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- 08.09.2001
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chlum
„I am sure that audiences in Japan will thoroughly enjoy the performances, and that the members of the Company will make fruitful and lasting contacts with Japanese dancers, choreographers and ballet enthusiasts.“
– Renè Guinot, createur de l’hydradermie
Trompetentöne hallten durch die Nachbarschaft: Jurij Zingarow war tot, und vor seinem kunstvoll gefertigten, ebenholzschwarzen Sarg, der von den engsten Freunden und einigen in Schale gestopften Hilfsarbeitern getragen wurde, marschierte eine schlecht gestimmte Blaskapelle einher, spielte mit entnervendem rhythmischen Impuls populäre Grabesmelodien. Während die Trompeten quakten und schrillten tropfte aus dem gebogenen Spiegelkupfer der Posaunen der überflüssige Speichel der ebenso schwitzenden Bläser, deren Kragen trotz Pfingstkälte dampfte. Mila Zingarowa blieb kapellbefunkelt stehen, in schwere Schleier gehüllt, und zwang auch die marschierende Truppe zum bedächtigen Innehalten; eine beinahe männliche Stimme bohrte sich durch ihre Schleier und setzte trügerisch langsam ein Mesecina in die Luft, gefolgt von einem zweiten, und die blinzelnden Blechquäler nahmen die Melodie entgegen und dröhnten danach, durch winzige Verzögerungen wie eine psychedelische Schäfchenwolke schwebend und zum ersten Mal herzzerreißend und endlich tränenlösend, des Schmerzes aber mehr als der Trauer.
Ana Zingarij saß in schattenhaften Räumen weißglühend und versuchte ihre Unterlippe zu essen. Schwere Trommelschläge stießen durch ihre Nasenlöcher, ihre Knie schlugen den Takt des Blutes und ließen die zerrenden Melodien zu höllischer Deutlichkeit gerinnen. Noch schmerzten ihre Arme von Angst und Säure und schläfrigen Schnitten, doch in ihrer Stirn glühte schon ein neues, fremdes Erwachen, ein von zerfallenden Gemäuern und zerfressenen Tapeten delirös gedämpfter Cocek aus einem backsteingemauerten Kanalnirvana. Die regenzerfressene Gebäudewand, deren graugelb noch vorgesellschaftlich imperial gemauerter Schatten durch die übermannshoch braunverschmälerten Dunstscheiben hereinfiel, blickte auf einen halbgeordneten Wust aus Gelegenheitsspielzeug, die verlogenen Schatten einer zurückgelassenen Kindheit, die mit schwarzgeringtem Schaukelpferd und rotgeschleiftem Regenschirm, mit Seidentuch und Dielenfußboden und Knarrkasten und Samtvorhang eine düsterschwer nackte Dekadenz in den Stickstaub zeichneten, durchmischt mit weißlackierten Wissenslügen und halbgeschlossenen Kunstfedern inmitten der verkommenen Existenz des wohlgeachteten doch verstorbenen Bildermachers.
Eine andere Sache waren die schwarzen Netzstrümpfe, der trügerische Ballettanzug, die gern verachtete, stets übersehene Verbindung; eine andere Sache war das Bett, die niemals weißen Laken mit den großmütterlichen Stickblättern, die Spitzenpölsterchen und die halbägyptischen Massenbilder zwischen den dumpfen Lichtern der fremden Väter, das verzogene Tamburin und die verhaltenen Bewegungen ohne den erhofften Vulkanausbruch. Eine andere Sache war das Ende.
Die Harmonie brach, als sich schwere Rauchwolken über den enggepackten Trauerzug legten; tränenersticktes Schweigen breitete sich über den gesamten Häuserzug aus. Dort, an der rechten Unterkante von Anas Kieferlade, pochte eine einzelne Ader mit muskelzermarternder Unaufhaltsamkeit eine Gefühlsreihe über die schmerz-treibenden Melodien der Stille, pochte Bilder von längst gefällten Trauerweiden, von Tränenwahnsinn und Traumflügen; doch sie pochte nicht für sich, nicht für die Bilder. Sie war das ganze kunstvolle Netz, war das treibende, das wankelmütige, unbeirrbare Herz, das allerorten verletzte Muskelgeflecht, die fein gemaserte Haut, die zitternden Haare, die dünnen, noch biegsamen Knochen; der ganze zerbrechliche Körper des Mädchens, wie ein Ungeborenes gekrümmt über seinem Gegenstück, Herberge eines zerbrochenen Geistes. Alles pochte, alles lebte; doch unter den feingliedrigen Händen, unter der Berührung des lebendigen Blutes, zitterte ein leerer Sack mit den pfeifenden Bettfedern, ein gefurchtes Gebilde aus grauer Haut und stummen Adern, aus fahlem Haar und fauligen Zähnen, ein halbverfallenes Wesen von ehemals menschlicher Art, noch warm von der Berührung der eigenen Tochter.
Unendlich sanft strichen sorgsam gefeilte Fingernägel über das erstarrte Fleisch, zogen klare, dunkle Linien in die mattgraue Fläche. Mit metallenem Scheppern kam der Sarg am Boden der Grube auf; doch die Blumen, die seinen Deckel bestäubten, verfehlten ihren Zweck. Die Leichenwürmer, die weißlichen Maden des Todes, mußten ihr Opfer anderswo suchen; doch eh die Verwesung ihren Dienst versehen konnte, kam ihr ein glühender Gedanke zuvor. Mit verschlossenem Gesicht wankte Mila Zingarowa heimwärts, und bevor sie noch dem drängenden Nebel der Grabestöne entkommen war, grub Ana in träumerischer, leidenschaftlicher Betrachtung ihre Zähne in das kalte Fleisch ihres Vaters. Gestocktes Blut und erstarrte Muskeln zauberten einen rätselhaft süßlichen, wohligen Geschmack aus den mahlenden Kiefern, und mit Biß um Biß, immer lüsterner und gieriger, löste sich der ewige Gegensatz in reine Zufriedenheit auf, wurde für einen Moment in einer unbedeutenden Fotografenwohnung der ewige Kreislauf der Natur offenbar, als das Tote das Lebendige nährte und blanke Gefühle im kochenden Wust des ewig Wirksamen versickerten. Die Betrachtung war an ihrem Ende angelangt, hatte ihr ursprüngliches Ziel erreicht; und Ana Zingarij wußte endlich, was es bedeutete, ein Mensch zu sein.
Sie spitzte ihre Finger und zog am Saum des Ballettanzugs.
P.S.: Wenn Sie diese Geschichte wirklich verstanden haben, sollten Sie vielleicht Ihre Einstellung zu Gemüse überprüfen. – R.M.