- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 15
Chorgesang der Toten
Unsicheren Schrittes marschierte Karl Friedrich Klagefeld heimwärts. Betrunken war er nicht, doch stark angesäuselt, zumindest nach eigener Einschätzung. An diesem Abend war das Glas auf den Geburtstag einer Violinistin erhoben worden. Verstärkt durch den Alkohol, dem er nur gelegentlich zusprach, entlockte ihm der Gedanke daran ein Lachen.
Für seinen Aufenthalt als Gastdirigent hatte das Musikkonservatorium Lilienthal ihm ein Zimmer in der Pension „Villa Schwertlilie“ reserviert, malerisch in einer Parkanlage gelegen. Er näherte sich dem alten Friedhof, der auf der hinteren Seite nur durch einen Birkenhain vom Grundstück der Pension getrennt war. Stellte man sich vor der Friedhofsmauer auf die Zehenspitzen, konnte man die Grabsteine erblicken. Vor mehr als hundert Jahren war die geweihte Stätte durch eine neue am östlichen Ortsrand ersetzt worden. Da hier auch lokale Prominenz bestattet war, wurden die alten Gräber nicht aufgehoben und alsdann kümmerte sich niemand mehr darum.
Beim Anblick der Mauer verspürte Klagefeld unvermittelt Harndrang, was ihn verleitete, das zu tun, was er bei andern im nüchternen Zustand als verachtenswert empfunden hätte. Doch er fühlte sich im Recht, da der spontane Druck ihn drangsalierte. Zu dieser Zeit war auch niemand mehr unterwegs und im Licht des Mondes wäre er allenfalls nur als Silhouette vor der Mauer wahrnehmbar gewesen.
Das Plätschern animierte ihn zu flüchtigen Gedanken an Händels „Wassermusik“. Er lachte, doch es erstarb abrupt, da er dachte, etwas zu hören. Ich bin wohl doch besoffen, dass ich meine, im Wasserstrahl ein Durcheinander von Gesangstimmen herauszuhören. Mit dem Versiegen des Plätscherns nahm das Klanggemisch aber kein Ende. Gedämpft hörte er es, eindeutig mehrstimmig. Er schüttelte den Kopf, drückte die Zeigefinger fest auf beide Gehörgänge, damit diese unsinnigen Töne aufhörten. Erfolglos, nun hob sich gar eine Sopranstimme mit einem „Ave Maria“ hervor, gleich wieder durch verschiedene Liedtexte übertönt, vorgetragen von Tenören und Sopranen, einer Altstimme und einem Bass. Karl Friedrich wurde abwechselnd heiss und kalt. Bin ich verrückt oder träume ich? Kann es der Alkohol sein, der mich Stimmen vernehmen lässt? Soviel war es doch nicht? Gut, ich vertrage nicht allzu viel, aber gleich ein Wirrwarr an Stimmen zu hören, ist doch abwegig.
Erlösend kam ihm der Gedanke, hier übt ein Chor, jeder für sich allein, wie ein Orchester, das seine Instrumente einstimmt. Bei einem Chor ein abstruses Vorhaben, wer kommt da nur auf eine solch weinselige Idee? Es ist auch merkwürdig, auf einem alten Friedhofsgelände ein Übungslokal zu unterhalten, aber immerhin stört es hier niemanden. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um nach Licht in einem Fenster Ausschau zu halten. Es gab da jedoch kein Gebäude, einzig Grabsteine und drei vereinzelte Bäume, die er im schummrigen Licht ausmachen konnte. Aber die Laute kommen eindeutig von diesem Grundstück. Bin ich doch verrückt, oder stellt sich ein Tinnitus ein? Seine Heiterkeit, die ihn noch beflügelt hatte, verflog nun gänzlich. Angst beschlich ihn. Dies darf nicht sein, es wäre eine Katastrophe, das Ende meiner beruflichen Karriere! Als ob ein schwarzes Loch sich öffnete, stellte sich eine düstere Verstimmung ein, zwischen Zorn und Resignation schwankend. Es muss eine Erklärung geben, die Gesangstimmen bilde ich mir nicht ein!
Das alte Eisentor war nicht verschlossen, es öffnete sich mit dem kreischenden Ton von aufeinander reibendem Metall. Die Stimmen waren nur einen Moment verstummt und setzten in unveränderter Dissonanz wieder ein.
Kein Mensch war zu sehen, obwohl es gut ein Dutzend Stimmen sein mussten. Ungläubig trat er zwischen die Grabsteine, es klang so nah und doch gedämpft. «Zum Teufel, so geht das nicht!», rief er laut die Töne überschallend, überzeugt, ins Leere zu sprechen.
«Hallo, Herr Klagefeld», erklangen im Chor gemischte Stimmen.
Er wankte, zitterte vor Schreck, ein panisches Gefühl unterdrückend, welches aufzutreten drohte. Das ist kein Tinnitus, wenn ich klar sprechende Stimmen höre. So beruhigend dieser Umstand war, schauderte ihn die Tatsache, dass an diesem ungemütlichen Ort Geschöpfe zugegen waren, die ihn kannten. Wenngleich, an Geister glaubte er nicht.
Eine gespannte Ruhe war eingetreten, als ob er am Dirigentenpult stünde, das Orchester bereit zum Einsatz. Schleichend kam ihm der Verdacht, dass die Teilnehmer der feuchtfröhlichen Geburtstagsrunde vorausgeeilt wären, um ihm einen Streich zu spielen, und sich hinter Grabsteinen versteckt hielten. So schnell sein Gang es erlaubte, hastete er von Stein zu Stein, doch da war nichts. Sein aufgekeimtes Frohlocken fiel wieder in sich zusammen, die düsteren Gedanken noch stärker aufwühlend.
«Ich durchschaue das üble Spiel. Wo seid Ihr? Kommt hervor!» schrie er aufgebracht.»
«Möchten Sie das wirklich?», erklang eine gedämpfte Stimme. Schallendes Gelächter folgte, auch mit dieser unerklärlichen Dumpfheit, und verebbte nur langsam. «Wir sind die Bewohner von diesem Ort», dies war nun eine helle Frauenstimme.
Er versuchte sie zuzuordnen, doch sie kam ihm nicht bekannt vor. Sicher sind es Schüler des Konservatoriums, die aus Unfug harmlose Passanten erschrecken?
Klagefeld erstarrte, denn knapp vor sich nahm er eine Bewegung wahr. Der Erdboden wurde durch eine Knochenhand durchbrochen. Die Finger wippten ihm zuwinkend. Fassungslos starrte er darauf, rieb sich die Augen um die Halluzination zu vertreiben, doch es nutzte nichts. Die Beine gehorchten seinem Willen nicht, welcher reflexartig die Flucht die angeordnet hatte. Er stand wie im Boden verwurzelt, unfähig auch nur einen Schritt zu tun. Was geschieht mit mir? Sein Körper zitterte wie Espenlaub, während die Knochenhand sich langsam zurückzog.
«Wir freuen uns über Ihren Besuch, Herr Klagefeld. Seien Sie unser Gast.»
Die lähmende Angst erlaubte ihm keinen klaren Gedanken, er stand nur zitternd da, in Erwartung im nächsten Moment von schauerlichen Skeletten umringt zu werden. Ausgerechnet ihm, der nie an Übersinnliches geglaubt hatte, einzig für die Musik lebte, musste so etwas Abscheuliches widerfahren.
Die gespannte Ruhe, die nun vorherrschte, wurde ihm schon quälend. Es war als warteten die Toten auf eine Antwort von ihm. Seinen Körper konnte er biegen und wenden, doch die Beine waren stocksteif. Um sich zu überzeugen, dass er noch sprechen konnte, fragte er: «Warum … ausgerechnet … ich?» Die Worte kamen abgehackt hervor, seine Kehle war ihm im Moment wie zugeschnürt.
«Sie sind Dirigent, Herr Klagefeld! Wir brauchen Ihre Hilfe.»
«Meine Hilfe?» Er verstand gar nichts. «Ich kann Euch nicht helfen, Ihr müsst mich mit jemand anderem verwechseln. Bitte lasset mich gehen.»
«Nein, Herr Klagefeld, Sie bleiben!» Schneidend scharf stellte eine tiefe Stimme dies klar.
«Nein», gellte sein Schrei durch die Nacht, da er glaubte der Boden unter seinen Füssen gebe nach und er würde ins Reich der Toten befördert. Diese Angst war vorläufig unbegründet, der Boden blieb fest, aber er war hoffnungslos ausgeliefert.
«Wie kann ich Euch denn helfen?», fragte er zaghaft. Die Angst, die Toten weiter zu erzürnen, sass ihm im Genick.
«Einige von uns waren Musiker, einzelne Sänger, da wir aber über keine Musikinstrumente verfügen, bleibt uns nur der Gesang. Wir würden gerne wenigstens noch einmal einen Auftritt einüben, doch konnten wir uns bisher nicht auf ein gemeinsames Stück einigen.»
«Darum dieses elende Katzengejammer, das Ihr hier veranstaltet?», formulierte Klagefeld spontan seinen Gedanken und laut aussprechend. Erschrocken, über seine beleidigenden Worte korrigierte er sich umgehend. «Entschuldigt bitte. Ich wollte sagen, es klang sehr disharmonisch».
Stimmengewirr und Gelächter vermischten sich, bis eine Stimme sich durchsetzte. «Sie verstehen nun unser Anliegen. Also, es ist Ihre Aufgabe als Dirigent uns als Chor auftrittsfähig zu trimmen.»
Klagefelds Gedanken überschlugen sich. Er meinte einen Funken Hoffnung zu erkennen, wie er aus dieser misslichen Lage wieder herauskommen könnte.
«Lasst Ihr mich gehen, wenn ich mit euch ein Lied einstudiert habe?»
Er hörte vielstimmiges Gemurmel, konnte aber nicht verstehen, was sie miteinander besprachen, da die Erde den Schall dämpfte. Doch dann ebbte es ab.
«Wir sind einverstanden, wenn Sie es bis zum Morgengrauen schaffen. Ansonsten müssen sie auf ewig bleiben.»
Karl Friedrich wurde einen Augenblick schwarz vor Augen, … auf ewig, hämmerte es in seinem Kopf. «Und wer garantiert mir, dass Ihr Euer Wort haltet?»
Explodierend erschallte die tiefe Stimme. «Was bilden Sie sich ein, wir sind eine ehrenwerte Gesellschaft. Und seien Sie versichert, wir haben Mittel Sie wenn nötig auf ewig gefügig zu machen mit uns zusammenzuarbeiten. Es ist also ein reines Entgegenkommen von uns.»
Ihm wurde Übel beim Gedanken, was sie mit ihm anstellen könnten, wenn es nicht klappte und er sich weigerte weiter zu üben. Es musste gelingen, um jeden Preis. … Immerhin ist es auch eine fantastische Herausforderung. So eine Chance bietet das Leben, wenn überhaupt, nur einmal. Diese Selbstmotivation war zwar auf wackligen Beinen, aber besser als nichts. Er begann darüber nachzudenken, welche Chorstücke er aus dem Stegreif sicher dirigieren konnte, als ihm ein anderer Gedanke dazwischenkam, der ihn verunsicherte.
«Woher wisst ihr überhaupt, wer ich bin?»
«Die Walpurga Meinnich hat uns Ihren Namen genannt.»
«Ich kenne keine Walpurga Meinnich.» … Oder ist sie etwa diese eingebildete …? Bei unserer Begegnung kam es zu einem heftigen Streit, dabei kenne ich nicht mal ihren Namen.
«Das können Sie auch nicht. Die Walpurga ist vor hundertzweiundfünfzig Jahren verstorben.»
«Wie kann sie da meinen Namen kennen und wissen, dass ich Dirigent bin?» Er konnte sich auf so manches keinen Reim machen, doch dieser Punkt beschäftigte ihn jetzt vordergründig.
«Walpurga hat uns darauf hingewiesen, dass Sie vor der Mauer stehen und sich Gedanken über den Takt der „Wassermusik“ machen.»
Ungeheuerlich! Karl Friedrich fühlte sich benommen und zugleich beschämt. Das alles überstieg seine Vorstellungskraft und zermürbte sein Realitätsverständnis. «Das ist infam und unmöglich, es kann niemand die Gedanken eines anderen lesen!», schrie er.
Es waren kichernde Laute aus dem Boden zu hören. «Wollen Sie etwa behaupten, es sei nicht wahr, was Walpurga uns über sie sagte?»
Karl Friedrich meinte, einen drohenden Unterton herausgehört zu haben. Obwohl sein Schamgefühl auf das Heftigste rebellierte, lenkte er der Angst gehorchend beschwichtigend ein. «Ich habe wirklich an den Takt der Wassermusik gedacht. Aber es waren doch nur Gedanken, ich hatte es nicht mal gesummt.»
«Walpurga hatte bereits zu Lebzeiten diese Fähigkeit sich in das Denken anderer zu versetzen oder auch Dinge wahrzunehmen, die visuell oder akustisch durch andere Menschen nicht erfassbar waren. Dies ermöglicht uns auch am Geschehen rund um unseren letzten Ruhesitz teilzuhaben, es zu erblicken, was im Freien vor sich geht. Sie transportiert es in unser Vorstellungvermögen oder berichtet uns davon.»
Da Karl Friedrich im Moment keine Möglichkeit sah, das Ganze zu begreifen, diese rätselhafte Fragwürdigkeit durch klare Fakten zu widerlegen, zwang er sich rational die Chorstücke in Gedanken durchzugehen, um den Verstand nicht zu verlieren.
«Ja, das ist es!», lachte er trotz seiner unseligen Situation auf, die Idee erschien ihm passend für diese Gestalten. «Kennt Ihr den Gefangenenchor aus Nabucco?»
«Natürlich», erklang es mehrstimmig, sich in ein Stimmengewirr überschlagend. Ein Bass setzte sich durch: «Verdi war sogar einmal hier in Lilienthal. Mechthild, Du hattest ihn doch damals leiblich gesehen.» Mechthilds Antwort ging für Karl Friedrich nicht verständlich im Stimmengewirr unter.
«Ruhe, so kommen wir nicht weiter.» Karl Friedrich war verärgert, einen derart undisziplinierten Haufen hatte er noch nie erlebt. «Es soll nur einer für Euch sprechen!»
«Das bin ich, Egon Schüle, der Älteste der Verbliebenen.» Es war die tiefe Grabesstimme, die da sprach. «Ich bin Sänger. Nabucco ist mir in allen Facetten vertraut, obwohl Verdi es erst nach meiner Zeit komponierte. Meine späteren Musikerkollegen hatten es hier mit mir geübt, da Verdi einen nachhaltigen Einfluss gewann.»
«Gut, dann geben Sie den Ton an», Karl Friedrich hob den Arm, den Taktstock mit dem Finger andeutend.
Der Ton, den Schüle anstimmte, war perfekt. Die anderen Stimmen versuchten sich ihm anzupassen, ein Unterfangen, das nicht auf Anhieb klappte.
«Kennt Ihr alle den Text?» Karl Friedrich hatte Zweifel, dass dies jemals etwas werden könnte. Aber es musste.
Ein Stimmengewirr wogte auf, verstummte, als Karl Friedrich die Hände über dem Kopf zusammenschlug.
Die sehen mich wirklich. Noch immer konnte er es nicht fassen.
«Selbstverständlich sehen wir Sie, sonst würden Sie uns als Dirigent ja nichts nutzen, es sei denn, wir müssten Sie definitiv in unser Gewölbe bitten.» In der Grabesstimme lag eine zynische Heiterkeit.
Natürlich, die können ja auch meine Gedanken lesen, das ist reiner Wahnsinn.
«Nein, das ist die übersinnliche Fähigkeit von Walpurga.» Sein tiefes, abgründiges Lachen, das folgte, kam wie ein Donnergrollen aus dem Erdinnern.
Bei Karl Friedrich hatte dieser Ton ein Frösteln verursacht. Einen Augenblick stellte er sich Schüle in der feuchten, modrigen Gruft, umringt von den andern schlotternden Skeletten vor. Walpurga neben ihm, ihre Fähigkeiten als Medium einsetzend. An den Wänden aufgeschichtete Schädel, wie er es aus Katakomben kannte. Doch da, in einer Ecke des Gewölbes sass an die Wand gelehnt ein Skelett in letzte Kleiderfetzen, Spinnweben bedeckten die Gestalt. Es muss ein unfreiwilliger Gast sein, der hier verendete, der Stoff der Kleider hat sich noch nicht gänzlich zersetzt. Sehe ich etwa mich selbst? Sein visionärer Gedanke drohte in Panik umzuschlagen, weshalb er sich von dem Bild losriss. Krampfhaft bemühte er sich, sein Denken unter Kontrolle zu halten, selbst dieses Vorhaben nicht auszuformulieren, was ihm nicht leicht fiel. So hob er den Arm, sich auf Nabucco konzentrierend, was sofort zu Grabesstille führte.
«Also wenn Ihr mich nicht nur sehen könnt, sondern Euch auch meine Gedanken transparent sind, werde ich den Liedtext beim Dirigieren mitdenken. Dies vereinfacht es vielleicht.»
Er gab Schüle das Zeichen, den Ton anzustimmen, und begann den Takt vorzugeben.
Nach einigen Takten verwarf er die Hände, er fühlte sich voll entrückt in der Rolle des Dirigenten. «Verdammt nochmal, seid Ihr Musiker oder Grabredner, hört in Euch beim Singen! Stellt Euch die Situation dieser armen Schweine von Gefangenen vor, versetzt Euch in deren Gefühle, genauso muss es erklingen.» Er stampfte mit dem Fuss auf die harte Erde, was einen dumpfen Laut erzeugte.
«Kann es sein, das Ihre Fähigkeit als Dirigent doch nicht so erhaben ist?», meldete sich eine bissige Männerstimme.
«Sei still Jakob», herrschte Schüle ihn an.
Karl Friedrich hob er erneut den Arm, ohne dem Zwischenrufer etwas zu erwidern. Zorn schwelte in ihm, dass es jemand wagte, seine Reputation in Zweifel zu ziehen, doch die Angst vermischt mit einem Funken Vernunft obsiegte. Ausfällige Szenen wiederholten sich in dieser Nacht noch mehrmals, doch wie er sich eingestehen musste, waren die Fortschritte erkennbar. Zwischendurch liess er einzelne Stimmen es vortragen, sie an Stellen zurechtweisend, in denen sie die Melodie nicht klangvoll sangen.
Endlich! Ich kann mit ihnen den Auftritt wagen, mit dem Chor der Toten an Verdi eine Reverenz erweisen.
«Jetzt wird es ernst, jetzt kommt der Auftritt. Wir werden es in Erinnerung an Verdis Aufenthalt in Lilienthal dem grossen Meister widmen. Ich möchte aber keinerlei Makel hören.»
Der Applaus war ihm nicht nur hörbar, sondern auch spürbar, durch ein leichtes Erzittern der Erde. Angstvoll schaute Karl Friedrich auf den Boden, doch dieser blieb kompakt.
Er nahm Haltung an, den Arm erhoben, und begann. Gedämpft, aber vollendet brachte die Erde den Chorgesang hervor, liess ihn anschwellen und abklingen, während Karl Friedrich majestätisch Arm und ausgestreckten Zeigefinger führte.
Er war vollauf zufrieden, es hatte wundervoll geklappt. Der Chor hatte sein Herzblut in das Lied gelegt, es vollendet erschallen lassen.
Im Osten begann der Himmel, sich in einem Streifen zu erhellen. Die Wirkung des Alkohols hatte sich durch die aufgepeitschte Stimmung und die eingebrachte Schaffenskraft etwas neutralisiert, wenn auch noch nicht völlig aufgelöst. Nach getaner Arbeit spürte er nun Erschöpfung aufkommen, zugleich kehrte aber auch das Gefühl von Beweglichkeit in seine Beine zurück. Vorsichtig hob er einen Fuss, es klappte. Vor Freude hüpfte er.
Da bildete sich ein Riss im Boden, mit einem Sprung setzte er davon weg, keinen Moment zu früh, denn sehr schnell bildete sich eine breite Kluft, wie ein Höllenschlund. Nun rannte er, so gut es ging.
«Leben Sie wohl, Herr Klagefeld,» erklang es lautstark im Chor, während er durch das Tor schlüpfte, «wir danken Ihnen, dass Sie den Auftritt mit uns einübten und ermöglichten. Wir würden uns freuen, Sie …»
Er war draussen. Die restlichen Worte hatte er nicht mehr verstanden, da er sich schnellstens aus dem Staub machte.
Es war Nachmittag, als er wieder am alten Friedhof vorbeikam. Seine Erinnerung an die vergangene Nacht war ihm höchst suspekt. Das Geschehen hatte sich wie ein Film in sein Gedächtnis eingebrannt, aber eben wie eine Fiktion. Diese vermeintlich nächtliche Eskapade kann ich einzig der Wirkung des Alkohols zuschreiben. So etwas Unsinniges gibt es ja gar nicht und Tinnitus ist es nicht, Gott sei Dank, dies wäre allgegenwärtig. Auch einen Wahn schloss er zögernd aus, er hatte sich kurz zuvor in der Pension noch mit andern Gästen angeregt unterhalten, kein Aussetzer, keine Auffälligkeit, die eintrat. Den Kater hatte er mit einem Pulver für solch seltene Gelegenheiten sowie einer ausgiebigen Mahlzeit vertrieben.
Dass vor der Mauer Blumenbeete angepflanzt waren, war ihm in der Dunkelheit nicht bewusst geworden. Da haben wir es, keine Fussabdrücke oder zertretene Blumen. Ha, ich meinte, direkt vor der Mauer zu stehen, aber es war wohl Einbildung? Eine letzte Spur an Unbehagen und Unsicherheit verdrängte er durch die Überzeugung, dass sich alles als Unfug herausstellen würde, wenn er den Ort bei Tageslicht nochmals in Augenschein nahm. Das Tor konnte er schwerlich und nur einen Spaltbreit öffnen, als ob es seit Jahren nicht mehr bewegt worden wäre.
Bei Tageslicht sah das Grabfeld idyllisch aus, die alten Steine wie Zeugen einer andern Zeit, der Boden von Gras und wild wachsenden Blumen überwuchert. Ein Kleinod, wenn er es so betrachtete. Auch hier entdeckte er keine zertretenen Stellen, keine geknickten Halme. Eine Kluft im Boden oder auch nur ein Riss war nirgends auszumachen. Alles wirkte völlig unberührt.
Er schaute auf die nächststehenden Grabsteine, sie datierten vor über hundert Jahren und mehr. Es gab da keine Angehörigen, die noch nach dem Rechten sahen.
Ich muss voll besoffen gewesen sein, so was passierte mir noch nie.
Seine Augen wurden gross. Er starrte auf einen Namen, der ihm aus der vergangenen Nacht vertraut war: Marie Busenhart. Dahinter sah er nun jenen von Walpurga Demuth. Und da, da und dort. Er entdeckte verschiedene Namen derer, die sich vorgestellt hatten, wie er nun zwischen den Grabreihen durchging. Bei Egon Schüle blieb er stehen. Die Grabesstimme, er konnte es nicht fassen, es gab sie alle.
„Hallo, hört ihr mich?“, die wieder keimenden Zweifel liessen ihn rufen. Totenruhe, wie es sich für den Ort gehörte, ausser Vogelgezwitscher und weit entfernte Geräusche der Strassen.
Also doch nicht! Das Mondlicht musste ausreichend gewesen sein diese Namen zu lesen und der Alkohol gaukelte mir dann visionär eine Fantasiewelt vor. Zum Glück sind sie dabei wenigstens nicht aus ihren Gräbern gekrochen, dies wäre dann doch zu arg gewesen. Er lachte über seinen letzten Gedanken, so ein Aussetzer vor der Realität war ihm wahrlich noch nie widerfahren.
Sich abwendend, um den Friedhof zu verlassen, war er nun überzeugt, dass in der Nacht ein Delirium seiner habhaft geworden war. Sein Schritt erstarrte, dumpf, sanft ansteigend erklang der erste Satz des „Ave Maria“ von Händel. Als er sich umdrehte, war es wieder still, nur die normalen Tagesgeräusche. Sein Herz hatte einen Schlag lang ausgesetzt, Angstschweiss brach ihm aus. Die Panik, welche in der Nacht durch den Alkoholpegel noch begrenzt war, brach nun voll durch. Fluchtartig entfernte er sich vom Gelände.
In weiter Entfernung verspürte er die Ruhe, welche seinem Naturell entsprach, langsam wieder einkehren. Die Umgebung wirkte ihm real, sein Verstand intakt, nichts, dass dies beeinträchtigte.
War dies jetzt ein Nachhall der feuchtfröhlichen Nacht? … Unmöglich, ich fühlte mich vollkommen gut – bis ich den Friedhof betrat! Es muss diese Stätte der Toten sein, welche in mir eine Besessenheit auslöst. Tief durchatmend überdachte er die Erkenntnis. Ausserhalb dieser Mauern bin ich völlig normal, einzig in dem Grabfeld vermögen die Toten mich zu beherrschen. Über seinen Rücken lief ein kalter Schauer. Hatte ich den Ort entweiht und die Toten dadurch aufgeschreckt? … Es war fatal, mit ihnen da noch zu singen: «Verweil an Zions frech entweihten Thoren, und walle still dem Jordan-Ufer zu.» Es hätte leicht zu meinem Sprung über den Jordan führen können, und sie hätten sich gefreut, einen Dirigenten ständig in ihrem Kreis zu haben, die Geister, die ich rief.