Chloé
Einunddreißig Jahre war ich Tourinspektor bei Chloé. Ich habe das Booking organisiert, habe mir die Örtlichkeiten, Bühnen und Stadien angesehen, habe das nötige Personal zusammengestellt und war auf jeder Tour rund um die Uhr für sie da. Auf jeder Tour, abgesehen von der vor elf Jahren, als ich wochenlang mit hohem Fieber im Krankenhaus lag. Spät entdeckte Lungenentzündung.
Kennengelernt habe ich Chloé, als sie sechzehn war und ich fünfundzwanzig. Ich hatte bereits einige kleinere Rockbands begleitet, war kurzfristig Tourmanager bei einem Popsternchen gewesen, das die Achtziger knapp überlebt hatte. Und ich hatte über meinen Onkel, der Vorstandsvorsitzender einer großen Plattenfirma war, auch Erfahrung im finanziellen Management gesammelt. Aber einen klaren Plan für meine Zukunft hatte ich nicht. Um ehrlich zu sein, war ich mir auch nicht mehr sicher, ob ich überhaupt im Musikbusiness arbeiten wollte.
Es war immer mein Traum gewesen, Bands auf ihren Touren zu begleiten. Ich liebte Musik, mochte die aufgeladene, gespannte Atmosphäre vor den Konzerten. Aber ich hatte nie das Bedürfnis, selbst auf der Bühne zu stehen. Ich spiele ganz passabel Gitarre, doch es wäre mir nie in den Sinn gekommen, mich damit vollkommen unbekannten Menschen zu präsentieren. Organisation dagegen lag mir schon immer, und mir wurde von verschiedenen Seiten bestätigt, ich hätte eine beruhigende Wirkung auf die Menschen meiner Umgebung. Es lag also nahe, dass ich die Touren nicht nur organisierte, sondern meinen Schützlingen auch permanent verfügbar war. So lange das niemand ausnutzte, war es in Ordnung. Einmal habe ich mich ziemlich mit einer Pflaume von Sänger angelegt, weil dieser Knilch mit Struppelhaaren meinte, er müsse mir ständig Kommandos geben. Wenn er etwas sagte, sollte ich springen. Den Job habe ich geschmissen. Die anderen waren eigentlich ganz nett, im Großen und Ganzen. Mit manchen freundete ich mich sogar an.
Wie ich Chloé kennenlernte? Ich saß gerade allein in einem leeren Konferenzzimmer, ließ die Beine über die Armlehne meines Stuhls baumeln und starrte aus dem Fenster hinaus auf Hamburg, als mein Onkel jäh die Tür aufreißt und sie sofort wieder hinter sich schließt. Er legt die Mappe, die er in der Hand hält, feierlich vor sich ab, und verkündet: „Konrad, ich habe ein Angebot für dich.“ Seine Miene dabei besagte eher: Konrad, ich darf dir mitteilen, dass du gerade zum Bundeskanzler gewählt worden bist.“ War ich aber nicht, das konnte ich mir schon denken. Er durchquerte langsam mit ausgreifenden Schritten die Länge des Raums, so dass ich unwillkürlich an Kant denken musste. Zumindest stellte ich mir Kant oder sonst einen Philosophen so auf seinen Spaziergängen vor. Andachtsvoll und doch erregt. „Chloé ist auf der Suche nach einem Tourmanager.“ Der Triumph in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Ich hob die Augenbrauen. „Fragst du mich?“
„Ich kann dich nicht fragen, ich habe in der Sache leider nichts zu entscheiden. Aber ich habe gerade davon gehört, und ich wüsste nichts, was deiner Bewerbung im Wege steht. Du bist erfahren, verfügbar, hast sehr gute Referenzen… und du weißt, wie man mit schwierigen Personen umgeht. Du kannst dich bei ihrem Manager melden. Ich gebe dir eine Telefonnummer.“
„Moment mal, wo ist Chloé noch mal unter Vertrag? Bei Emi?“
„Ganz genau.“ Seine Augen funkelten. „Aber wenn du ihr Tourmanager wirst, könnte es sein, dass sie bald bei uns ist.“
„Ach, daher weht der Wind. Na ja, ich könnte es mal versuchen, obwohl ich nicht besonders auf ihre Musik stehe. Aber es wäre natürlich eine ziemlich große Nummer. Wird aber bestimmt nicht leicht, da reinzukommen.“
Es war gar nicht so schwer. Damals wussten noch nicht viele, dass sie wieder auf der Suche war, ihren letzten Tourmanager hatte sie gerade erst entlassen. Ich war einer der ersten, die sich meldeten, und, wie mein Onkel schon sagte, meine Referenzen waren gut. Ich wurde also zum persönlichen Gespräch bestellt, erst mit ihrem Manager, in einem Büroturm in Hamburg. Dann mit ihr selbst, hinter der Bühne, in Wien. Die Zeit drängte. Sie war mitten in ihrer ersten großen Tournee.
Ich dachte zuerst, sie sei gar nicht darauf vorbereitet gewesen, dass ich komme. Sie machte nicht den Anschein, als erwarte sie Besucher, und man hatte mir auch nur zehn Minuten gegeben, um mich vorzustellen. Danach musste sie sich auf den Auftritt am Abend vorbereiten. Das Konzert. Chloé hasste den Begriff Show und vermied auch Wörter wie Gig, die vielleicht mehr auf den Charakter ihrer Musik hingewiesen hätten. Für sie waren das immer Konzerte.
Sie saß auf einem alten Sofa und qualmte.
„Hi, ich bin Konrad. Ich wollte mich kurz vorstellen, dein Manager sagt, du suchst einen neuen Tourmanager.“
Sie nahm die Zigarette aus dem Mund. „Hat das einen Grund, dass Sie mich duzen?“
„Naja, um ehrlich zu sein schon. Sie sind sechzehn, oder?“
„Hier siezt mich jeder, und wenn ich Ihr Boss werden soll, tun Sie das besser ebenfalls.“
Ich lächelte.
„Sie haben das schon mal gemacht, oder? Wissen, was Sie zu tun haben?“
„Wie ich Ihren Manager verstanden habe, suchen Sie eher einen Tourinspektor. Jemanden, der die ganze Tour über für Sie da ist, der alles organisiert, und wenn es nur ein Kaffee ist. Oder einen Strauß weißer Callas.“ Ich musste mir das Grinsen verkneifen. Da saß eine sechzehnjährige Göre vor mir, in zerrissenen Jeans und T-Shirt und führte sich auf wie eine echte Diva. Immerhin sah sie aus wie eine. Sie war in der Realität noch um einiges hübscher als auf den Fotos.
„Richtig.“
Sie stand auf und ging auf mich zu, mein Äußeres überprüfend wie ein Designer sein Model. „Es ist mir wichtig, dass Sie nicht so alt sind. Ich kann nicht gut mit Menschen über dreißig.“
„Da habe ich noch fünf Jahre. Sonst irgendwelche Ansprüche?“
„Ich brauche jemanden, auf den ich mich verlassen kann. Der nicht ständig plötzlich fliegen muss, um seine kranke Schwester in Hongkong zu pflegen oder seine Freundin ins Restaurant ausführen muss, wenn ich einen Auftritt habe, oder morgens halbtot und abgefüllt vor meiner Hotelzimmertür liegt.“
„Ich bin verlässlich. Eine Schwester habe ich nicht, ich kann allerdings nicht ausschließen, dass mein Bruder plötzlich verstirbt und ich zu seiner Beerdigung muss. Mehrmals dürfte das aber nicht geschehen.“
„Also von mir aus können Sie morgen anfangen. Seien Sie um zwölf am Grand Victoria Hotel und fragen Sie nach Kyle. Das ist unser Bassist. Er kann Ihnen erst mal alles erklären. In drei Tagen haben wir das nächste Konzert, in Bratislava. Kyle wird Ihnen den gesamten Tourplan geben.“
Damit war unser Gespräch beendet, das so ablief wie die meisten unserer Unterhaltungen. Es lag Chloé fern, jemals etwas Persönliches zu erzählen oder danach zu fragen. Sie beschränkte sich immer auf den Austausch der notwendigsten Informationen, wobei sie meist diesen natürlichen schnoddrigen Befehlston hatte.
Ich weiß nicht, wann genau ich mich in sie verliebt habe. Vielleicht schon damals, beim ersten Treffen. Vielleicht auch erst, als ich sie das erste Mal nach einem Konzert sah, verschwitzt, die Augen glänzend, vollkommen k.o. und vollkommen glücklich. Nach ihren Auftritten war sie immer in Hochstimmung, aufgeputscht und erfüllt.
Die nächsten Jahre verliefen wie im Flug. Das Leben mit Chloé war ausgesprochen anstrengend, sie war eine Perfektionistin. Aber auch wenn sie häufig missgelaunt war, wurde sie nur selten richtig wütend. Im Zweifel lehnte sie sich zurück, rauchte eine Kippe und bestimmte jemanden, der die Sache in Ordnung bringen sollte. Sie hatte eine natürliche Grandezza, die ich nur bewundern konnte.
Dass sie zu einer der erfolgreichsten Sängerinnen unserer Tage wurde, war nur logisch, wenn man sie kannte. Der Erfolg lag bereits in ihr, wie der Kern einer Frucht. Die Bühnen, auf denen sie auftrat, wurden immer größer. Nach drei Jahren, die ich bei ihr war, füllte sie riesige Stadien. Zu Beginn war sie viel auf Tour, sie musste den Leuten persönlich bekannt werden. Dann wurde es allmählich weniger, obwohl sie auch nach dreißig Jahren immer noch gerne mit dem Bus herumreiste. Die Auftritte in den Fernsehstudios und Galahallen dagegen waren ihr immer verhasst gewesen und sobald sie es sich leisten konnte, reduzierte sie sie auf ein Minimum. Da war ich dann ohnehin nie dabei. Ich war nur für die Touren an sich zuständig. Manchmal hatte ich den Eindruck, rund um die Uhr in ihrer Nähe zu sein, sie besser zu kennen als irgendjemand sonst. Doch in den Zeiten dazwischen, wenn sie ein neues Album aufnahm, verreiste oder einfach nur in der High Society der Schönen, Reichen und Erfolgreichen lebte, dann war sie mir so fern wie jeder andere Star. Hin und wieder sah ich sie auf dem Fernsehbildschirm, wenn ich in meiner kleinen Wohnung in New York auf dem Sofa lag und zappte. Sah sie mit dem Moderator flirten oder als Zuschauerin bei einer Modenschau, von der Kamera eines Boulevardmagazins erfasst. Dann war sie nicht meine Chloé.
Genau gesagt, war sie nie meine Chloé. Obwohl wir in den Tourpausen oft in derselben Stadt lebten, war ich nie in ihrem Appartement in New York gewesen. Nicht einmal. Ich hatte nur eine diffuse Ahnung davon, wie sie war, wenn sie auf einer der Pool-Parties feierte, einer Preisverleihung beiwohnte, ihre Freunde auf Hawaii oder in Südfrankreich besuchte.
Sie trat nur noch in großen Städten auf, nach einiger Zeit war für mich ein Ort wie der andere. Es war ohnehin nie viel Zeit für Sightseeing. Wenn Chloé manchmal ausging, bis in die Morgenstunden feierte oder in irgendeinem schicken Lokal essen ging, hatte ich in der Regel noch genug zu tun – oder ich schlief einfach aus. Hört sich das jetzt verbittert an? Ich war es auf jeden Fall nicht. Es gab einiges, das ich gerne an meinem Leben geändert hätte, doch insgesamt war ich zufrieden damit, wie es gelaufen war. Ich verdiente genug, meine Aufgaben waren vielfältig und ich trug Verantwortung. Ich war mitten in der Musikszene. Und ich war Chloé nah. Außerdem gab es immer genug Mädchen, die mal mit einem Mann schlafen wollten, der täglich mit einer Berühmtheit wie Chloé arbeitete. Manchmal schob Chloé mir auch Frauen zu, Models, die sie kennengelernt hatte. Ich erhielt Anerkennung für meinen Job, wenn auch nicht von Chloé.
Sie war übrigens nicht zum Label meines Onkels gewechselt. Es war ein Trugschluss gewesen, ich könnte sie in der Beziehung beeinflussen. Chloé entschied solche Sachen selbst. Dennoch war ich in meinem Bekanntenkreis ein ziemlicher Held. Mein Bruder allerdings meinte, das einzig Heldenhafte an mir sei, dass ich es seit so langer Zeit aushalte, mich von Chloé herumschubsen und mir mein Privatleben von ihr versauen zu lassen.
„Wie sollst du denn jemals eine feste Freundin haben, wenn du ständig auf Abruf bereit sein musst? Wenn sie dir kaum den Freiraum lässt, mal allein zu McDonalds zu gehen.“
„Das ist doch Unsinn. Ich habe jetzt schon wieder ein halbes Jahr frei.“
„Aber du willst niemanden ernsthaft kennenlernen, weil du weißt, dass du danach wieder rund um die Uhr für Chloé bereit stehen musst.“
„Das ist mein Job und wenn ich keine feste Beziehung will, ist das meine Entscheidung. Chloé hat damit nichts zu tun.“
„Sei nicht albern. Ich weiß, dass du scharf auf sie bist. Aber schau den Tatsachen ins Gesicht. Selbst wenn du aussehen würdest wie ein griechischer Gott, würde sie nie mit dir ins Bett gehen. Sie ist ein Snob.“
Das war sie allerdings. Was aber nicht bedeutete, dass sie nicht gerne mit jungen griechischen Göttern schlief. Oder chinesischen. Den chinesischen Strippern auf ihrem dreißigsten Geburtstag zum Beispiel. Oder puerto-ricanischen Tänzern. Oder argentinischen Seifenoperndarstellern. Ihr Männerverschleiß war legendär. Sie hatte ebenso wenig einen festen Freund wie ich eine feste Freundin, bis sie Robert traf.
Robert war Schauspieler am Theater in Boston. Sie lernten sich bei irgendeiner Premiere eines Films kennen, in dem er seine erste Filmrolle gespielt hatte. Dank seiner Bekanntschaft zu Chloé folgten danach noch einige. Er war recht talentiert, außergewöhnlich attraktiv und ein echter Blutsauger. Normalerweise fiel Chloé nicht auf Typen wie ihn rein. Was er mit ihr angestellt hat, weiß ich nicht. Auf jeden Fall erklärte sie mir zwei Wochen, nachdem sie ihn getroffen hatte, dass wir die Daten für die nächste Tour verschieben mussten. Wir sollten sie auf Roberts Terminplan abstimmen. Drei Wochen später erfuhr ich von Kyle, dass die beiden zusammengezogen waren. Robert wollte, um seine Filmkarriere weiter zu verfolgen, in Los Angeles wohnen, also kauften die beiden dort ein Haus, zu einem völlig überteuerten Preis, weil so kurzfristig. Fünf Monate lang schwebte Chloé auf Wolken und auf ihrer Zunge lag nur noch ein Name: Robert. Sie sprach nie darüber, doch ich war sicher, dass sie bereits über die Hochzeit nachdachte. Als wir in San Francisco waren, wollte sie plötzlich Halt machen und eine kleine Kapelle außerhalb besuchen. Chloé war überhaupt nicht religiös, nicht einmal getauft. Robert jedoch wohl, wie Frederic, unser Schlagzeuger, mir sagte. Wenige Tage nach der Kapellenbesichtigung brachten die Klatschblätter der Welt als Hauptschlagzeile die Affäre Roberts mit einem Starlet. „Chloé am Boden zerstört. Robert beichtet heiße Nächte mit Filmsternchen“ titelte die Bild.
„Das ist doch Unsinn. Wer Chloé kennt, weiß, dass sie sich von so etwas nicht fertig machen lässt“, sagte ihr Manager, der dritte, seitdem ich für sie arbeitete. Doch da täuschte er sich.
Chloé verbrachte die folgenden zwei Nächte im Bett ihres Hotelzimmers und weigerte sich, mit uns zu reden oder etwas zu essen. Sie ließ überhaupt niemanden herein. Schließlich kam sie aus ihrer Klausur und begann wieder zu arbeiten. Wir hatten bereits drei Termine absagen müssen und es drängte mich, mit ihr über den weiteren Tourneeverlauf zu reden. Sie schottete sich weiterhin ab und ließ nicht erkennen, was sie nun vorhatte. Als ich in das Zimmer trat, hing ihr Kopf über Notenblättern.
„Kann ich mit Ihnen reden? Es tut mir sehr leid, Sie zu stören, aber wir können die Leute nicht länger hinhalten. Wir müssen entscheiden, ob wir die Tournee fortsetzen wollen, und wenn ja, wann.“
„Ja, sicher. Setzen Sie sich.“ Ihre leise Stimme klang müde, ihr Gesicht war verheult. Die sonst stets perfekt gepflegte Haarmähne war ungewaschen und stand strubbelig vom Kopf ab. Nur ihre makellose, knitterfreie Designerkleidung ließ auf ihr sonstiges Ich schließen. Es schmerzte mich so sehr, sie in diesem Zustand zu sehen, dass ich mich mühsam kontrollieren musste, um sie nicht in den Arm zu nehmen und an mich zu drücken.
„Was meinen Sie, können Sie am Samstag wieder auftreten?“
„Nein.“ Sie hob den Kopf. „Bitte nicht am Samstag. Vielleicht in zwei Wochen.“
„In zwei Wochen? Schaffen Sie das? Wir können die Tournee auch absagen. Wenn Sie sich erst erholen müssen, hat es keinen Zweck, dass Sie bis zur totalen Erschöpfung auf der Bühne stehen. Das haben Sie nicht nötig.“
„Seien Sie nicht albern. Jeder, der weiterhin Erfolg haben möchte, hat das nötig. Es geht. Zwei Wochen.“
„In Ordnung. Das wäre dann Dallas. Schaffen Sie noch Europa im Anschluss?“
„Natürlich. Bis dahin habe ich mich wieder erholt.“ Ihre Stimme klang nun wieder fester, kühl.
„Darüber können wir ja später noch mal sprechen. Ich gebe das erst mal so weiter. Kann ich irgendetwas für Sie tun? Möchten Sie ein bisschen Urlaub? Strand? Oder soll ich einen Therapeuten anrufen?“
„Verdammt, Sie wissen, dass ich Therapeuten hasse! Außerdem brauche ich keinen!“ Sie war aufgesprungen und warf die Blätter vom Schreibtisch. „Warum kann man mich nicht einfach in Ruhe lassen?“
„Genau das werde ich jetzt tun.“ Ich ging Richtung Tür. „Das wird schon wieder“, sagte ich unbeholfen. „Robert war nichts Besonderes. Wahrscheinlich hat er es einfach nicht ertragen, dass Sie so viel berühmter sind als er.“ Ich hatte bereits die Klinke in der Hand.
„Wissen Sie, dass diese Schlampe ein Baby von ihm will? Und er sagt, kann schon sein, dass sie’s tun“, sagte sie leise.
„Vielleicht kommt er wieder zu Ihnen angekrochen. Ich hoffe nur, Sie sagen dann nicht ja.“
„Er kommt nicht wieder zurück. Bei wem er auch landet, zu mir kommt er nicht mehr. Dazu habe ich ihn zu sehr angebrüllt. Ich habe ihm gesagt, dass ich das nie verzeihe.“ Sie begann zu weinen. „Aber ich wäre froh, wenn er wieder zu mir käme. Ich würde ihm alles verzeihen, wenn er nur wieder da wäre.“
Nach fast zwanzig Jahren war das das erste Mal, dass ich Chloé weinen sah. Ich ging auf sie zu und wollte sie streicheln, doch ich wusste, wenn ich das tat, war es aus. Dann würde sie mich feuern. Abgesehen von Kyle war ich der einzige aus der Anfangszeit, den sie noch nicht entlassen hatte. Kyle hielt sich aus allem raus und umging Chloé außerhalb der Bühne, wann es nur ging.
Hilflos stand ich im Raum und sah ihr beim Weinen zu. Sie bemerkte es und fasste sich wieder. Zog die Nase hoch und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Zwei Wochen“, sagte sie und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Nach einer Woche war sie wieder ziemlich die Alte. Kommandierte uns munter herum und flirtete mit den Jungs.
Ihre Liebschaften wurden im Vergleich zu ihr immer jünger, doch das fiel nicht so sehr auf, denn Chloé schien kaum zu altern. Mit vierzig war ihre Haut immer noch nahezu makellos. Ihr Gesicht hatte sich so gut wie nicht verändert. Nur ihre Haare wurden allmählich kürzer, sie fielen nun schulterlang anstatt bis weit den Rücken hinunter. Wenn sie in Jeans und knappem Top auf der Bühne stand, die Füße nackt wie eh und je, wirkte sie immer noch überzeugend. Kleider begannen ihr besser zu stehen, vor allem die knielangen liebte ich an ihr. Live bekam ich das weiterhin nicht zu sehen. Sie trug sie nur bei Auftritten vor der Kamera, die außerhalb ihrer Konzerte stattfanden.
Zu meinem siebenundvierzigsten Geburtstag ließ ich mir die Haare abschneiden. Zuvor hatte ich immer einen kurzen Pferdeschwanz getragen, nun fand ich es nicht mehr passend. Als ich sie am nächsten Tag traf, hatten wir den ersten ernsthaften Streit.
„Sind Sie vollkommen verrückt geworden?“ schrie sie mich an. „Sie sehen unmöglich aus! So können Sie doch nicht rumlaufen! Wie ein Idiot.“
„Wo ich rumlaufe, können Sie bestimmen, wie ist immer noch meine Sache“, erwiderte ich erregt.
„So nicht! Das hat Auswirkungen auf mich, auf mein Image! Außerdem ertrage ich Sie so nicht um mich!“
„Ihr Image? Mich sieht doch überhaupt niemand! Ich bin entweder hinter der Bühne oder im Bus. Es passt Ihnen nur nicht, Sie wollen sich die Welt machen, wie sie Ihnen gefällt. Aber ich bin nicht Ihr Leibeigener.“
„Ich ertrage das einfach nicht. Es wird mich krank machen!“
„Dann feuern Sie mich doch! Tun Sie sonst doch auch, wenn Ihnen jemand nicht passt.“ Im selben Augenblick wurde mir klar, welch grässliche Worte ich da ausgesprochen hatte, welches Angebot ich ihr gemacht hatte. Chloé nahm Menschen beim Wort.
Für einen Augenblick sah sie mich an.
„Nein, es tut mir leid. Ich wollte das nicht sagen. Wirklich, es tut mir sehr leid. Bitte… ich werde die Haare wieder wachsen lassen, ok?“
Sie atmete tief durch. „Sorgen Sie dafür, dass es wieder aussieht wie vorher“, sagte sie und ging.
Frederic hatte die Szene mitbekommen, doch sonst wusste keiner davon. Natürlich erzählte ich es niemandem. Ich hatte mich nicht wie ein Leibeigener, sondern wie ein Sklave vor seinem Herrn benommen. Aber ich war erleichtert, dass sie mich nicht entlassen hatte. Zu der Zeit wurde mir erst bewusst, was es mir bedeutete, für Chloé zu arbeiten. Dass ich mir kein anderes Leben vorstellen konnte.
Die Technologien veränderten sich, Chloés Musikstil wandelte sich. Sie wurde jazziger, abwechslungsreicher, weicher, aber sie nahm in jedem Album ein, zwei richtig schnelle, punkige Stücke auf, die mich und alle anderen Zuhörer daran erinnerten, dass sie keine Popsängerin war. Chloé hatte immer wieder Probleme mit Drogen, mit Alkohol und wenn sie auch nicht ihr Leben beherrschten, sorgten sie in Kombination mit den Zigaretten doch dafür, dass ihr Stimmvermögen deutlich abnahm. Zu Beginn war sie ihr Potential gewesen. Die Lieder, die Texte vor allem, hatten für viele im Hintergrund gestanden. Später entdeckten ihre Fans notgedrungen ihre Musik und ihre Fähigkeiten als Schreiberin. Ein Abschied von der Bühne aber stand nie zur Debatte. Bekannte legten ihr ein paar Mal nahe, doch mehr im Hintergrund zu arbeiten, vielleicht für andere zu schreiben, ein eigenes Plattenlabel aufzubauen. Doch das interessierte sie nicht. Sie existierte nur wirklich, wenn sie im Rampenlicht, vor dem Mikro stand. Nach einigen Jahren des Verfalls stabilisierte sich ihre Stimme. Ich glaube, sie ließ die Finger von den Drogen. Auf jeden Fall trank sie weniger.
Manchmal, wenn wir im Bus saßen, rief sie mich zu ihr. Ich sollte ihr diese und jene Frage beantworten oder mir einen Text, eine Strophe anhören. Doch anschließend wollte sie nie wissen, was ich dachte. Sie nutzte mich nur als materielle Verkörperung ihres späteren Publikums.
Einmal, nach einer langen Tour durch Italien, rief sie mich. Wir waren gerade aus Verona heraus. Ich ging zu ihr und brachte ihr gleich den Salbeitee mit, den sie ihrer Stimme zuliebe nun vor und nach jedem Singen herunterwürgte. Sie trank ein paar kleine Schlucke, dann streckte sie die Zunge heraus. „Bäh. Wenn Kuhfladen essen helfen würde, würde ich das vorziehen.“
„Ich kann mich mal erkundigen.“
Sie lehnte sich schläfrig zurück und legte die Beine neben sich auf die Bank. „Können Sie mich mal massieren?“ Sie nickte in Richtung ihrer Füße.
Es war das einzige Mal, dass ich sie bewusst anfasste. Alles andere waren zufällige Berührungen. Außerdem war es merkwürdig, dass sie mich fragte. In Verona hatte sie einen Masseur gehabt, in Paris wartete ihr Physiotherapeut auf sie. Aber natürlich fragte ich nicht. Vorsichtig nahm ich einen Fuß in die Hand. Er war schlank und sehnig.
„Nicht so sacht, das kitzelt“, beschwerte sie sich unwillig und zog den Fuß zurück. „Richtig. Sie sind verkrampft.“
Sie reckte mir den Fuß wieder entgegen. Ich rieb langsam, aber fester über ihre Fußsohle, den Ballen und die Ferse, die Zehen. Allmählich begann sie sich zu entspannen, schloss die Augen und summte ein bisschen. Dann schwieg sie. „Hier auch?“ Ich strich über den Fußrücken, doch sie antwortete nicht. Ich überlegte, ob sie bereits eingeschlafen war. Ich nahm auch ihren anderen Fuß in die Hand.
Draußen war es dunkel, es regnete und im Bus war das Licht gedimmt. Die Band redete noch, lachte und trank ein bisschen, aber sie waren recht leise dabei, um Chloé nicht zu stören. Je länger ich sie berührte und betrachtete, umso mehr stieg in mir das Verlangen hoch, ihren Fuß zu küssen. Nur einmal, die Zehen, ob sie das überhaupt bemerken würde? Vielleicht schlief sie tatsächlich. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Ich beherrschte mich, Gott sei Dank, denn nach einiger Zeit zog sie ihre Füße zurück und bedankte sich. Dann setzte sie sich wieder am Tisch zurecht, schlug ein Buch auf und steckte sich eine Zigarette an. Ich war entlassen.
Das war vor sechs Jahren. Sie hat mich nie wieder um eine Massage gebeten und ich habe lange aufgehört, zu hoffen. Es ist Zeit, der Realität ins Auge zu sehen, ganz, wie es mein Bruder, der verheiratet ist und zwei fast erwachsene Kinder hat, es mir schon seit zwanzig Jahren rät.
Chloé macht sich überhaupt nichts aus mir. Sie schätzt mich, weil ich immer da war. Es ist, als habe sie einunddreißig Jahre lang auf demselben Laken übernachtet. Es ist ihr vertraut. Das heißt nicht, dass ihre Welt zusammenbricht, wenn sie dieses Laken durch ein neues ersetzen muss. Sie wird irritiert sein, und sich ein paar Tage lang das alte zurückwünschen, dann hat sie sich umgestellt. Ich habe mein Leben bei ihr gemocht und bin mit ihr um die ganze Welt gereist, aber wirklich gesehen habe ich davon nur wenig. Ich bin nur der Begleiter, möglichst anwesend, möglichst unauffällig. Meine Stimmung ist abhängig von ihrer Laune. Meine Termine sind abhängig von ihren. Mein Leben ist abhängig von ihrem Leben.
Ich bin fünfundfünfzig, wenn ich jetzt nicht gehe, gehe ich nie mehr. Zumindest nicht freiwillig. Und wer weiß, ob ich später noch die Kraft habe, etwas Neues anzufangen. Das hier ist meine letzte Chance. Deshalb stehe ich jetzt vor ihrer Zimmertür und warte darauf, dass es neun Uhr wird. Um neun darf man sie wecken, hat sie gestern abend gesagt, eigentlich an die Adresse von Jossip, dem neuen Leadgitarristen, der noch ein Stück mit ihr durchgehen wollte. Ich habe Jossip gesagt, er soll mir eine Viertelstunde geben.
Meine Armbanduhr zeigt kurz nach neun. Ich klopfe. Auch nach ein paar Mal Klopfen keine Antwort. Ich suche nach der Telefonnummer ihres Zimmers, als sie doch öffnet. „Was tun Sie denn hier?“
Sie ist im Schlafanzug, ein kurzer Pyjama, deren Hose kaum über ihren Po reicht.
„Kann ich einen Moment mit Ihnen sprechen?“
„Jetzt? Um diese Zeit? Gott, Konrad, gehen Sie schlafen oder joggen oder beginnen Sie eine Revolution, aber lassen Sie mich in Ruhe. Sie können um die Mittagszeit wieder kommen.“
„Mein Flugzeug geht um zwölf.“ Ich wusste, wenn ich nicht den Druck habe, wird nichts daraus. Dann verschiebe ich es wieder. Lasse es einfach sein.
„Ihr Flugzeug? Wo müssen Sie hin?“ Sie steht im Türrahmen, angelehnt, den Arm vor den gähnenden Mund haltend.
„Nach Berlin. Kann ich hereinkommen?“
Überrascht sieht sie mich an, dann lässt sie mich herein.
„Heute? Was ist mit dem Konzert morgen abend?! Und Detroit?“
Ich kann mich nicht an die Worte erinnern, die ich mir überlegt habe.
„Ist Ihr Bruder gestorben?“, fragt sie belustigt.
Als ich nicht antworte, erschrickt sie. „Oh Konrad, das ist doch nicht wahr?“
„Nein, natürlich nicht. Ich möchte nur meine Arbeit als Tourinspektor aufgeben. Ich möchte etwas Neues anfangen.“
Sie sieht mich verwirrt an. „Wie, aufgeben?“ Dann fängt sie an, mich anzuschreien. „Sie wollen gehen? Kündigen? Jetzt, drei Stunden vorher sagen Sie mir das? Ohne eine Chance, rechtzeitig Ersatz zu besorgen? Das müssen Sie doch schon länger wissen! Wann haben Sie den Flug gebucht?“
Ich schlucke. „Ich konnte es Ihnen nicht vorher sagen. Ich habe es nicht geschafft.“
Sie kann sich gar nicht mehr beruhigen. „Sie sind ja durchgeknallt, vollkommen durchgeknallt! Sie können nicht einfach gehen. Sie müssen mir Zeit geben, jemand anderen zu finden.“ Sie fegt ein Kissen durchs Zimmer. „Das ist so hinterhältig! Nach dreißig Jahren! Ich bin dann weg. Sehen Sie doch zu, wie Sie allein zurechtkommen.“
„Sie werden gut ohne mich zurechtkommen. Für diese Tour ist doch alles erledigt. Sie brauchen mich nicht zum Händchenhalten. Außerdem habe ich Terry Bescheid gesagt. Er sucht bereits nach einem Ersatz für mich. Vielleicht ruft er Sie heute nachmittag an.“
Ein heftiger Schlag trifft meine Wange. „Ach ja? Alle wissen es also, nur ich nicht, ja?“
„Natürlich nicht, ich habe es nur Terry gesagt, damit er nach jemand anderem Ausschau halten kann. Bitte, Chloé, es fällt mir nicht leicht. Ich muss nur endlich mein eigenes Leben leben.“
„Ich verstehe, und das können Sie so nicht. Das war all die Jahre nicht möglich? Wessen Leben haben Sie denn gelebt?“
„Ihres! Nur ohne den Glamour, den Applaus und die Cocktailparties.“
Sie läuft weiter wie ein Tiger im Käfig durch den Raum. „Das ist es also, was Sie wollen? Mehr Applaus? Mehr Cocktailparties? Ertragen Sie es nicht, dass ich jeden Tag bejubelt werde und Sie immer im Hinterzimmer sitzen?“
„Das ist es nicht.“
„Soll ich Ihnen mehr Parties vermitteln? Warum versuchen Sie nicht selbst, in einer Band zu spielen, wenn Ihnen daran liegt?“
„Chloé! Es geht mir nicht um Parties. Ich will einfach nicht mehr-“
Sie stellt sich vor mir auf, die Arme verschränkt. Sie ist einen guten Kopf kleiner als ich, was mir normalerweise nicht auffällt. „Was wollen Sie nicht mehr?“
„Gott, das wissen Sie doch.“
Sie stampft mit dem Fuß auf. „Nein, verdammt, das weiß ich nicht. Warum sagen Sie es mir nicht einfach?“
„Ich kann so nicht mehr leben - “
„Das sagten Sie bereits. Also, was wollen Sie?“
„Meine Freiheit.“
Sie schluckt. „Gut, reden wir darüber. Setzen Sie sich.“ Sie geht hinüber zur Sitzgruppe.
„Nein, Chloé, bitte, ich habe wirklich gründlich darüber nachgedacht. Ich will nicht verhandeln. Ich will noch etwas Neues beginnen, bevor ich zu alt bin.“
Sie kommt wieder zu mir. „Konrad – also schön.“ Sie beißt sich auf die Lippe und denkt nach. „Schulde ich Ihnen noch Geld?“
„Nein, laut Vertrag sind wir quitt, sobald ich weg bin. Ich überweise Ihnen natürlich noch das Geld für diesen Monat zurück.“
„Seien Sie nicht albern.“ Sie nimmt ihr Scheckbuch und einen Stift aus ihrer Handtasche. „Ich nehme an, eine gewisse Summe bin ich Ihnen schuldig.“
„Absolut nicht. Das möchte ich nicht. Ich will die Sache einfach abschließen.“
Sie stoppt im Schreiben. „Abschließen? Sie wollen dreißig Jahre einfach so abschließen?“
Als sie mir den Scheck entgegenhält, sehe ich auf die Summe. 500.000. Für einen Moment verschlägt es mir die Sprache. Ich bekomme im Jahr 80.000 von ihr, und das ist schon ziemlich gut.
„So viel bin ich Ihnen wert?“ Ich lächle.
Sie schweigt.
„Ich gehe jetzt, in Ordnung?“ Ich sage den Satz und weiß in dem Moment, dass ich nicht will. Ich will nicht. Nicht fort von ihr. Für immer.
„Ok.“ Sie hält mir weiter den Scheck entgegen. Ich gehe zur Tür, greife nach der Klinke. Meine Füße bekommen Wurzeln, ich kann mich nicht vom Fleck rühren. Meine Zunge formt die Worte, bevor ich darüber nachdenken kann: „Kann ich statt des Geldes einen Kuss bekommen?“
Ich höre, wie sie kurz den Atem anhält. Dann kommt sie zu mir. „So lange Sie nicht beides fordern“, sagt sie, stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst mich. Nur einen winzigen Moment lang berühren ihre Lippen meinen Mund. Meine Augen öffnen sich nur schwer wieder. „Nochmal, bitte.“
„Sie werden ganz schön gierig.“ Ihr Atem geht so schnell wie meiner, als sie meine Hand nimmt, und sie zum Mund führt. Langsam streicht sie mit den Lippen über meine Haut, dann küsst sie die Innenfläche. Ich stolpere beinahe. Ich will nichts zerstören, jetzt bloß nichts zerstören. Was ist, wenn sie wirklich für einen Moment vergisst, wer ich bin? Wenn sie jetzt einfach Lust hat, mit einem Mann zu schlafen? Kann ich damit leben, eine Nacht und danach nie wieder – irgendetwas?
Sie sieht mir in die Augen, als sie meinen Kopf umfasst und meinen Mund streichelt. „Willst du mich?“, flüstert sie, als sie mich zu sich herunterbeugt. „Willst du mich?“