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Cholesterin
Mit zusammengekniffenen Augen blickt er in die Leere und sieht die Sonne. Er ist überzeugt, dass ihm der Himmel wieder einmal geholfen hat. Ebenso überzeugt ist er von seiner Gesundheit. Die Natur hier oben gibt ihm alles, was er braucht. Und er kennt die Natur: die Tiere, die Pflanzen und das Wetter. Sogar Gott.
„Die Bäume sind gefällt“, sagt Franz Pfefferle, als er am Abend ins Haus kommt. Er setzt sich vor den Herrgottswinkel an den Eichentisch, der mit Eiern, Schwarzwälder Speck, Butter und selbstgebackenem Brot gedeckt ist.
„Die Kinder kommen gleich“, sagt Ursula, seine Frau, und streicht ihm über die Haare. „Die stehen heute wieder so nach oben ab“, meint sie. Franz weiß, dass sie damit auch seine Gedanken meint. Für ihn gibt es wenige, aber dafür klare Wege, die er viele Male seit seiner Kindheit gegangen ist. Er hat gelernt, was Verantwortung für eine Familie bedeutet.
Franz nimmt das Messer und schneidet den Speck. Seine Sehnen zucken unter der braungebrannten Haut der Hände. Kein Fettgewebe und kaum Muskeln. Trotzdem besitzt Franz genug Kraft, um als Landwirt arbeiten zu können. Er ist stolz auf fünfundzwanzig Kühe, vier Schweine, zwei Haflinger und vierzig Hektar Weide und Wald. Morgens schaut er manchmal kurz in den einzigen und geerbten Spiegel des Hauses. Die Leute sagen, er besäße eine große und zu hagere Gestalt mit einem schmalen Gesicht, aus dem eine hohe, gebogene Nase rage. Ihm ist das egal.
Franz hat vor zwanzig Jahren eine Frau aus dem Nachbardorf geheiratet. Er mag die viel kleinere und rundliche Ursula immer noch sehr. Lange, blonde Locken hängen über ihre Schultern. Zufrieden blickt sie wie so oft mit ihren hellblauen Augen zu Franz, entweder weil er eine gefährliche Arbeit erfolgreich hinter sich gebracht hat oder weil die Sonne scheint.
Die Kinder kommen herein. Trutpert ist sechzehn und ähnelt seiner Mutter. Er geht auf ein fernes Gymnasium und muss mit den Eltern, wenn diese Kühe melken, aufstehen, um zum Bus zu laufen. Barbara geht unten im Tal in die Grundschule. Sie ist erst zehn und dunkelhaarig und schmal wie ihr Vater. Sie streichelt Baxdi, den Schäferhund, während dieser unter die Bank kriecht.
Franz‘ Schwester Hedwig bringt Gläser und setzt sich als letzte an den Tisch. Sie ist noch dünner als Franz. Das Kleid ist ihr zu groß, aber sie fühle sich darin wohl, sagt sie, wenn man sie darauf anspricht. Sie redet nicht viel, weshalb man ihre geistige Begabung unterschätzt.
Alle fünf falten die Hände, schauen nach unten und beten: „O Gott, von dem wir alles haben, wir danken dir für deine Gaben. Du speisest uns, weil du uns liebst. O segne auch, was du uns gibst. Amen.“
Franz füllt die Gläser mit frischer Milch.
„Morgen früh musst du zum Arzt“, sagt Ursula zu ihrem Mann. „Bitte dusch dich heute noch.“
„Bist du krank, Papa?“, fragt Barbara.
„Nein, ich war doch noch nie krank. Es ist nur eine Vorsorgeuntersuchung. Macht euch keine Sorgen.“
„Ist das eine Untersuchung, bevor Sorgen kommen?“, fragt Trutpert.
„Weiß ich nicht“, antwortet Franz.
„So eine Untersuchung sollten alle Männer ab fünfundvierzig jetzt tun“, sagt Ursula. „Ich gehe ja regelmäßig hin. Und seit einem Jahr leitet ein netter, junger Arzt, Dr. Mogitsch, die Praxis im Tal.“
Franz holt am folgenden Morgen seinen dreißig Jahre alten Mercedes Diesel aus der Scheune und wischt unter dem mächtigen Dachvorhang des Schwarzwälder Hofes den Staub mit seinen Händen von den Scheiben, weil er keinen Lappen findet, währenddessen die Hühner hinter das Auto in den Bauerngarten unter einen blühenden Apfelbaum rennen. Von dort geht nach Westen ein schmaler Pfad durch lichte Wälder tief ins Tal und bei klarem Wetter, so wie heute, sieht man über die Rheinebene bis in das Elsass und die Vogesen.
„Bitte rede nicht zu schnell bei den fremden Leuten. Und denk daran, dass die Hochdeutsch sprechen“, bittet Ursula beim Abschied.
Franz steigt ins Auto und blickt auf die bewaldeten Anhöhen. In den Mulden liegen die sich der Landschaft anpassenden Nachbarhöfe. Der erste ist zwei Kilometer entfernt. Er wird von vier Brüdern bewirtschaftet, bei denen es noch keine Frau länger als drei Monate ausgehalten hat. Den nächsten Hof hat ein Schweizer gekauft: Herr Rödelsberger betreibt dort alleine eine experimentelle ökologische Landwirtschaft.
Franz wendet. An die Südseite des Hofs, dort wo das Heu eingefahren wird, grenzt eine steile Wiese, auf der im Sommer seine Kühe weiden und jetzt eine schwarzweiße Katze sitzt. Durch die Wiese führt ein steiniger Weg nach oben in den Wald. Franz verlässt sein Gehöft nicht gerne. Baxdi rennt bellend hinter dem Auto her. Er muss die schmale, geteerte Straße nehmen, die nach Osten steil hinunter führt, an Heidelbeersträuchern vorbei, dann über eine Brücke neben einer stillgelegten Sägemühle. Franz schaut nicht in die Berge; er achtet auf Kurven und erkennt, dass die Gräben an der Seite noch immer voll Wasser stehen.
„Bitte nehmen Sie im Wartezimmer Platz“, begrüßt ihn die Sprechstundenhilfe Frau Riesterer. Franz setzt sich - er ist alleine - und wartet. Er wartet selten.
Endlich erscheint der nächste Patient.
„Guten Morgen, Franz“, begrüßt ihn Fridolin Grammelspacher, dessen linker Arm mit einem gelben Tuch verbunden ist.
„Hallo. Was ist dir passiert?“, fragt Franz.
„Mein Arm ist vielleicht gebrochen; er wackelt so unangenehm. Ich kann es vor Schmerzen kaum aushalten. Beim Heuholen ist eine Leitersprosse durchgeknickt. Bin auf Betonboden gefallen ...“
Fridolin wird unterbrochen.
„Grüß Gott die Herren.“ Frau Obergfell kommt herein. Sie hustet und keucht. Sie wäre ganz heiß, sagt sie, und hätte besser diesen Morgen ihrem Mann nicht geholfen, Kühe zu melken.
„Herr Pfefferle“, ruft die Sprechstundenhilfe. „Sie sind der erste heute.“
„Ich bin nicht krank“, sagt Franz. „Nehmen Sie doch einen der beiden Kranken zuerst dran. Ich besuche inzwischen noch meinen alten Freund Paul Hug hier unten im Tal. Der wird sich freuen. Hab ihn schon lange nicht mehr gesehen.“
„Das geht nicht. Der Doktor hat bereits Ihre Akte in der Hand.“
„Eine Akte von mir? Kenn ich nicht. Braucht er so was?“
„Kommen Sie, wir wollen doch keine Zeit verlieren, wenn andere Patienten warten.“
Franz folgt Frau Riesterer ins Zimmer.
„Guten Tag, Herr Pfefferle. Wie geht es Ihnen?“ Dr. Mogitsch, ganz in Weiß und Tennisschuhen, reicht ihm die Hand.
„Kann nicht klagen. Habe heute noch viel Arbeit.“
„Wir wollen hier dafür sorgen, dass Sie noch lange arbeiten können.“ Dr. Mogitsch bittet Franz, Platz zu nehmen.
„Haben Sie Beschwerden?“
„Nein.“
Dr. Mogitsch geht mit Franz ein langes Formular durch; dann muss sich Franz ausziehen und sein Inneres wird abgehört und untersucht.
„Das habe ich selten“, sagt Dr. Mogitsch, „so gar keine Krankheiten.“
„Krankheiten kann ich mir nicht leisten“, sagt Franz, während er sich anzieht.
„Was meinen Sie?“
„Die Kühe und der Wald brauchen mich.“
„Ich verstehe Sie nicht.“
„Ich habe viel Arbeit im Wald und meine Kühe geben besonders gute Milch“, fährt Franz erregt fort. Franz hat noch nie nachvollziehen können, dass er nicht verstanden wird. Alemannisch klingt für ihn wie Hochdeutsch.
„Reden Sie doch bitte mal langsamer oder geben Sie sich etwas mehr Mühe. Ich verstehe Ihren Dialekt kaum.“
„Das kommt noch, gell?“ Franz betont jedes Wort.
„Ich bin noch nicht lange hier. Aber es gefällt mir, tolle Landschaft, herrliche Berge.“ Dr. Mogitsch spricht wulstig und Franz glaubt, er kenne ihn aus einem Heimatfilm, den der vor Jahren mit Ursula gesehen hat.
„Ja, das sagen alle Touristen zu uns. Doch saftiges Gras und kräftige Kühe sind wichtiger.“ Franz steht auf und möchte gehen.
„Bleiben Sie bitte sitzen, wir müssen noch Blut abnehmen. Machen Sie dazu den linken Arm nochmals frei.“
„Ja, wenn Sie meinen.“
„Das wird leicht“, erkennt Frau Riesterer, „da sind ja fast nur Knochen, Sehnen und pralle Venen.“
„So was kommt von der Arbeit im Wald“, antwortet Franz. Er bewegt sich schon wieder, als wolle er gehen.
„Stillhalten, ich bin gleich fertig.“ Nach ein paar Sekunden zeigt Frau Riesterer das Röhrchen mit Blut.
„Das ist ja so viel, wie ich verliere, wenn ich mir in den Daumen säge“, erklärt Franz.
„Was meint er?“, fragt Dr. Mogitsch und schaut Frau Riesterer an. Doch ohne die Antwort abzuwarten, wendet er sich an Franz: „Für heute sind wir fertig. Nach der Blutanalyse melden wir uns bei Ihnen. Dann entscheiden wir weiter. Auf Wiedersehen, Herr Pfefferle.“
„Auf Wiedersehen, Herr Dr. Mogitsch, war nett, Sie kennenzulernen.“
„Ade und Grüße an Ihre Frau“, sagt Frau Riesterer.
Ursula freut sich, dass Franz nicht so lange weg bleiben brauchte und pünktlich zum Mittagessen kommt.
„Dann war es ja sicher nicht schlimm bei Dr. Mogitsch. Ich finde, dass er ein sympathischer Mann ist.“
„Ja, aber Kühe sind ihm egal.“
Ursula geht zu Hedwig an den Herd. „Heute gibt es übrigens Hühnersuppe. Hedwig musste das schwarze Huhn schlachten. Es hat keine Eier mehr gelegt und ist schräg gelaufen.“
„Gut“, sagt Franz, „nach der Suppe gehe ich gleich mit Baxdi in den Wald. Ich muss Holz wegräumen.“
„Aber pass auf und komm bald wieder. Barbaras Schule schließt heute früher und Barbara will dich sicher gleich sehen, wenn sie kommt.“
Nach ein paar Tagen erhält Franz eine Einladung zu Dr. Mogitsch.
„Es sieht nicht alles gut aus“, beginnt Dr. Mogitsch, „aber Sie müssen sich trotzdem keine Sorgen machen.“
„Ich will mich nicht sorgen. Erst muss ich im Wald Ordnung machen, danach muss ich das Heuen vorbereiten.“
„Schön. Also, wie soll ich es Ihnen erklären? Ihr Cholesterin-Wert im Blut ist zu hoch.“
„Was habe ich im Blut?“
„Cholesterin.“
„Haben das Kühe auch?“
„Das ist nicht mein Fachgebiet. Aber sicher … ja. Alle Zellen haben Cholesterin in ihrer Membran.“
„Also Kühe haben dieses Zeug?“
„Hm …“ Dr. Mogitsch denkt nach. „Dann muss ich Ihnen das mal genauer erläutern: Es gibt gutes und schlechtes Cholesterin. Sie haben fast nur schlechtes in Ihrem Blut.“
„Verstehe ich nicht.“
„Gut, dass ich Sie inzwischen besser verstehe. Ich lese nämlich Johann Peter Hebel und habe mir in diesem Dorf ein Haus gekauft.“
„Das ist schön. Dann bleiben Sie ja für immer hier?“
„Das plane ich. Und ich will all den Leuten hier helfen.“
„Wir brauchen Hilfe. Kann ich jetzt gehen?“ Franz steht auf.
„Nein. Bitte setzen Sie sich wieder. Das Wichtigste habe ich Ihnen noch gar nicht sagen können. Sie müssen Ihre Ernährung drastisch umstellen.“
„Ich? Warum?“
„Weil Sie zu viel Cholesterin im Blut haben. Das könnte mit der Zeit zu einer Verengung der Blutgefäße führen und damit eine Menge anderer Krankheiten nach sich ziehen: einen Herzinfarkt zum Beispiel. Das Risiko, früher zu sterben, ist bei einem hohen Cholesterin-Wert sehr hoch.“
„Das klingt bedauerlich. Was soll ich tun?“
„Ich sag’s Ihnen kurz. Sie dürfen keine Eier, keinen Speck und keine Butter mehr essen.“
Franz blickt schockiert.
„Und Milch sollten Sie auch nicht mehr trinken.“
„Das, das geht doch nicht. Ich will mich nicht allein von Brot und Apfelwein ernähren.“
„Ich habe für Sie einen Diätplan erstellt.“
„Wozu?“
Dr. Mogitsch sagt mit Nachdruck: „Cholesterin muss in Ihrem Blut gesenkt werden. Sie dürfen ab jetzt nur noch Nahrungsmittel zu sich nehmen, die wenig oder gar kein Cholesterin enthalten.“
Franz will das nicht glauben. Er denkt an seine Tiere und fragt: „Wenn im Hühnerei dieses Zeug ist, vor dem ich Angst bekommen soll, und … „
„Ich will Ihnen keine Angst machen.“
„… Und so ein Ei enthält alles, dass sich ein Küken entwickeln kann. Was soll denn dann daran falsch sein, ein Ei zu essen?“
„Ich erwähnte doch gerade gutes und schlechtes Cholesterin.“
„Wird das Zeug schlecht in mir?“
„Das nicht gerade. Aber es ist in Ihrem Blut in einer Form, in der es sich an Blutgefäßwände anlagert.“
„Spielt es dort Teufel?“
„Ja, genau. Endlich haben Sie mich verstanden!“ Dr. Mogitsch lehnt sich erleichtert zurück und gibt Franz ein Blatt Papier: „Also … hier ist genau aufgelistet, was Sie essen dürfen und was nicht.“
„Kann ich jetzt gehen?“
„Ja, gleich, ich will nur kurz noch was sagen. Falls die Diät nicht hilft, müssen wir es mit Medikamenten versuchen. Sie bekommen dann ein Rezept von mir. Und wenn Sie Fragen haben, können Sie mich während der Arbeitszeit gerne anrufen.“
„Das mach ich mal. Ich arbeite den ganzen Tag. Auf Wiedersehen, Herr Dr. Mogitsch.“
„Auf Wiedersehen, Herr Pfefferle, und weiterhin alles Gute.“
Franz zeigt den Zettel seiner Frau. Diese setzt sich auf den nächsten Stuhl.
„Um Himmels Willen Franz! Du bist ja schwer krank! Und ich dachte, du seist so gesund.“
„Ich fühle mich wohl. Aber Dr. Mogitsch weiß mehr. Es gäbe gutes und schlechtes …“ Franz nimmt das Blatt Papier aus Ursulas Hand und liest vor: „Cholesterin.“ Dann blickt er zu Ursula: „Ich hätte von dem schlechten.“
„Aber Franz. Alles an dir ist doch gut. Vor dir rennt der Teufel weg“, sagt Ursula sanft.
Sie liest weiter und erkennt besorgt. „Ich kann jetzt nur noch im Lidl und Aldi unten im Tal für dich einkaufen. Wo nehme ich die Zeit und das Geld her? Ihr braucht mich doch hier!“
„Ach komm. Wir essen so wie immer. Und morgen will ich bei Paul wieder Speck gegen Wein tauschen.“
„Franz, ich habe Angst um dich. Lass uns doch versuchen, Dr. Mogitschs Rat zu folgen.“
„Wenn Du meinst. Ich sehe jetzt erst mal nach den Kälbern.“
Franz verlässt die Küche durch den Milchlagerraum in den Stall und hört Ursula beten:
„O Gott, hilf uns - in unserer Einsamkeit. Lass den Franz gesund bleiben.“
Franz lebt und isst weiter wie bisher. Er folgt der Natur, seinem Magen und seinem Hunger. Er behält Recht und bleibt gesund. Und dünn und sehnig. Jahre später liest ihm Ursula beim Frühstück aus einer Zeitung vor: … Die Patente für Cholesterin-Senker sind abgelaufen. Inzwischen hat sich jedoch herausgestellt, dass die meisten Krankheiten, für deren Ursache man eine zu hohe Cholesterin-Konzentration verantwortlich gemacht hat, altersbedingt sind …
Ursula legt die Zeitung auf ihre Beine und blickt zu Franz. „Es geht doch hier um deine Krankheiten? Verstehst du das?“, fragt sie.
Grinsend schiebt sich Franz ein Stück Speck in den Mund. „Ist mir egal“, antwortet er.