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Chopin bei Mondschein
Ich war mir nicht sicher, wie lange ich schon in dieser Zelle saß, aber sie hatte gesagt, ich würde bald entlassen werden oder besser, ich könne mich bald selbst entlassen. Das hatte sie nach dieser einen Vollmondnacht gesagt.
Allmählich wurde es auch Zeit, denn ich konnte sogar im Schlaf die bräunlich-gelben Gardinen sehen. Sie ließen mich nicht mehr los. Die Monotonie der Zelle, das kleine Holztischchen neben meinem Bett und die Luke, die meinen einzigen Kontakt zur Außenwelt darstellte, konnten mich nicht mehr begeistern.
Einzig und allein die Zuflucht, die ich hier fand, hatte mich eine Zeit lang gewärmt. Doch man weiß ja, dass jedes Feuer einmal verlöscht.
Das Gefängnis hast du dir selber gebaut, hatte sie gesagt, und ich weiß auch, dass sie irgendwie damit recht hatte. Das weiß ich aber auch erst, seitdem ich sie erkannt habe. Ich hatte mich eingesperrt, um mich zu heilen, von all dem, was in meinem Leben schiefgelaufen war. Ich wusste, da war viel schiefgelaufen. Ich konnte nur nicht erkennen, was genau. Die Tage hier haben im Großen und Ganzen nicht viel verändert. Irgendwie habe ich weder nachgedacht noch geweint. Ich habe irgendwie nur existiert.
Außer, wenn Vollmond war.
Bei Vollmond sah ich immer durch die kleine Luke in meiner Zelle und wollte greifen nach der gelben Fülle, die mich kurzzeitig hier rausholte, aus der Einsamkeit, die ich selbst gewählt hatte, um etwas zu finden. Die mich vergessen ließ, was Dunkelheit bedeutete.
Ja, es ist wahr, dass ich mich selber eingesperrt hatte und ich würde mich bald entlassen, weil ich so weit war. Lange hatte es mir nichts gebracht, bis zu dieser einen Vollmondnacht.
Sabine besuchte mich nicht mehr. Sie hatte mich oft und lange besucht, und auch versucht, mit mir zu reden. Ich hatte dann versucht, ihr zu erklären, dass ich so nicht geheilt würde.
Eigentlich habe ich mit niemandem außer ihr geredet.
Sie kam das erste Mal, als Vollmond war. Ich habe sie gefragt, ob sie die Gefängniswärterin sei und ob sie die Gardinen wechseln könne, das Bräunlich-Gelb gefiele mir nicht, aber mir war sofort klar, dass so keine Gefängniswärterin aussieht.
Zugegeben, ich hatte sie mir anders vorgestellt oder sagen wir, ich hatte sie mir gar nicht vorgestellt.
Sie war diese grenzenlose Sicherheit, die einen einhüllt, wenn man nur von Sonne umgeben ist, und sie weckte in mir den Schmerz, den man dann hat, wenn man nach ihren Strahlen greifen will und sie nicht erreicht, weil sie- trotz aller Nähe- zu weit entfernt sind.
Ich habe sie nie berührt. Und doch wusste ich, wie sie sich anfühlt.
Sie löste ein komplettes Chaos in mir aus, nachdem ich jahrelang nur Ruhe empfunden hatte. Oder Monotonie.
Warum redest du mit niemandem, fragte sie.
Ich hätte mich nicht hier eingesperrt, wenn ich reden wollte, entgegnete ich.
Sie lächelte, durchbrach meinen Schutzschild mit ihren blauen Augen. Der Mond kam ein bisschen ins Zimmer.
Wer sind Sie überhaupt, fragte ich sie, fing ihre Blicke mit meinen.
Du kennst mich, pflegte sie dann mit einem seltsamen Blick zu sagen, und mein „Sie spinnen“ tat sie mit einem Lächeln ab.
Eigentlich hätte ich auch nie gedacht, dass sie blaue Augen hat. Eigentlich mag ich gar keine blauen Augen. Obwohl Sabine auch blaue Augen hat.
Aber diese Augen waren von einem so intensiven Blau, dass man weder weg- noch hinsehen konnte.
Sie verletzte mich schon an diesem ersten Tag mit ihren Augen, genauer gesagt, verursachte sie solche Schmerzen, dass ich sie hinausschickte. Ich war nicht in sie verliebt oder so, obwohl sie sehr schön war, sie löste bloß ein seltsames Verlangen in mir aus. Ein Verlangen, das merkwürdigerweise nicht ihr galt, sondern mir selbst.
Du kennst mich, sagte sie lächelnd. Und ja, sie kam mir nicht völlig unbekannt vor. Ich kannte zwar nicht sie, aber ich kannte diese wunderbar schmerzlichen Gefühle, die sie in mir auslöste, die ich aber nicht benennen konnte.
Ich hab dann öfters die Gardinen zugezogen, weil ich den Mond kaum noch angucken konnte. Ihre Augen spiegelten sich längst in ihm.
Ich bin eigentlich kein Romantiker. Ich war auch nie einer. Außerdem bin ich mit Sabine verheiratet. Schon lange. Und glücklich. Auch wenn ich mir mein Leben eigentlich anders vorgestellt hatte.
Als ich klein war, wollte ich Pianist werden. Ich habe mir die Finger wund gespielt, am liebsten nachts, an dem großen Flügel im alten Dachzimmer meines Großvaters, wenn meine Eltern nicht da waren. Unser Haus war groß und es hörte mich kaum jemand.
Am liebsten habe ich bei Mondschein gespielt. Die Zeit vergessen, eins mit der Musik und diesem einmaligen Gefühl. Dieser Geborgenheit.
Wenn meine Eltern doch da waren, habe ich auf dem Fensterbrett gespielt, Chopins Klavierkonzert Nr.2 f-moll, und das Duett mit dem Mond hat mich die Nacht hindurch begleitet, manchmal bis zum Morgengrauen. Nichts hat mich je so ergriffen wie Musik, Chopins Musik, was dazu führte, dass ich in ihm meinen Lehrer sah.
Dann bin ich doch Mechaniker geworden. Als Pianist hat man ja keine Chancen. Ich war auch nicht gut genug. Und das Klavier haben sie verkauft. Aber das war nicht so schlimm. Ich hatte das ständige Üben sowieso satt. Und ziemlich viel mit meinem Leben vor.
Eigentlich war ich auch in ein anderes Mädchen verliebt. Sie saß manchmal neben mir beim Klavierunterricht. Ich konnte kaum atmen in ihrer Nähe, weil sie so gut gerochen hat. Und ich weiß, dass sie nussbraune Augen hatte. An ihren Namen erinnere ich mich nicht. Der hat auch nie eine Rolle gespielt.
Aber zum Klavierunterricht bin ich ja dann nicht mehr hingegangen. Ich sehe sie manchmal im Fernsehen, höre ihre Musik. Sie spielt jetzt in irgend einem Orchester. Und dann denke ich immer, dass sie es geschafft hat.
Dann habe ich Sabine geheiratet. Sabine ist ein lieber Mensch. Und wir passen zusammen. Haben uns vom ersten Moment an verstanden. Ich hab sie wirklich gern. Glücklicher kann ich gar nicht sein.
Ich weiß eigentlich gar nicht mehr, wann ich mich hier eingeschlossen habe.
Ich glaube, das war, als das Mädchen geheiratet hat. Aber, wie gesagt, ich bin mir nicht sicher. Ich wüsste auch nicht, wieso das der Grund sein sollte.
Ich habe ja Sabine...
Jedenfalls ist sie immer bei Vollmond gekommen, die Frau mit den blauen Augen, und ich war sauer auf sie, weil sie mich immer mit ihren Sonnenstrahlen verbrannte und so blendete, dass meine Augen weh taten.
Geweint habe ich- wie gesagt- nie.
Warum, hat sie einmal gefragt, bist du nicht traurig, hier zu sein?
Wieder einmal antwortete ich geduldig: Ich habe mich selber hier eingesperrt.
Schlimm genug, hat sie gesagt und ist gegangen, hat mich allein gelassen.
Dann habe ich ein Duett mit dem Mond gespielt. Chopin. Hatte ich überraschenderweise noch immer nicht verlernt.
Ich hätte mir übrigens später fast ein Klavier gekauft. Aber Sabine fand die Idee nicht so gut.
Das ist viel zu teuer, hatte sie gesagt.
Sie hatte recht gehabt. Und ich brauchte ja eigentlich auch keines. Pianist würde ich sowieso nicht mehr werden.
In der Zelle spielte ich viel Klavier. Auf dem kleinen Holztisch neben meinem Bett. Ich weiß, dass sie mich dann beobachtete mit ihren blauen Augen, aber ich ignorierte sie.
Seit einer gewissen Zeit hatte ich Schmerzen, wenn ich Klavier gespielt habe. Ich schloss die Augen und war wieder ein kleines Kind. Das Mädchen mit den nussbraunen Augen saß neben mir in der Musikschule, und ihr Geruch vermischte sich mit dem Klang des Klaviers.
Die Schmerzen waren dann kaum auszuhalten. Sie fühlten sich genauso an wie das Verlangen, dass die blauen Augen in mir auslösten. Sich zu vermissen, obwohl man doch in sich selbst lebt. Merkwürdig.
Ich zog dann die Gardinen zu.
Irgendwann letzte Woche kam sie dann wieder, als Vollmond war.
Ich habe es nicht gemerkt. Die Gardinen waren zu. Denn die Schmerzen waren mit der Zeit unglaublich geworden.
Sie war einfach reingekommen und hatte die Gardinen aufgezogen. Das gräßliche Braungelb wich dem satten Goldgelb des Mondes. Es war grauenvoll. Der Mond sah mich an, groß und rund, als ob er wollte, dass ich spielte. Dass wir zusammen spielten.
Machen Sie den Vorhang zu, habe ich geschrien.
Nein, hat sie gesagt. Mich mit ihren blauen Augen durchbohrt.
Es tut weh, habe ich geschrien.
Ich weiß, hat sie gesagt.
Was wollen Sie überhaupt von mir, habe ich sie gefragt.
Spiel Chopin, so wie früher, war alles, was sie sagte.
Da erkannte ich sie. Sie hatte nachts an meinem Fenster gestanden, als ich klein gewesen war, mit dem Mond Klavier gespielt hatte, mich auf den großen Bühnen der Welt gesehen hatte. Sie hatte mir zugehört, mich ermutigt und manchmal hatte sie mir weh getan- mit ihren großen blauen Augen, wenn mein Verlangen sehr stark war.
Ich bin immer dagewesen, sagte sie, du wolltest mich nur nie sehen.
Dann spielte ich Chopin, ziemlich lange. Ich war sogar richtig gut, und das Mädchen mit den nussbraunen Augen hat mir applaudiert. Der Mond hat mir dabei zugesehen wie immer. Und er war stolz auf mich.
Es gab kein Gefängnis mehr. Ich war frei und verloren, tapste plötzlich unsicher durch meine innere Welt, vor der ich mich viel zu lange verschlossen hatte. Ich hatte wirklich Angst, dass ich fallen könnte.
Es hat sehr weh getan an diesem Abend, fast tödlich weh, wie wenn Glaskristalle einem am Herzen entlang rollen, immer ein wenig Schutz aufreissen und das Herz plötzlich blutet. Es hat so weh getan, weil ich erschüttert wurde, geweckt wurde, befreit von meiner eigenen Sehnsucht, die mich immer wieder besucht hatte mit ihren großen blauen Augen, bis ich sie sehen musste. Ich hatte mich gefunden.
Und ich habe noch lange danach das Salz geschmeckt, dass mir in großen, sanften Rinnsälen die Wangen entlang lief, im Takt der Musik.