raum und suche Halt, suche Halt und Struktur, bemühe mich, anzudocken an etwas, das zu meinem Universum gehört, dass ich kenne und benennen und beschreiben kann.
Ich falle.
Falle nach unten, falle nach oben, mit Übelkeit erregender Geschwindigkeit ins Nichts. Weil es ein fürchterliches Gefühl ist, versuche ich den Ritt zu stoppen, die lichtlose Unendlichkeit mit Gedanken zu füllen. Versuche, mir Wände, einen Boden und eine Decke, einen Raum vorzustellen - doch das macht es nur noch schlimmer, denn mein Raum ist ein Alptraum: Zehntausende Mausefallen und ebenso viele Tischtennisbälle und natürlich fällt einer der Bälle auf die Drahtkonstruktion der Falle – die wütend zuschnappt und ihn davonkatapultiert und dann trifft er die nächste und löst eine Kettenreaktion aus. Ich würge beim Anblick der tanzenden Bälle und der wie durchgedrehte Ratten schnappenden Fallen.
Beruhige mich, irgendwann. Vermisse etwas, glaube, dass es etwas Wichtiges ist und horche ins Nichts. Begreife das Fehlen von Atem und Herzschlag, finde keinen Hinweis auf die Existenz meines Körpers und wieder beginnt sich das Dunkel um mich herum zu drehen wie die Zimmerdecke eines Betrunkenen.
Stunden später nehme ich die Katastrophe an.
Ich habe keinen Körper mehr.
Bin nicht länger ein Mensch.
In meiner Vorstellung ist nicht viel von mir übrig. Die graue Masse meines Hirns schwimmt in einem transparenten Behälter, angezapft von bioelektrischen Würmern. Es sind hässliche, schwarzschimmernde Blutegel, die mein Bewusstsein abtasten und die Daten einspeisen in das System einer fremden, wissbegierigen Intelligenz. Ich spüre die Wand meines Behälters und das Vorhandensein weiterer. Sie sind neben mir, links und rechts, vorn und hinten und oben und unten. Beschriftet und übereinander gestapelt und durch immer dickere Kabel miteinander verbunden. Eine Datenleitung, die aus dem riesigen Raum in den nächsten führt und danach in den nächsten und nächsten …
Chraim?
Ich rufe sie, seit Stunden, vergeblich.
Bin ich Batterie, Chraim?
Bin ich Medium, Speicher oder Prozessor?
Denn sie scheinen mich zu benutzen. Speisen fremde Gedanken in mein Bewusstsein und das ist ein Gefühl wie warme Pisse im Mund.
Sie erzeugen Territorium. Beschaffen mir Holz, Steine und Stahl, versorgen mich mit immer komplizierteren Materialien und befehlen mir, damit Türme, Brücken und Bunker zu errichten. Erteilen mir die Befehlsgewalt über zehntausende Soldaten, statten mich mit Panzern und Granaten aus. Rufen gesichtslose Wilde als meine Gegner auf den Plan und zwingen mich zum Kampf.
Ich gehorche. Erschaffe Lebewesen: einen Fisch, dann eine Ratte und schließlich etwas, für das ich keinen Namen habe.
Sie lassen mich nicht ruhen, erlauben keine Rast, speisen mich mit immer neuen Informationen, lassen mich Daten saufen und Input, Input, Input fressen. Brennen mir dreidimensional Baupläne und Koordinaten wie mit einem Eisen ins Hirn. Es wird krank davon, entzündet sich, beginnt zu bluten und bildet schorfige Narben an Cortex und Hypothalamus.
Wie lange noch, Chraim?
Immer wieder rufe ich nach ihr. Erinnere mich an die Igelnasen ihrer Brüste, an das schulterlange, blauschwarze Haar und ihre Katzenaugen.
Es war nicht deine wahre Gestalt, oder, Chraim?
Wie siehst du wirklich aus - wer oder was seid ihr und wie viele habt ihr von uns? Wie lange noch, Chraim - diese Frage ist wichtiger als alle anderen, wie lange noch werde ich an euren Drähten hängen?
Ich verlange zu sterben, Chraim. Weil ich es nicht länger ertrage. Du musst mir diesen Wunsch erfüllen, Chraim, um der alten Zeiten willen!
Dass sie mich nicht sterben lassen – dieser Gedanke bricht wie der Schlag eines Hammers in mein Hirn. Ich gerate in Panik – begreife, das es möglich ist, dies hier noch Monate oder Jahre zu ertragen – und da brennen meine Sicherungen durch.
Stunden oder Tage.
Außer Gefecht gesetzt erfahre ich Schonung. Kein Input mehr, ein paar ruderfreie Tage für den Galeerensklaven, der dennoch gekettet bleibt an seiner Bank. Sich dort manisch hin und her wiegt, mit geblendeten Augen und durchgestochenen Trommelfellen immer nur eines hört: seinen inneren, tosenden Sturm.
Die Ruhe beschert mir einen Traum: Ich finde mich auf einem Bahnhof wieder, menschenleer mit den Ausmaßen einer Zeppelinhalle. Der Boden beginnt zu vibrieren, ich stehe zwischen den Schienensträngen und gewahre die Lichter des einfahrenden Zuges. Ich sehe ihn auf mich zukommen und will beiseitetreten – doch etwas hält mich fest. Ich versuche, mich zu bewegen, doch schaffe es nicht; versuche, mich loszureißen, strecke die Arme aus, reiße sie nach vorn und spreize die Finger gegen das Magnesiumlicht der Scheinwerfer. Begreife, dass der Zug mich zerschmettern wird und erwarte den Schmerz.
Return! Er kommt immer wieder auf mich zu, immer wieder und wieder und ich schreie wie von Sinnen, denn meine Angst ist jedes Mal neu.
Ich spüre Taubheit. Bin ich krank? Versorgen sie mich mit Medikamenten, pumpen sie mich mit Drogen voll? Jedenfalls bekomme ich keine Aufgaben mehr. Ich beginne zu hoffen. Vielleicht bin ich wahnsinnig geworden und damit nutzlos für ihre Versuche. Vielleicht war es Chraim, die mir geholfen, ein gutes Wort für mich eingelegt hat bei ihrer Schar.
Alles leuchtet, alles um mich herum strahlt.
Kommt jetzt Gott? Trägt er einen Maßanzug zu seinem langen Bart? Kommt Chraim an mein Krankenbett, nimmt mich mit nach draußen und zaubert mich gesund?
Tatsächlich erwache ich auf einer wild nach Lavendel duftenden Wiese. Ich strecke meine Glieder, spüre Sehnen und Bänder, spüre Gras und Dreck unter meinen Zehen, unter meinen Pfoten, schüttele mich und begreife: ich habe meinen Körper zurück, er ist trainiert und schön. Fassungslos rolle ich mich über die Wiese, stehe auf und erblicke Chraim.
Sie liegt vor mir - schöner als je zuvor. Trägt ein helles, kurzes Fell. Verdreht die goldenen Augen und maunzt: „Du bist durchgedreht.“
„Durchgedreht?“, frage ich.
„Das ist nichts Besonderes“, antwortet Chraim. „Das erleben wir ständig bei Euch, Eure Performance ist schlecht.“
„Unsere … Performance?“ Ich verstehe nicht. Starre Chraim an und suche nach Worten.
„Ich fühle mich … kräftig“, bringe ich schließlich hervor.
„Du bist ein gesunder Kater in seinen besten Jahren.“
„Und jetzt?“
„Gehst Du den Fluss entlang. Hinter der Anhöhe liegt ein Bauernhof. Nette Leute leben da, vor allem aber eine rollige, graurote Katze.“
In mir erwacht Verlangen. Selbstverliebt strecke ich meine Pfote aus und werde geil beim Anblick der aus meinen Hauttaschen herausfahrenden, messerscharfen Krallen.
„Chraim?“ Ich will ihr erklären, dass ich keine Andere, sondern nur sie alleine haben will – aber da ist sie schon fort und ich schleiche zum Bauernhof.
Tage später kehrt das Dunkel zurück.
Und ich bekomme wieder Input. Führe Krieg und erleide fürchterliche Verluste. Die Bestien zerreißen meinen Vater,
vergewaltigen meine Mutter und meine Schwester, bevor sie sie entführen. Der Zorn treibt mich zu immer neuem Angriff, ich entwickle Mechanismen und töte Hunderte, bevor ich erneut zusammenbreche.
Vielleicht bin ich Muster. Vielleicht bemustern sie uns, reisen seit Jahrtausenden durchs All und rekrutieren Soldaten. Simulieren Auseinandersetzungen und bewerten unsere Reaktionen. Sind Späher oder eine Art Geheimdienst im Auftrag ihrer Regierung.
Sie sind nicht gerade zimperlich. Fressen oder gefressen werden, das ist wohl das All.
Sie haben mich wiederhergestellt.
Stellen mich immer wieder her und in mir wächst der Verdacht, dass sie mein Hirn längst herausgelöst haben aus seiner unnützen, sterblichen Hülle, es übertragen haben in ein System, das überdauern wird. Einst war ich in Panik geraten, aus Angst, es noch Jahre ertragen zu müssen. Jetzt weiß ich: Ich werde Jahrtausende leiden, bis zum Ende aller Zeit.
Gestern habe ich von einer Frau geträumt.
Kein guter Moment, mitten im Krieg.
Ich glaubte, diese Frau zu kennen, sie vor Äonen getroffen zu haben.
Ihre Silhouette war atemberaubend. Ihr schlanker Körper steckte in einem enganliegenden Dress. Ihre Beine bewegten sich wie die Teile einer komplexen, hochmodernen Maschine. Ich hatte die Gemälde Gustav Klimts gesehen, das Gold, mit dem er seine Frauen umarmte. Von diesem Gold waren ihre Augen, Katzenaugen, gemeißelt in ein junges, schönes Gesicht.
Wenn ich mich nur an ihren Namen erinnern könnte …