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Chinesischer Weihnachtszauber
Prolog
Das dumpfe Motorengeräusch vibrierte in ihren Gliedern. Die Stirn an der Bordwand liegend, betrachtete sie das Lichtermeer am Boden. Dann wurde es grau vor ihren Augen und jegliches Schimmern wurde von der Wand aus Wasserdampf verschlungen.
Allmählich richtete sich das Flugzeug auf und das leuchtende Zeichen über den Köpfen der Passagiere erlosch mit dem üblichen Geräusch. Hannah löste ihren Sitzgurt nicht, sondern starrte weiterhin auf die graue Welt außerhalb der Kabine. Sie flog zwar nicht zum ersten Mal, aber abgesehen vom Hinflug konnte sie sich kaum noch an das letzte Mal erinnern. Und selbst der Hinflug schien ihr ein Jahrhundert zurückzuliegen. Der Besuch in Ningbo war nur ein Kurztrip, eine Reise ans andere Ende der Welt um mal ein anderes Weihnachtsfest zu erleben. Und ein anderes Weihnachtsfest hatte sie erlebt, nur ging das „anders“ in eine völlig andere Richtung als sie zuerst gedacht hatte. Neben dem Flair einer chinesischen Provinz, der Zhejiang Provinz am ostchinesischen Meer, war ihr außerdem ein Zauber begegnet, den sie in einer so weihnachtsfernen Umgebung nicht im Geringsten erwartet hätte.
1.
Aber war das überhaupt ein Zauber? Sie konnte es sich kaum anders erklären, so unwirklich es auch schien. In ihrer Hand streifte sie erneut über das feine Stück Holz, das sie seit Tagen nicht unbeaufsichtigt gelassen hatte. Ihre Augen drehten sich zu dem dunklen, mit roten Pigmenten übersäten Bruchstück. In diesem Holz steckt auf jeden Fall etwas Magisches, aber warum komme gerade ich dazu? Eine Frage, die sie wieder und wieder stellte.
Ihr Blick streifte weiter über ihre Sitzreihe. Sam, ihre beste Freundin, träumte mit glasigen Augen in der Welt ihrer Musik. Ihre dunkelbraunen Haare hingen ihr bis zu den Brustansätzen und verdeckten einen Großteil ihres konturreichen Gesichts. Nick hatte seine Augen geschlossen, den Kopf in einer unbequemen Position auf seiner linken Schulter hängend. Seine dunkelblonden, mittellangen Haare versteckten sich unter einem Basecap. Ihm hatte sie die ganze Reise zu verdanken und all die Wunder, die dieses Weihnachten passiert waren. Wärme stieg in ihr auf, wobei sie das Holz mit gekreuzten Armen umschlungen an ihre Brust presste. Das Ziehen an ihren langen blonden Haaren ignorierte sie träumerisch.
Sie glitt zurück in ihren Sitz und lehnte ihren Kopf erneut gegen die kalte Bordwand. Das Rauschen in der Kabine wiegte sie langsam in einen Halbschlaf, der sie jedoch nicht davon abhielt, ihr Geschenk fest zu umklammern. Dann verschwand sie aus der Nacht und fiel zurück in die vorweihnachtliche Vorfreude und aufgeregte Stimmung in den Straßen von Ningbo.
Die drei Zwanzigjährigen bogen in eine weitere breite Straße ein und sahen ein Stück weiter ein eingemauertes Gebäude, das sich lang hinzog. Vor einem Tor mit reichlich rot-blauem Schmuck am oberen Ende standen drei Chinesen. Mit ihrem nicht allzu schweren Gepäck begrüßten sie die Inhaber ihrer Pension, eine chinesische Kleinfamilie, die sie mit freundlichen Verbeugungen und dem typisch Grinsen hereinbat. Hinter dem Tor verbarg sich ein einladender Garten mit Teich, Wasserläufen, subtropischen Pflanzen, eingerahmt von einer Aneinanderreihung von Räumen. Die Frau winkte sie durch die Tür zu ihrer Rechten und führte sie von einem Zimmer ins nächste, stets freundlich die Rollladen aufhaltend und hinter ihnen wieder schließend. Dann eilte sie wieder voraus, um sie weiterzuleiten. Der Fußboden war kalt, mit quadratischen Steinen besetzt, aber das mediterrane Sandrot verlieh den mit dunklem Holz bestückten Räumen einen angenehmen Anschein. Hannah war fasziniert von den alten Kunstwerken, die als alltägliche Gebrauchsgegenstände benutzt wurden. Ein Regal stand an der Wand im zweiten Zimmer, das ein kompliziertes Muster wiederspiegelte. Ein Rundbogen mit einer Öffnung in der oberen, zweiten Seite, durchsetzt mit Brettern, die gleichzeitig weitere Ornamente bildeten. Das muss Ewigkeiten gedauert haben.
Schließlich endete ihre Rundführung in einem der hinteren Räume, wo ein chinesischer Stuck mit großen Blütendekors die Decke verzierte. Die Frau verbeugte sich erneut, sagte etwas auf Chinesisch, das keiner der drei verstand, und schloss hinter sich den Rollladen.
„Boa, ist das geil hier.“ Sam warf ihre Tasche zu Boden und drehte sich um ihre eigene Achse, den Raum mit offenem Mund erkundend. „Ich bleib hier. Mich kriegt ihr hier nicht mehr weg.“
„Nix da“, entgegnete Hannah. „Du kommst schön wieder mit nach Hause. Und lässt mich nicht auch im Stich.“ Sie begab sich zu einem der drei Beten, platzierte den Koffer daneben und legte ihren Rucksack darauf ab.
„Nur weil ich ein paar Monate weg bin. Dafür bin ich doch den ganzen Sommer da. Und jetzt!“ Nick nahm sich das Bett in der Mitte und ließ sich darauf fallen. Die Hände über seinem Bauch ruhend, betrachtete er die Decke. Für viele Sekunden blieb er regungslos.
Hannah’s Blick folgte seinem und mit geweiteten Augen konnte auch sie sich nicht von der geschnitzten Decke lösen. Ein Schauspiel unendlich kleiner Geschichten und Abbilder hing in dem Himmel aus fast schwarzem Holz. „Wow, das ist echt schön.“
Sam konnte dem Gestaune nicht entrinnen und fummelte sogleich in ihrem Rucksack nach der Kamera. Mit geübten Fingern schaltete sie die Canon EOS 1000D an und kniete nieder um das Schaubild einzufangen.
„Ich glaub, jetzt will ich hier auch nicht mehr weg“, sagte Nick schmunzelnd.
„Ihr kommt beide mit, basta. Und England kannst du dir auch abschminken.“ Damit verursachte sie nur ein breiteres Grinsen auf dem Bett neben ihr.
„Hey, guckt euch das an. Wie im Film.“ Sam war zu den Schiebefenstern gegangen und öffnete eins der Scharniere, um das hölzerne Fenster zur Seite schieben zu können. Das Innere des eckigen Holzgerüstes war aus einem festen, beigen Stoff.
„Ich frag mich, was das für ein Material ist“, meinte Hannah, die jetzt auf ihrem Bett Platz genommen hatte.
„Google, mein Schätzchen. Google ist alles“, erwiderte Sam. „Auf jeden Fall halten sie die Kälte gut draußen.“ Mit herangezogenen Schultern schloss sie das Fenster wieder.
„So ungern ich hier auch wieder hoch will, aber wir müssen für die Bescherung für heute Abend noch Geschenke kaufen gehen“, sagte Nick sich aufrichtend.
„Oh ja“, rief Sam, „der chinesische Markt muss umwerfend sein. Mal sehen, was ich da für euch finden kann.“
Hannah stöhnte leise. „Habt ihr wirklich nichts, was ihr gern hättet?“
Nick sprang vom Bett und zog Hanna ebenfalls auf die Füße. „Komm, du findest schon was. Solange es was Chinesisches ist, wird es jedem von uns gefallen. Schließlich soll der Trip uns ja auch was bringen.“
Wie abgesprochen trennten die drei sich auf der Suche nach ihren Weihnachtsgeschenken, jeder mit einem Ortsplan und einem Notfall-Handy ausgestattet. Hannah schlenderte die kopfsteingepflasterte Straße entlang, bis sie zu dem Markt kam, den sie sich ausgesucht hatte. Es war von weitem schon viel Trubel zu hören und als der Schauplatz in Sichtweite kam, musste sie für einen Moment stehen bleiben. Der Frischmarkt vor ihr war in bunte Girlanden getaucht, überall hingen schillernde Kugeln von den Standdächern und hier und da hatte man sogar kleine Kunstweihnachtsbäume aufgestellt.
Zwischen manchen Ständen, einige mit aufeinander gehäuften Fischwaren und ausländischen Spezialitäten, von denen sie wohl nie im Leben etwas probieren würde, gab es sogar Weihnachtskarten-Verkäufer. Nach ein paar Minuten waren ihr auch zwei kostümierte Weihnachtsmänner begegnet.
Aufgrund der sichtbaren westlichen Traditionen, so beeindruckend wie sie auch waren, musste sie an ihre Familie denken. Was die wohl gerade treiben? Es war ihr erstes Fest weg von zu Hause und besonders die Gewohnheit mit der ganzen Familie zum Weihnachtsmarkt zu gehen, vermisste sie in diesem Moment sehr. Heilig Abend, und sie war allein in China auf einem Markt, der so fremd schien, dass er von einem anderen Planeten stammen könnte.
Mit dem festen Ziel vor Augen zwei tolle Geschenke für Sam und Nick zu finden, kämpfte sie sich weiter an den drängelnden Chinesen vorbei. Wie fremd sie sich fühlte, mit ihren blonden Haaren und ihrem bleichen Hautton. In Afrika würde man sie für ein Vermögen kaufen, aber hier erhielt sie eher argwöhnische Blicke. Man sollte meinen, die Leute hier wären Touristen gewöhnt.
Sind Chinesen nicht von Natur aus schlank? Ein kleiner, etwas rundlicher Chinese hackte mit einem dumpfen Schlag auf ein klebriges Holzbrett den Kopf eines Fisches ab und kniff die Augen zusammen, als sie vorbeilief. Schnell ging sie weiter und passierte eine Theke, auf der eine Reihe von Woks standen, gefüllt mit gebackenen Krabben, gekochten Seetieren und weiteren Lebewesen. Trotz Bio-Leistungskurs konnte sie die allerdings nicht genau definieren. Brutzelnd und knackend spritze das Fett in alle Richtungen, besonders wenn die geübten Frauen die Griffe anpackten und die Pfannen wild hin und her schüttelten. Grauer Dampf löste sich von den offenen Feuerstellen und mischte sich mit der kalten Dezemberluft, stieg weiter wirbelnd an den hervorstehenden chinesischen Dächern empor, bis es sich im kühlen Ostwind verflog. Ein Stück weiter gab es den passenden Reis und endlich auch lecker riechende Suppen. Davon könnte man einen anderen Tag mal etwas probieren. Heute gibt es ein Festmahl bei der Familie, also besser nichts vorher essen.
Ein paar Meter weiter stachen ihr handgefertigte Holzarbeiten in die Augen. Sie war in der Region, wo Kunst und Handwerk öffentlich zur Schau gestellt wurden. Nicht nur für Touristen, denn wie sie sehen konnte nahmen mehr Einwohner das reichhaltige Angebot in Anspruch. Auf der rechten Seite erblickte sie einen Stand, der einen atemberaubenden, drei Meter großen Weihnachtsbaum in der vorderen Ecke zu stehen hatte. Je näher sie dem kam, desto stärker wurde der Geruch von echten Kiefernnadeln. Er heftete sich penetrant an jedermanns Nase. Dank Weihnachten, Lebkuchen, Zimt oder frisch gebackenen Keksen war er jedoch zu einer der wohltuendsten Gerüche geworden.
Anstatt von Bäckereiwaren fand sie jedoch nur einen mit Girlanden behangenen Eingang zu einem Laden. Auf dem Schild prangte in großer Schrift unter den chinesischen Zeichen: Golden Kylin Bronze Antiques. Ein unsichtbarer Drang zog sie in den Laden, also näherte sie sich der vollbehangenen Glastür mit kurzen Schritten. Diese silbern-goldenen Ketten sind bezaubernd. Sowas wär doch ein gutes Geschenk für Sam. Aber ob man sich das leisten kann?
Sie trat hinein, gefolgt von einem lauten Klingeln. Kaum war die Tür hinter ihr zugefallen, da erstarb der Lärm von den Massen auf der Straße. In der ungewohnten Stille sah sie sich mit angezogenen Augenbrauen um, den Kopf von unten bis oben in alle Richtungen wendend. Der Laden roch angenehm nach Zimt und Nelken, überall hing Weihnachtsschmuck und an vereinzelten Plätzen sah sie auch kleine Weihnachtsbaumversionen, wunderschön bestückt mit glänzend roten Kugeln. Einer trug sogar eine silberne Engelsspitze. Hier ist mehr zu finden als in vielen Häusern zu Hause.
Auf dem Tresen stand ein Teller mit bunt gestreuselten oder in Schokolade getunkten Mürbeteigkeksen und daneben ein Korb mit Orangen und Walnüssen. Liegt es an den Kerzen oder warum ist es hier drin so warm? Sie konnte nicht anders als ihre Wintermütze und den Schal auszuziehen und nach kurzer Zeit sogar ihren grau-olivegrünen Mantel, den sie an einen vorgesehen Haken an der Tür aufhängte. Das ist fast wie vor einem brennenden Kamin. Beinahe konnte sie schon das Knistern und Rascheln der Flammen hören, aber ein Kamin in China in einem Einkaufsladen war dann doch zu absurd.
Interessiert schlängelte sie sich durch den Gang, an dessen Seiten Regale voll mit Schmuck und metallenen Figuren standen. Von den Fenstern drang wenig Licht, da die sandfarbenen Jalousien heruntergezogen waren. Das Lichtspiel der Kerzen in den spiegelnden Kunstwerken erleuchtete den Raum trotzdem auf eine mystische Weise, obwohl alles eng und vollgestopft war.
Auf der anderen Seite ging sie wieder zurück zum Eingang, ohne eine passende Kette gefunden zu haben, die sie sich leisten konnte. Die meisten Preise begannen bei 200 Honkong Dollar, was in etwa 20 Euro entsprach. Und Nick braucht auch noch ein Geschenk. Sie stöhnte innerlich.
Plötzlich wich sie mit einem Schreck zurück und krachte gegen eine kleine Kommode, worauf Ständer mit Ketten hingen. Vor ihr war eine kleine, kaum 120 cm große chinesische Frau aufgetaucht und betrachtete sie seelenruhig mit ineinander gefalteten Händen und locker herabhängenden Armen. Ihre schwarzen Haare zeigten einen Topfschnitt, der ihre grünen Augen merkwürdig aufhellte.
„Oh nein, Entschuldigung. Das tut mir so leid.“ Sofort machte sich Hannah daran, die zahlreichen Armbänder vom Boden aufzusammeln und nach bestem Gewissen zurück auf den Ständer zu packen. „I am…äh… really… sorry.“ Wo ist nur Nick, wenn man ihn braucht? Obwohl eine Entschuldigung auf Englisch doch eigentlich nicht so schwer sein dürfte.
Die Frau beobachtete sie nur, steif wie eine Marmorfigur. Als Hannah allerdings alles wieder an seinen Platz gestellt hatte, drehte sie sich um und verschwand hinter dem Tresen, wo ein mit hölzernen Bastketten behangener Durchgang in einen für Käufer unzugänglichen Bereich führte. Seltsame Frau.
Plötzlich hörte sie Schritte aus dem Raum, die auf dem Holzboden laut widerhallten. Warte mal, die Frau konnte man überhaupt nicht hören. Wie konnte sie so leise laufen? Ihre Verwunderung wurde nicht geringer, als ein großer, europäisch aussehender Mann die Bastketten mit einem durchdringenden Rasseln beiseiteschob. Er trug einen roten Chillba Hut, eine runde Kappe in Kegelform. Seine dünnen, aber vollen, weißen Locken zeichneten sein Alter deutlich aus, und doch bewegte er sich wie ein 40-Jähriger. Mit seinem herausstehenden Kugelbauch stieß er bis zum Tresen vor und beäugte Hannah mit einem wohltuenden Lächeln. „Guten Tag, wie kann ich dir denn helfen?“
Überrascht ließ Hannah ihren Argwohn fallen und lief langsam zwei Schritte bis zum Tresen vor, auf den sich der ältere Mann in seiner roten Latzhose und seinem weißen T-shirt stützte. „Ähm, eigentlich suche ich ein kleines Geschenk für eine Freundin.“ Dann fügte sie grinsend hinzu: „Das ist ja wirklich ein Zufall, dass Sie Deutsch sprechen. Leben Sie hier?“
Der Mann grinste ein unwiderstehliches Lächeln, was die kleinen Augen zu Schlitzen verzog und die Wangen kugelrund hervorhob. „So ein Zufall ist das gar nicht. Und arbeiten tue ich mal hier und mal da.“
„Ich glaube, Sie haben Recht. Die Welt ist klein. Ich bin so weit weg von zu Hause und in einem so fremden Land. Doch mit seinen Freunden ist es egal, wo man sich befindet. Abgesehen von meiner Familie, die fehlt mir schon.“
„Das ist gut. Dein Herz ist am richtigen Fleck.“ Er richtete sich auf und hustete kurz in sein Handgelenk. „So, du bist also auf der Suche nach dem Zauber des Weihnachtsmannes.“
„Ich glaube schon, ja. Ich brauche etwas Schönes, aber auch Nützliches.“
„Oh, da habe ich bestimmt genau das Richtige für dich. Yoki!“ Mit dem Rücken zu ihr rief er nach der kleinen Frau, so vermutete Hannah.
Die Bastketten wurden in der nächsten Sekunde beiseite geschubst und prompt stand die Frau in derselben Position wie zuvor vor dem Eingang. „Unser Kunde hat den weiten Weg hierher gemacht, um ein kleines Wunder abzuholen. Bitte lass ihn nicht länger warten.“ Mit dem bezauberndsten Lächeln wendete sich der Herr wieder Hannah zu und neigte den Kopf ein Stück als er die Hände auf seinem Bauch zum Ruhen brachte.
Hoffentlich hat er eine passende Kette oder irgendwas in der Art. Wirklich nett von ihm, mir etwas aus dem Hinterzimmer zu zeigen. Das muss ja wirklich speziell oder neu sein. Wahrscheinlich kann ich mir das aber dann nicht leisten.
Schließlich kam die steife Frau mit schnellen Schritten zurück und überreichte dem Mann eine Schachtel in der Größe eines Weihnachtskalenders, nur etwas dicker. Das ist nicht sein ernst. Was da drin ist, das kann ich mir auf gar keinen Fall leisten.
Der Verkäufer nahm es entgegen, wonach die Frau sich neben ihn stellte. Dabei konnte sie nicht einmal über den Tresen schauen. Der Mann platzierte das Paket ganz sanft auf der glatten Glasfläche zwischen den dreien und hob den Deckel mit den Fingerspitzen an. Darunter war ein seidenes Tuch über dem Inhalt ausgebreitet, das in dem Kerzenschein wirr schimmerte. Die kleinen Hände schoben das Geschenk näher zu Hannah und nahmen ihre Position auf den schwarzen Knöpfen am Bauch wieder ein.
Hannah sah dem Mann kurz in die schmalen Augen. Dann wanderte ihr Blick zu der kleinen Frau, die sie mit einem ausdruckslosen Gesicht anstarrte. Sie nahm das Seidentuch beiseite und darunter befand sich der verrückteste und gleichzeitig bemerkenswerteste Gegenstand, den sie je gesehen hatte. Er war glasklar, aber nicht durchsichtig, hatte ein ganz feines, dunkles Muster, kaum erkennbar auf dem rötlich-lilanen Grundton. Es war nur ein Bruchstück, aber der Rand war nicht nur wahllos herausgebrochen, sondern fein rundgehobelt.
Sie musste sich von dem Anblick regelrecht losreißen, aber noch größer als ihr Staunen war ihre Verwirrtheit, weshalb sie den Mann fragend beäugte. „Ich glaube nicht, dass Sam damit etwas anfangen kann.“
Der Verkäufer lächelte nun noch breiter. „Nein, das bezweifle ich.“
„Aber warum…?“ Sie sah erneut zurück auf den Gegenstand. „Was ist das für ein Holz? Ich glaube nicht, dass ich so eins schon mal gesehen habe.“
„Man würde den Grundbaustein für dieses Wunder wohl Sandholz nennen. Aber es ist noch viel mehr als das. Ach, darunter ist übrigens eine Kette für deine Freundin und ein Ohrring für deinen Freund.“
Hannah’s aufgerissenen Augen verengten sich im nächsten Moment. Aber wie…? „Woher wissen Sie, dass ich zwei Geschenke brauche? Und wieso zeigen Sie mir Sandholz? Das ist das teuerste Holz der Welt, wissen Sie denn gar nicht, was das für ein Vermögen ist, dass Sie hier besitzen?“
Der Verkäufer legte den Kopf noch schräger. „Aber nein. Ich besitze nichts. Sieh selbst, was auf der Karte steht.“
Hannah untersuchte das Paketinnere mit einem Blick, konnte aber keine Karte sehen. Dann drehte sie das Tuch in ihrer Hand um und fand eine Nachricht darauf in dünnen, silbernen Fäden geschrieben als wäre es in das Tuch gewoben. Fröhliche Weihnachten Hannah.
Als sie ihren Blick wieder auf den Verkäufer richten wollte, war dieser verschwunden, nur die Chinesin war zurückgeblieben und starrte sie unverändert an. „Aber wo ist er ihn?“
Sie hatte kaum eine Reaktion erwartet und erhielt auch keine. Vorsichtig griff sie nach dem Holz. Wenigstens angucken muss ich es mir. Plötzlich durchstieß sie eine heiße Welle von ihren Fingerspitzen aus und blitzschnell geschahen mehrere Dinge, die sie kaum glauben konnte. Die Chinesin verformte sich in unmöglichen Spiralen und wurde Kopf voraus zu Hannah gezogen. Sie verschwand in einem großen Licht, das von dem Holz ausstrahlte und Hannah erblinden ließ. Sie versuchte das Ding loszulassen, doch ihre Hände hörten nicht mehr auf die brennenden Neuronen in ihrem Kopf. Dann hörte sie ein ohrenbetäubendes Rauschen, als würde sie mit Hochgeschwindigkeit durch den Himmel sausen.
Dann war alles vorbei. Doch sie war nun nicht mehr in dem Laden. Stattdessen blickte sie durch ein verschwommenes Fenster, das an den Rändern weiß schimmerte. Das bin ja ich. Nur…, ich bin so alt. Was soll denn das?
Sie sah einen spärlich hell beleuchteten Raum, in dem sie an einer Werkbank stand und mit einem Mann redete.
„Hello, Mr. Darvis. Did you have a good Cruise in the Indian Ocean?“
“Oh, yes, Thank you, Mrs. Kampe. I had a blast. I was fortunate that my helicopter could still land on the ship, because of the summer storms.”
“Yes, well I wish I had a helicopter.” Die Hannah grinste fröhlich.
“I’m sure you could afford one by now. How many facilities do you own already? Last month’s opening must have been the fifth in Britain and how many do you have in Germany? Eight?”
Die Hannah wurde leicht rot. “Yeah, I never would have dreamed of it. Especially with competition like Ikea around. But luckily people appreciate hand-made works more these days again.” Eine Tür öffnete sich am anderen Ende des Ateliers. “Oh that is my husband. He is supposed to pick me up because we will be going back to Germany today, for the opening was so successful. I’m sorry that you will have to deal with my British manager from now on.” Hannah’s schlanker Ehemann kam ihnen nun entgegen.
“Oh that is fine. You better take care of your family. Your kids are probably eager to see their mommy again.” Er lachte kurz auf und Hannah stimmte ein.
“Well, I certainly hope so. Let me show you your wardrobe first, though. I made it myself, so I want to see if you like it.” Ihr Mann hatte sie nun erreicht und gab ihr von oben herab einen Kuss zur Begrüßung. „Hey, lass mich noch kurz die Schrankwand verkaufen und dann können wir los.“
Seine blonde Mähne fiel locker auf seine Schulter als er seelenruhig nickte. „No problemo.“
2.
Sam fixierte das Leuchtschild über dem Bildschirm am anderen Ende der Kabine. Doch sie sah nicht wirklich was darauf stand, noch interessierte sie sich für das blöde Schild. Es war einfach da und ein guter Punkt zum Hingucken. Dabei nahm sie Pearl Jam lautstark in ihrem Ohr wahr.
Sie versuchte erneut die Augen zu schließen, doch es half alles nichts. Ihre Beine schlugen an den Vordersitz, obwohl sie sie schon zur Seite gedreht hatte. Und sie hatten noch nicht einmal die Hälfte des Fluges hinter sich. Wie soll ich das überleben? Konnten die Flugzeugkonstrukteure nicht ein wenig Rücksicht mit mir haben?
Sie drehte ihren Kopf nach rechts und sah Hannah schlafend mit dem Fragment in den Armen. Wie niedlich sie aussieht. Es ist so schön, dass sie doch mit uns gekommen ist, und ihre Familie für dieses eine Weihnachten zurückgelassen hat. Sie fasste sich an den Hals und fuhr die goldene Kette entlang. Ich frage mich wirklich, was sie in diesem Laden erlebt hat. Obwohl mein Ausflug kaum glaubhafter ist, als das, was sie erzählt hat. Sie wechselte die Blickrichtung und musterte den schlafenden Nick. Ja, Nick hat wohl das aufregendste Erlebnis gehabt. Ihr Blick fuhr ein Stück weiter zu der Mittelsitzreihe neben ihrem besten Freund. Hoffentlich machen die keinen Unsinn, wenn wir wieder zu Hause sind.
Im nächsten Moment stemmte sie sich mit den Armen hoch und richtete sich in ihrem harten Sitz etwas auf. Dann legte sie den Kopf nach hinten und drückte den Knopf an ihrer rechten Armlehne, um den Sitz etwas nach hinten zu verstellen. Egal, ob der hinter mir gestört wird, ich muss jetzt etwas Ruhe finden, koste es, was es wolle. Die Tage waren einfach zu nervenaufreibend.
Mit den weltbesten Gitarrenklängen von Pearl Jam rutschte sie schließlich in eine beruhigende Position. Ihre Gedanken kreisten zurück zu ihrem ersten Tag, an dem sie etwas gefunden hatte, das sie seither in ihrer Jackeninnentasche trug.
Sam schlenderte hüftschwingend den Markt entlang. Es war erstaunlich weihnachtlich, dafür, dass die Chinesen das Fest nur vom Westen adoptiert hatten. Und das auch nur in einigen Bereichen und bei wenigen, die Spaß daran fanden. Die meisten freuten sich vielmehr auf ihr Neujahrsfest im Januar, wenn die richtig großen Partys und Familienzusammenkünfte gefeiert wurden.
Ningbo schien sich etwas mehr aus Weihnachten zu machen, mit all den Girlanden und Schleifen an den Ständen. Sie hielt an einem Stand an, der kandierte Äpfel und mit Schokolade überzogene Weintrauben verkaufte. Das sieht verdammt lecker aus. Aber nein, Sam, du musst bis zum Abendbrot warten. Die Familie in der Pension hat uns extra eingeladen.
Einen letzten Blick mit schmollendem Mund auf die Leckereien werfend, ging sie weiter, bis sie an einen Stand kam, der chinesische Schreibartikel anbot. Es gab Bambusschreibfedern, Bücher die aus papyrusähnlichem Papier gemacht waren, Pergamentrollen, und Stifte mit chinesischen Schriftgravuren. Das wär was für Nick. Mit einem Finger fuhr sie sich über den Mund und überlegte angestrengt, welches der Sachen am besten für Nick geeignet war. Letztendlich entschied sie sich für eine chinesische, grüne Schreibfeder, sowie eine Pergamentrolle, auf der Nick eines seiner Werke verewigen konnte.
Für Hannah fand sie nur wenige Stände weiter eine Holzschüssel mit einem chinesischen Glücksspruch, so vermittelte der junge Chinese ihr auf Englisch, zusammen mit einem Mörser. Der ist perfekt für unsere Kochabende. Hannah kann dann die Zutaten für die Cocktails kleinmachen und Nick und Ich legen die Füße hoch und genießen ihre Drinks. Schmunzelnd trödelte sie weiter mit ihrer Plastiktüte in der Hand.
Wie aus dem Nichts verspürte Sam plötzlich einen Würgreflex. Von der einen auf die andere Sekunde war sie extrem bleich und hob sich noch mehr von den Massen an Chinesen ab. Abrupt blieb sie stehen und drückte mit ihrer freien Hand auf ihren Brustkorb. Ihr Gesicht war zu einer bizarren Grimasse zusammengezogen, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass ein übelriechender Geruch in der Luft hing. Niemand außer ihr schien es jedoch zu bemerken. Die Familien mit ihren Kindern schlenderten weiter, genauso wie die professionellen Markteinkäufer, die frische Zutaten für ihre Betriebe besorgten.
Bedächtig trug sie sich weiter voran, in der Hoffnung, dass der Gestank nachlassen würde. Zu ihrem Bedauern geschah das Gegenteil und ihr Magen machte eine Achterbahnfahrt mit jedem Schritt, den sie in die Wolke aus verfaulten Abgasen ging. Irrational wie sie war, drehte sie nicht um, sondern begann die Marktstraße schneller hoch zu laufen, vorbei an Chinesen-Gruppen und vereinzelt auch Touristen. In Schlängellinien bahnte sie sich ihren Weg und versuchte so wenig wie möglich zu atmen. Die Hand vor dem Mund zu halten brachte nicht viel und am liebsten hätte sie die Tüte zurückgelassen und beide Hände genommen. Nein, die Geschenke sind für meine besten Freunde, die beschütze ich bis zum letzten Atemzug.
Sie drängte sich an einem riesigen, dicken Chinesen vorbei und wünschte, sie hätte es nicht getan. Der Anblick war widerwärtig. Sofort wich sie zurück und rempelte dabei in den Sumoringer. Sie fand sich gefangen zwischen dem widerwärtigsten Stand auf dem ganzen Markt und dem angsteinflößenden Chinesen, der grimmig auf sie herabblickte. So schnell sie konnte lief sie an den kleinen Leuten vorbei und suchte sich eine Nische nach der anderen. In ihrem Kopf rumorten die Bilder, der Stand. Tote Fische, blutig, ausgehöhlt, die Glubschaugen starr über den Kiemen, die wie aufgerissene Hautlappen aussahen. Und dann der Sensenmann, der mit seinem scharfen Schwert die Schuppen von einem riesigen Fisch abschabte. Sie wollte es vergessen, die Bilder aus ihrem Kopf verbannen, aber es gelang ihr nicht, also rannte sie weiter. Ohne drauf zu achten, wo sie hinlief. Sie merkte nicht einmal, dass der Fischgeruch längst verflogen war und ihr das tiefe Einatmen keine Schmerzen mehr bereitete.
Zu allem Überfluss tauchte vor ihr eine Meute von winzigen Kindern auf, die sich vor einem kostümierten Chinesen versammelt hatten. Wäre sie nicht so benommen von widerwärtigen Eindrücken gewesen, hätte sie sich über den Anblick eines Weihnachtsmannes mit chinesischen Gesichtszügen totgelacht. So erschreckte er sie noch mehr, also bog sie ohne nachzudenken nach rechts ab, öffnete eine Tür, die sich ihr in den Weg stellte, und betrat einen weitläufigen Raum. Kaum dass die Tür hinter ihr zugefallen war, herrschte eine beruhigende Stille.
Schwer atmend lehnte sie sich gegen die Tür, die Handflächen hinter ihr gegen das Holz gepresst. Allmählich richtete sie sich auf und stellte mit großem Vergnügen fest, dass es dort nach Zimt und frisch gebackenen Keksen roch. Tief zog sie die erfrischende, warme Luft ein. Nun nahm sie auch die visuellen Weihnachtsornamente wahr und mit Staunen begutachtete sie die wohlplatzierten Weihnachtsbäume, die reichlich behangen waren. Noch schneller atmend als gewöhnlich erkundete sie den Raum, der sich hinter einer Empfangstheke weit nach hinten erstreckte. An den mokkafarbenen Wänden hingen vielfältige Kunstwerke, mitunter Fotografien, aber auch Gemälde, alle behangen mit Girlanden und silbernem Glitter. Die Motive waren sehr speziell, entlegene Orte aus der Superperspektive, extreme Close-ups und einige Naturbilder vom asiatischen Urwald. Besonders auffällig waren die Licht- und Schattenspiele. Sie erkannte etwas Chiaruskorisches darin, einen starken Kontrast.
Als sie tiefer in den Raum hineinging, fand sie zwei in weitem Abstand gegenüberliegende, rote Sofas auf flauschigen, weißen Teppichen mit einem runden Tisch dazwischen. Darauf stand ein großer Teller mit reich verzierten Lebkuchen und Plätzchen. Hinter der Lounge hingen schwarze Vorhänge, die nur halb zugezogen waren. Sie beugte sich leicht zur Seite und sah dahinter eine Leinwand und einen Hocker, wovor ein Kamerastativ aufgebaut war.
Sie ging zu dem Tisch, wobei die Hitze sie fast erdrückte. Es schien, als würden die verteilten Kerzen auf den Regalen neben Kunstobjekten und Bildern mit einem Kamin konkurrieren. Sie zog ihre Jacke und die schwarze Kapuze aus und legte sie über die Couch. Dann nahm sie sich einen Keks und genoss den Geschmack von bröselndem Gebäck mit Schokolade.
Als sie ihre Augen öffnete, schrak sie zusammen und verlor die zweite Hälfte des Kekses. Vor ihr stand ein unnormal kleiner Chinese, dem das Grinsen ins Gesicht gemeißelt war. Er hatte einen lustigen, kleinen Schnurbart und dazu einen merkwürdigen Topfschnitt. Mit gefalteten Händen stand er zwischen den Vorhängen und lächelte ihr bewegungslos zu.
„Oh, Entschuldigung. Ich hab mich hier einfach bedient, ich dachte das wäre für Kunden.“ Als der Asiate nichts erwiderte, sagte sie belustigt: „Ah, I’m sorry. Do you speak English?“
Ihr erwartungsvoller Blick wurde nicht erwidert. „Nun gut“, stammelte sie, „dann geh ich wohl besser.“ Sie bückte sich um das verlorene Stück aufzuheben, als der kleine Chinese plötzlich kehrt machte und hinter den Vorhängen verschwand. Mit fragendem Blick schaute sie ihm hinterher. Was war denn das?
Wie zur Antwort auf ihre Frage erschien ein alter Mann wo der Chinese verschwunden war und kam auf sie zu. Sie musterte seine roten Turnschuhe und das rote Hemd, in Kombination mit einer weißen Hose. „Hallo“, brummte er in seine kurzen, weißen Bartstoppeln. „Schmecken die Plätzchen?“ Er warf der leicht verwunderten Sam ein freundliches Lächeln zu, bevor er sich auf eine Couch fallen ließ und die Hände auf seinem kugelrunden Bauch zur Ruhe brachte.
„Es tut mir sehr leid, wenn ich mir keinen hätte nehmen sollen. Ich dachte, die wären für Kunden.“
„Dann kann man davon ausgehen, dass du ein Kunde bist?“
Sam wurde nun rot im Gesicht, ganz ähnlich den warmen Pausbacken des Mannes. „Na ja, ich finde ihre Bilder beeindruckend. Aber wahrscheinlich kann ich mir keins leisten.“
„Der Preis ist nur eine Frage der Hingabe.“ Der Künstler richtete seine rot-weiße Baseballmütze mit einer Hand und verschränkte daraufhin die Arme.
Was meint er denn damit? Macht er mir etwa ein Angebot? Vielleicht weil wir Deutsche sind? „Wie kommen Sie eigentlich an diesen abgelegenen Ort? In China ein Atelier zu haben ist schon recht außergewöhnlich.“
Der Mann zog seine Mundwinkel an und antwortete: „Weißt du, mein Atelier ist die ganze Welt. China ist nicht mein häufigster Aufenthaltsort, aber eines der Gebiete, wo meine Vorstellungen noch am besten durchzusetzen sind.“
„Achso“, ließ Sam verlauten, doch innerlich versuchte sie noch Sinn aus den Worten des Fremden zu machen.
„Ich glaube, ich hab da was für dich.“ Er hob einen Finger in die Luft und fügte hinzu: „Wo du dich doch so für Kunst und Fotografie interessierst. Yoki!“
Gespannt folgte sie dem erwartungsvollen Blick des Künstlers, der die Vorhänge fixierte. Keine Sekunde später huschte der kleine Chinese durch den dunklen Stoff und stoppte mit beiden Armen steif an den Seiten verankert.
„Kannst du uns bitte das Kästchen bringen!“ Kaum hatte der Mann ausgesprochen, war der kleine Mann außer Sicht.
Verdammt, ist der schnell. Der könnte bei den Olympischen Spielen mitmachen. Ihr Kopf wanderte zurück zu dem Künstler. „Haben Sie in China viele Kunden? Ich meine, die Chinesen fotografieren ja wie wild, wenn sie bei uns zu Besuch kommen, aber sind die auch so vernarrt in ihren eigenen Gebieten? Die bevorzugen doch eher ausländische Kunst, oder?“
„Das ist wohl wahr. Sie haben ihre eigenen Bräuche, aber der Reiz des Unbekannten und des Neuem gibt mir hier immer reichlicher an Arbeit. Ah, da ist es ja.“ Der Chinese war zurück, ohne dass Sam es überhaupt bemerkt hatte. Er reichte dem Künstler ein Kästchen aus braunem Edelholz, das ein goldenes Scharnier benutzte. „Komm etwas näher!“, sagte er und hielt ihr das Kästchen kurz hin.
Sam setzte sich also neben den Mann auf die Kante der Couch und starrte auf das romangroße Gefäß in dessen dickfingerigen Händen. Mit einer Hand öffnete er das Scharnier und beobachtete Sam ununterbrochen. Dann hob er den quadratischen Deckel an. Sam’s Augen weiteten sich.
In der Schatulle lag ein in Samt eingefasstes Auge. Oder ist das eine Träne? Nein, es ist eine Linse, aber die sieht so anders aus. Sie starrt mich beinahe an. Und doch scheint das Glas wässrig, ja fast in Tropfen zu zerlaufen. Egal, wie lange sie den Gegenstand ansah, er veränderte seine Form nicht, und doch sah er in keinem Augenblick so aus wie in dem vorigen.
Ihr Blick löste sich für eine Sekunde von der Linse und sah zu dem Mann hoch, der ihr munter zulächelte, und daraufhin zu dem Chinesen, der sie mit seinen gefalteten Händen ausdruckslos beobachtete. Soll die wirklich für mich sein? Warum sollte er mir so etwas Wunderschönes geben? Sie fuhr einen Finger über den Samt und stützte dabei das Kästchen mit der anderen. Plötzlich wurde es doppelt so schwer und als sie zusammenzuckend den Kopf hob, war der Künstler verschwunden. Den Kopf wendend suchte sie nach einem Zeichen von ihm, doch er blieb unsichtbar.
„Wo ist er hin?“, fragte sie den Chinesen. Gut, das hätte ich mir denken können. Keine Antwort ist auch einen Antwort. Der künstliche Geruch des Samtes stieg ihr in die Nase und übertönte den weihnachtlichen Zimtduft. Die faszinierende Linse nahm sie wieder in ihren Bann. Mit ihrem Zeigefinger wollte sie den abgerundeten Rand entlangfahren, als mit einem lauten Zischen all ihre Sinne verrückt zu spielen schienen.
Die Welt vor ihr verschwamm und alles begann sich zu drehen, der Chinese wurde gleichzeitig kleiner und länger, bis er kopfüber in der Schatulle verschwand. Sie wollte den Finger von der weichen, aber glatten Oberfläche lösen, doch nichts bewegte sich auf ihren Befehl hin. Und dann wurde plötzlich alles blass und still. Nichts bewegte sich mehr. Das Atelier war verschwunden, stattdessen fand sie ein ovales Loch vor sich, das in graue Dunstschwaden auslief.
In dem Bild sah sie eine hochgewachsene Frau, die sich gerade herunter beugte, um in eine Kamera zu schauen. Ein grünes Kleid hing von ihren schmalen Schultern herab bis zum Boden. Hinter der Kamera stand eine Familie mit zwei Kindern, die mittelalterliche Kleidung trug und die Haare in ähnlicher Weise frisiert hatte. Die Frau warf sich die dunklen, schulterlangen Haare zurück und drückte zweimal auf den Auslöser. Das Ergebnis begutachtete sie prüfend in dem Vorschaubildschirm.
„Ich glaube, wir haben es endlich“, rief sie ihren Motiven zu und begann sofort die Kamera konzentriert abzuschrauben. „Das Gemälde werde ich Ihnen dann in zirka 2-3 Wochen zukommen lassen. Den Goldrahmen, den sie ausgesucht haben, werde ich persönlich bearbeiten und ihr Portrait zusammenstellen.“
„Vielen Dank“, sagte der Mann, der gerade seinen Kindern dabei half, ihre Kostüme auszuziehen, „es ist wirklich äußerst nett von Ihnen, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben. Ich weiß, dass Sie mit ihren weltweiten Fotoserien einen sehr vollen Zeitplan haben. Aber meine Nichte vergöttert Ihre Arbeiten und sieht Sie sogar als Vorbild.“
„Wirklich. Das ist aber echt süß. Ich glaube, ich kann Ihnen noch ein kleines, handsigniertes Fotobuch mitschicken, das Ihre Nichte als Dank behalten kann. Ihr muss ich doch danken, dass Sie mir Ihre zweitausend Euro anvertrauen, damit ich ein Kunstwerk für ihr Foyer erstelle, oder?“
„Ja, ganz richtig“, lachte der Familienvater. „Aber ihr Ruf eilt Ihnen auch so voraus. Mit der Ausstellung im Nikoleiviertel letztes Jahr haben Sie für einiges an Aufruhr gesorgt. Meine Nichte hat mich nur von der einzigartigen Qualität ihrer Kunst überzeugt.“
Seine Frau kam mit ihrem blauen Kleid mit typisch mittelalterlichen, langen weiten Ärmeln in der Hand zu der Fotografin. „Wo darf ich die hinlegen?“
„Oh, packen Sie die einfach hier auf den Tisch.“ Dabei nahm sie ihr die Sachen aus der Hand und legte sie auf den Tisch an der Wand. „Darf ich fragen, wie Ihre Nichte auf meine Arbeit gekommen ist?“
Die Mutter sah über ihre Schulter zu ihrem Mann, der gerade seinem Sohn die Schuhe zuband. „Sie hat eine Freundin, die von Frau Peters unterrichtet wurde, oder?“
Die Fotografin warf abwinkend dazwischen: „Ach, Frau Peters!? Ich bin Sam, diese Höflichkeit höre ich schon genug von meinen Schülern.“
„Das glaube ich Ihnen“, gab der Vater mit einem kurzen Blick zur Antwort. Dann antwortete er seiner Frau: „Ja, mir ist auch so. Sie meinte glaube ich mal, dass sie die Schule wechseln will, um auch von Ihnen unterrichtet zu werden. Na ja, jetzt hätte sie da sowieso Pech, da Sie ja zurzeit eine Pause vom Unterrichten genommen haben, wie ich hörte.“
„Ja, das Projekt mit den tausend Ländern hält mich zu sehr auf Trab.“ Mit diesen Worten drehte sie der Familie den Rücken zu und ging in einen großen Raum hinein, der an den Wänden mit den verschiedensten Fotografien gesäumt war. Das Bild in dem ovalen Loch folgte ihr mit jeder Bewegung. Auf feingefertigten Möbeln, mitunter Kommoden, Regale und tiefe Tische aus dunklem Holz, standen weitere Kunstwerke oder hingen von der Wand. Sie passierte ein Windspiel aus schwarzem Stahl, das in sich in Spiralen bis zum Boden wand. Vor einem lebensgroßen Aktbild von ihr und einem großen, kantigen Mann, bei dessen Anblick sie die Mundwinkel anzog, hielt sie an. Von dem vollgestellten Schreibtisch daneben öffnete sie eine Schublade und holte eine Kette aus einer quadratischen Schatulle, an der eine Linse baumelte. Diese legte sie sich um den Hals und sah erneut auf die Bilder der Kamera. „Ich glaube, das vorletzte Bild ist genau das, was sie suchen“, rief sie in den angrenzenden Studioraum.
3.
Das stetige Dröhnen und Vibrieren konnte Nick nicht mehr wahrnehmen. Sam sah ihn gerade von der Seite an, doch auch das bekam er nicht mit. Er sank tiefer in seinen Sitz hinein, durch ihn hindurch bis an dem Fahrwerk vorbei in den Himmel, sank weiter, bis er sich unversehens auf den Straßen von Ningbo wiederfand. Dort lief er von einer Seite auf die andere hüpfend an den Ständen vorbei und suchte begeistert nach Geschenken für seine Freunde.
Es ist so schön, dass sie mit mir hierhergekommen sind. Dieses Weihnachtsfest wird das atemberaubendste, das wir je erlebt haben, da bin ich mir sicher. Er sah sich an einem Stand mit buddhistischen Porzellanwaren um, ging dann weiter zu einer Art Bäcker, der herrlich duftende Waren anbot, bei denen er genüsslich die Luft einzog. Weiter hinten öffnete sich der Markt aufgrund einer breiten Kreuzung, an deren linken Ecke eine katholische Kirche ganz im westlichen Stil stand. Ein paar Merkmale zeigten allerdings ihre chinesische Herkunft. So gab es eine goldene Inschrift zwischen den zwei herausstechenden Türmen, um deren Fuß mehrere kleine Varianten symmetrisch hervorstanden. Des Weiteren gab es viele runde Fenster, die wie Kuchen geteilt waren.
Als Nick sich näherte, konnte er unter den kahlen Bäumen eine Menschentraube erkennen. An dem Kircheneingang herrschte reges Kommen und Gehen, zum Großteil von Chinesen, aber auch endlich viele Europäer. Er lief näher heran, um sich den Grund für die Versammlung anzuschauen und hörte lange bevor er ankam einen Chor singen. Auch wenn er nichts verstand, konnte er ahnen, dass sie Weihnachtslieder sangen. Die Melodie war ganz gleich der deutschen Version. Über eine Gruppe von chinesischen Kindern hinweg, die dem Singsang schwankend folgten, sah er den Chor. Zwei dutzend Asiaten, die allesamt rot-weiße Zipfelmützen aufhatten. Schmunzelnd ging er um die Meute herum und lauschte den wohltuenden Klängen, bis er außer Hörweite war und den zweiten Teil der Marktstraße erreichte.
Dort gab es weniger Stände, dafür aber mehr Läden. Kaum ein paar Meter hinter der Kreuzung stand ein großer Weihnachtsbaum, der zu den Lichterketten an den Häuserwänden passte. Die Girlanden von dem Markt waren hier nicht so vorherrschend, doch gab es genug Ladenmarkisen, die reichlich an Weihnachtsschmuck besaßen.
Neben dem Weihnachtsbaum erblickte er in dem Schaufenster eine Reihe von Büchern. Ein chinesischer Bücherladen, wie interessant. Er betrat den Laden und fand sich in einem völlig leeren, weiten Raum wieder, der von unzähligen, tiefen Regalen durchzogen war, in denen sich Bücher an Bücher reihten. Auf dessen Rücken gaben unverständliche Schriftzeichen die Titel wieder, aber hin und wieder fand er auch englische Übersetzungen. Hier könnte man ja einfach reinplatzen und sich das Beste aussuchen und wieder gehen.
Er lief durch die weihnachtlich dekorierte Buchsammlung, mang kleinen Tannenbaumen, bunten Lichterketten und wohl platzierten Glitterfäden, und suchte eine Abteilung, in der englische Titel standen; auf deutsche konnte er kaum hoffen. Dabei betrachtete er die Titelbilder und fuhr mit den Fingerspitzen über die Cover. Die meisten Illustrationen sind so cartoonähnlich. Oder Fotografien. Möglich, dass hier der Einfluss von Mangas und Animes zu präsent ist. Eventuell ist es auch andersrum und deren Vorliebe für solche Comics spiegelt sich nur in diesen Titelbildern wieder.
Weiter in den Laden vordringend, nahm er einen angenehmen Zimtgeruch war und bei dem Anblick eines Weihnachtstellers auf einem kleinen Beistelltisch, auf dem Plätzchen und Zimtsterne lagen, spürte er wie sein Herz einen kleinen Sprung machte. Er lief zu dem Teller, zögerte jedoch. Lieber nicht, wer weiß, ob man sich einfach etwas nehmen darf. Er sah sich in dem Raum um, doch noch war kein Verkäufer erschienen.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er in der hintersten Ecke eine Glasvitrine. Er hob den Kopf und kniff die Augen zusammen, doch er musste noch näher treten, um das winzige Buch in dem silbernen Einband deutlich erkennen zu können. Es ähnelte einem Zigarettenetui, doch glänzte es viel heller. Am Rand sah er auch unüblich dicke Seiten. Was ist das bloß?
Der chinesische Titel auf der Vorderseite verschwamm in dem Licht der Kerzen, die rundherum auf dem Glasteller hinter der Scheibe brannten. Müsste der Sauerstoff in dem Kasten nicht ausgehen? Als er sich erneut auf den Titel konzentrierte, las er „Weisheiten“ anstatt des chinesischen Zeichens darauf. Verdutzt zog er die Augenbrauen zusammen. Das stand aber vorher noch nicht da?
Plötzlich schreckte er vor einer Spiegelung zurück und stieß mit etwas Weichem zusammen. Unter seinem Druck gab es nach, so dass er mit den Armen fuchtelnd nach Halt suchen musste. Kaum hatte er das Gleichgewicht wiedererlangt, drehte er sich um und entfernte sich angespannt. Die Arme hatte er schützend vor seinem Körper platziert. „Wer sind Sie? Äh, who are you?“
Vor ihm stand eine junge Chinesin mit einem Topfschnitt und einem kurzen Zopf am Hinterkopf. Sie hatte ihre Hände verschränkt, lächelte ihn aber mit ihren leuchtend grünen Augen an.
Nick wurde rot und kratzte sich den Nacken am Haaransatz. „I’m sorry. I hope this wasn’t closed.“
Als seine Frage unbeantwortet blieb, zog er seine Lippe zur Seite und biss auf die untere Hälfte. „I guess you don’t speak English. Well, I was just looking anyway. So I‘ll better leave. Have a good day.”
Er drehte sich von ihr weg und machte sich zum Ausgang auf. Als er sich nochmals zu ihr umdrehte, war sie verschwunden. Entgeistert blieb er stehen und suchte den Laden nach ihr ab. Die Regale waren so niedrig, dass er problemlos an den ausgestellten Büchern vorbei alles überblicken konnte. Er zuckte mit den Schultern. Weg. Einfach wieder verschwunden.
Schritte von rechts weckten seine Aufmerksamkeit. Aus einem Durchgang trat ein mittelgroßer, europäischer Mann in einem rotgestrickten Knopfjäckchen und weißem Unterhemd. Seine dünnen weißen Locken stachen nur ein paar Zentimeter aus der Zipfelmütze hervor, genau so eine wie der Chor sie getragen hatte. Nick wurde plötzlich extrem heiß und der Mann, obwohl er lächelte, ließ ihn einen winzigen Schritt zurücktreten. „Hello, I’m sorry that I bumped into the girl. I didn’t mean to, she just appeared out of nowhere.“
„Ja, sie haben die Angewohnheit, sich lautlos an jeden heranzuschleichen.“
„Oh, Sie sprechen ja Deutsch.“
„Mitunter, ja. Kann ich dir denn weiterhelfen?“
„Ich weiß nicht. Ich bin eigentlich auf der Suche nach typisch asiatischen Weihnachtsgeschenken für meine Freunde, aber ich glaube, die finde ich eher auf dem Markt.“
„Gut möglich“, stimmte der Verkäufer nickend zu. „Dann hat dich das Buch doch nicht interessiert?“
Nick sah ihn mit einem fragenden Blick an. „Doch, schon. Aber ich brauch eher Geschenke für heute Abend.“
„Lass mich dir ein Angebot machen. Du bekommst das Buch heute für 111.111 Honkong Dollar. Das ist ein fairer Preis.“
Stirnrunzelnd grübelte er nach. Das Buch sieht schon einzigartig aus. Aber das Geld brauche ich für Hannah und Sam. Ich kann natürlich noch Geld abheben, wenn ich irgendwo einen Bankautomaten finde. Ach, eigentlich sollte ich das Buch nicht nehmen. Heute ist Weihnachten und da denkt man an andere, nicht an sich selbst. Aber irgendetwas ist mit dem Buch. Und das Angebot gilt nur heute. Eigentlich hab ich mir auch schon lange nichts mehr gegönnt. Das Studium in England kostet Unsummen im Vergleich zu einem kostenfreien Studium zu Hause und deshalb spar ich rund um die Uhr wo ich kann. Zu Essen gibt es täglich Reis und Gemüse oder Kartoffeln und Gemüse und Müsli oder Yoghurt. Das ist billig und macht satt. Außerdem hilft es in Form zu kommen. Und dann die ganzen Aktivitäten, die die Uni anbietet. Student Council, Sportvereine, Lektorat, Berater und demnächst Mentor und Mitglied des Editorial Teams für eine Kolumne. Das mit der eigentlichen Uni-Arbeit in Einklang zu bringen war da schon das eine oder andere Mal stressig, da sollte ich mir doch auf dieser einzigartigen Reise auch mal ein Buch gönnen können.
Der Mann beobachtete ihn eindringlich mit verschränkten Armen. Ein bitterer Geschmack legte sich auf seinen Mund, als ein schwacher Windstoß sein Gesicht umhüllte. „Na gut, ich nehm es.“
Der Mann verzog seinen Mund, wodurch seine knubbeligen Wangen kugelrund wurden. In seinen halblangen weißen Bart hinein grummelte er: „Sehr schön. Yoki!“
Hinter dem Händler tapste das Mädchen im steifen Eilschritt herbei und stellte sich schnurgerade vor ihn hin, wobei er sie fast doppelt überragte. „Das Buch bitte!“ Sofort eilte sie wieder davon, ohne Nick eines Blickes zu würdigen. „Möchtest du ein Plätzchen?“ Er zeigte dabei auf einen zweiten Teller auf dem Ladentresen, auf den er sich nun lehnte.
„Ähm, ja gerne.“
Der Mann hielt ihm den Teller hin, so dass er zwischen den bunt gestreuselten Keksen und den Marzipankartoffeln aussuchen konnte. Er entschied sich für einen mit Schokoladenglasur.
Der Verkäufer stellte den Teller wieder beiseite. „Ich liebe Plätzchen zur Weihnachtszeit. Man backt so viel, mehr als man essen kann, und kann dann so viel teilen. Es ist etwas Selbstloses, wovon man sogar selber etwas hat. Ist das nicht das Schönste im Leben.“
Mit dem zerkrümelten Plätzchen im Mund versuchte Nick aus dem Gesagten einen Sinn herzustellen. Die Zartbitterschokolade zerlief auf seiner Zunge und verursachte einen Schwall Speichelzufluss. Er bedauerte, dass er sich beim Kauen so beeilen musste, um höflich zu antworten. „Ich denke schon, ja.“
Der Verkäufer erwiderte nichts darauf, sondern betrachtete ihn mit einem langsamen Kopfnicken. Das Mädchen kam vom hinteren Teil des Ladens zurück und hielt Nick das silberne Buch entgegen. Sofort nahm es ihn in seinen Bann. Es glänzte zauberhaft und der Rücken schien ohne die Scheibe dazwischen noch eleganter in dem Licht eines Kerzenständers zu leuchten.
Er griff nach dem Buch und prompt verschwand das Mädchen mit einem brennenden Stern, der vom Buch aus explodierte. Nick wurde von den Füßen gerissen und verspürte starke Kopfschmerzen aufkommen. Seine Sinne spielten völlig verrückt, er roch Tannenzweige, aber fühlte die Hitze eines Lagerfeuers; seine Hände und Füße kribbelten unangenehm und sein Gaumen nahm einen fettigen, salzigen Geschmack wahr.
Dann hörte er in seiner pechschwarzen Umgebung eine Stimme. Ein tiefes Dröhnen, das in seinen Ohren widerhallte. „Glaubst du, du hast dir dieses Jahr etwas verdient?“ Verwirrt blieb er stumm. „Glaubst du, deine Entscheidungen waren gerecht? Bist du zufrieden mit dir selbst?“
Eine Stille folgte. Nick lauschte gebannt, doch statt der Stimme kamen Bilder in ihm hoch. Erinnerungen an das letzte Jahr, ein Rückblick, der ihm die Tränen in die Augen drängte. Er sah sich am Flughafen, umrundet von einer Gruppe von Gestalten, die anstatt eines Gesichts schwarze Ausrufezeichen besaßen. Dann änderte sich die Umgebung und er stand mit Hannah in einer baufälligen Küche; auf ihrem T-shirt prangte ein grelles Fragezeichen, das immer größer wurde und ihn plötzlich verschlang. Im nächsten Moment war er in England, allein in einer leeren Ladenstraße mit zwei gewaltig schweren Taschen um seine Schultern, die ihn zunehmend zum Boden zogen. Er sah seine Familie am anderen Ende der Straße. Sie stiegen in einen schwarzen Mercedes und schlossen die Türen hinter sich. Er rannte los, um sie noch zu erreichen, doch da kam eine Reihe von lebensgroßen Anführungszeichen von einer Nebenstraße und versperrte ihm den Weg. Er sah noch wie der dunkle Schatten davonfuhr, zwei rote Augen grimmig auf ihn zurückblickend. Er sank vor den tanzenden Doppelstrichen zu Boden und starrte auf den Boden.
Er hat recht. Ich war dieses Jahr sehr egoistisch. In allen Punkten. Ich habe mich so verändert, aber es ist besser geworden. Dachte ich zumindest. Die Flucht nach England hat mir einiges klar werden lassen. Ich weiß jetzt, wie viel mir meine Freunde bedeuten. Wie sehr ich meine Familie brauche. Das habe ich lange nicht sehen können, viel zu lange. Und ja, es ist wahr. Dadurch ist so vieles kaputtgegangen.
Ein neues Bild bildete sich in seinem Blickfeld aus mickrigen Punkten. Hannah und Sam saßen Arm in Arm auf einer blauen Couch, dessen Polster ausgenutzt waren, so dass sie beinahe auf dem Boden saßen. Eine Postkarte lag auf dem Boden, die Nick gut wiedererkannte.
Ich war unglaublich rücksichtslos, was die Leute angeht, die ich liebe und die mich immer unterstützt haben. Ich weiß, ich konnte nicht anders, aber trotzdem hab ich ihnen besonders dieses Jahr nicht genug gegeben. Ich hab mich von denen, die ich am längsten kenne, nicht mal richtig verabschiedet. Wie erbärmlich. Und jetzt hast du dich für das Buch entschieden, anstatt die besten Geschenke der Welt zu suchen. Wie konntest du nur.
Der Schmerz in seinem Kopf verstärkte sich drastisch. Er kniff die Augen zusammen und presste auf die Schläfen, dann ließ es nach. Eine Gestalt tauchte aus der Dunkelheit auf, umrandet von einem gelben Licht. Drei kleinere Silhouetten kamen mit ihr auf ihn zu.
„Ich freue mich, dass du das endlich erkannt hast.“ Der füllige Mann mit der tiefen Stimme wurde immer klarer, je näher er kam. Er trug schwarze Stiefel, eine rote Hose mit passendem roten Schneemantel, an deren Enden breite, flauschig weiße Manschetten hervorstachen. Erst nahm er die Kinder neben dem voranschreitenden Mann als zu klein geratene Chinesen war, eine davon das Mädchen aus dem Laden. Doch je klarer ihre Umrisse wurden, desto unähnlicher waren sie Asiaten. Das Mädchen bekam eine spitze Nase und dazu passende Ohren, während ihre Augen von schmal und lang zu rund und groß wuchsen. Den anderen Winzlingen ging es genauso. All ihre Haare wurden kurz und entweder rot oder blond, wobei sie fest abstanden.
Nick fürchtete sich jetzt nicht mehr vor dem Mann. „Bist du etwa…?“
Die Gruppe blieb vor ihm stehen und alle sahen gebannt auf ihn herab. „Ich denke, der könnte ich sein. Und ich hoffe wirklich, dass du erkannt hast, warum ich hier bin und warum du hier bist!“
Nick nickte mit schweren Augen. „Ja. Das ist mir, glaube ich, klar geworden.“ Also war es sein Werk, dass ich die Flugtickets aus dem Taubenschwarm aufgefangen habe. Jetzt wird mir das klar. Ich bin schnurstracks durch eine Prüfung gesaust. Ich Dummkopf. Er seufzte schwerfällig am Boden liegend.
„Gut, dann war die Reise wenigstens nicht umsonst. Doch Erkenntnis ist nicht aller Tage Abend. Das nächste Jahr erwarte ich anständige Verbesserungen von dir.“ Der langbärtige legte seinen Kopf schräg und warf Nick ein scharfes Auge zu.
„Natürlich. Und nicht nur für mich, besonders für Hannah und Sam und auch meine Eltern, ach und generell für alle, die ich kenne. Ich war so mies zu allen.“
Die kleinen Elfen mit ihren grünen Roben und Zipfelmützen nickten energisch. „Wie du siehst, stimmen sie dir zu. Aber lass die Vergangenheit ruhen und begeb dich auf die Reise in die Zukunft. Dort liegt der Schatz, nach dem du suchst.“
Nick starrte in die Leere nach oben. Als er die Worte nicht vollends entschlüsseln konnte, entschied er sich stattdessen aufzustehen. „Ich werde mein Bestes geben.“
„Gut!“ Seiner beiden Hände öffneten sich und schwebten für einen Moment zur Seite. „Meine Helfer werden das im Auge behalten. Die beiden hier rechts werden Sam und Hannah für deine Unachtsamkeit entschädigen, solange die beiden ihren Geschenken und Zielen treu bleiben. Deinen Elfen hast du verspielt, das wird dir bewusst sein. Er wird dich durch das Buch hindurch jederzeit prüfen und wenn du deinen Egoismus wieder gutgemacht hast und gläubig deinen Weg gehst, dann entfaltet sich eventuell auch ihr Zauber. Das wird bei dir liegen.“
„Das ist wirklich großzügig, danke. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. Ja, ich weiß ja nicht einmal, womit ich das verdient habe. Meine Freunde haben es sicherlich verdient, aber ich sollte wohl eher auf den Zauber verzichten.“
„Deine Selbstlosigkeit ist schon einmal ein guter Anfang, aber du musst die Balance finden, zwischen dem, was du gibst und dem, was du nimmst. Keiner sollte alles aufgeben! Was bliebe denn dann noch zu geben?“
Nick versuchte, sich das gut einzuprägen. Da ist wirklich was Wahres dran. Er sah zu der jungen Elfe, die ihn mit ihren weiten Augen und einem knappen Nicken Zuversicht gab. Der Weihnachtsmann lächelte ihn nun an und mit dieser Geste verschwand sein Antlitz in einem wirren Strudel.
Nick spürte seine Kopfschmerzen wieder und auch sein Rücken tat weh, als hätte jemand ihn mit einer Salve Paintballs beschossen. Das Ruckeln und Schaukeln drehte ihm den Magen um. Er hörte Stimmen, erst ein Flüstern, dann aufgeregte Vibrationen. Das Schaukeln hörte kurzzeitig auf und er fühlte sich schwerelos. Im nächsten Augenblick ging es von Neuem Los. Schließlich hörte es auf und er fühlte einen weichen Untergrund, in den sein Körper hineinsank.
Als er die Augen zu öffnen versuchte, strebten seine Lider stark gegen seine Bemühungen. Er brachte einen Spalt zustande, doch das gleißende Licht blendete seine Pupillen. Einhergehend schmerzte es auf seiner Bindehaut, wodurch er die Lider bereitwillig fallen ließ. Es benötigte mehrere Versuche, um sie ganz zu öffnen. Das Erste, was er sah, war ein Gesicht, das sich über ihn beugte. Ein Junge, er war auch Europäer, hatte mittellange, blonde Haare und ein schmales Gesicht. Seine blauen Augen strahlten tiefste Besorgnis aus.
Ich bin okay. Hör auf so zu gucken. Doch er konnte keine Worte bilden. Dann nahm er auch seine Umgebung besser wahr. Er schien zurück in der Pension zu sein, auf dem Mittelbett liegend. Hannah und Sam standen auf der anderen Seite des Bettes und sahen nicht weniger besorgt aus.
„Meint ihr, es geht ihm gut?“, wollte Sam wissen.
„Er sieht fein aus“, sagte der Junge mit einer ansatzweise tiefen Stimme, die eine Nuance besaß, bei der Nick eine Gänsehaut überkam. „Ich glaube, er hatte nur eine Akute Belastungsreaktion. Das einzige, was er jetzt braucht, ist Ruhe. Na zum Glück haben wir Heilig Abend, da passiert ja eh nicht viel.“ Er zog seine schmalen Lippen breit, wobei seine reine Haut kaum Falten bildete.
Hat man mir einen Engel geschickt? Und dieser Geruch. Er riecht nach einer Blüte, aber ich kann mich nicht daran erinnern, welche es war. Sie war lila, glaube ich. „Wer bist du denn?“, fragte er angestrengt und stützte sich auf die Ellbogen.
„Ich bin Markus. Ich hab dich in dem Laden gefunden und zum Glück kamen deine Freunde gerade vorbei, sonst hätte ich dich zu einem dieser grauenvollen Krankenhäuser hier schleppen müssen. Obwohl, wahrscheinlich hät ich dich eher mit zu meinem Hotel mitgenommen.“ Er grinste ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
„Ja, wir haben seit Ewigkeiten nach dir gesucht“, stimmte Hannah zu. „Als du nicht bei dem Treffpunkt aufgetaucht bist, haben wir uns echt Sorgen gemacht.“
„Und ob!“, stimmte Sam zu.
„Mir geht’s gut. Ich hatte nur eine merkwürdige Begegnung.“
„Das hatten wir auch“, meinte Sam. „Und du wirst es uns nicht glauben.“
Markus sah die drei stirnrunzelnd an. „Ihr seid ein komisches Volk. Da entkommt man den verrückten Weihnachtsfeiernden nicht mal in China.“
„Nee, da hättest du wohl zum Südpol fliegen müssen“, schlug Hannah grinsend vor.
„Leider konnte ich mir das nicht aussuchen. China flog mir sozusagen in die Hand. Als Medizinstudent im 3. Semester kann man sich so eine Reise nicht leisten.“
Nick horchte plötzlich auf. Medizinstudent. Beeindruckend. Ob er…? Ach, vergiss es. „Wir haben so ähnliche Umstände. Bist du allein hier? Wenn du nichts vor hast, dann kann ich meinem Helden vielleicht beim Abendbrot danken. Ich bereite es zwar nicht zu, aber die Leute hier haben bestimmt nichts dagegen. Du wirst aber dem Weihnachtsflair nicht entkommen können.“
Markus dachte darüber nach, legte zwei Finger um sein Kinn und schnipste mit denselben. „Ich hab’s. Als Dank für meine Rettung kannst du mich morgen zum Essen ausführen. Ausnahmsweise bleib ich auch heute, aber das zählt nicht. So leicht kommst du mir nicht davon. Hast du schonmal einen hundert Kilo Klotz durch ganz China geschleppt?“
Hannah und Sam brachen lauthals in Gelächter aus. Nick sah nur verwirrt drein. Hundert Kilo, spinnt der. Und er will mit mir Essen gehen. Doch nicht etwa auf ein Date? Mit einem Mal fiel ihm sein Erlebnis wieder ein. Er dachte an die warnenden Worte. Ich schätze, ich werde ihm das geben müssen. Er betrachtete den Typen eingängig. Obwohl, so wie er scheint, wird das eher ein lustiger Abend.
In seiner Hand spürte er etwas Kaltes und Schmales. Als er die Hand hob, sah er das Buch, wo in nun blauer Schrift geschrieben stand „Nick’s Weisheiten“.
„Was ist das?“, wollte Sam wissen.
„Ein Geschenk vom Weihnachtsmann“, antwortete Nick in einer monotonen Stimme und mit glasigen Augen.
Markus lachte laut auf. „Sinn für Humor hat er ja.“ Keiner der anderen stimmte mit ein. Stattdessen langten Hannah und Sam in ihre Taschen und nickten verständnisvoll.
Epilog
In der Tat, was für eine Reise. Nick war aufgewacht und sah sich sein silbernes Buch an. Er blätterte durch die dicken Seiten, die silbern schimmerten. Es war beschreibbares Papier, aber von keiner Art, die er bisher in der Hand gehabt hatte. Die Seiten waren leer und fühlten sich beinahe wie Stoff an, waren aber hart wie ordinäre Buchseiten. Er sah hinüber zu Markus, der in der Mittelreihe schlief, den Kopf auf seinem stützenden Ellenbogen ruhend.
Wie friedlich er aussieht. Ich bin so froh, ihn getroffen zu haben. Nur wird es von nun an schwierig, wo ich doch zurück nach England muss. Nur für ein paar Monate, aber das wird an uns beiden nagen. Und dabei darf ich mich nicht zu sehr ablenken lassen. Den Fehler habe ich beim letzen Mal gemacht, doch jetzt habe ich eine Aufgabe. Ich muss an mir arbeiten und wieder lernen, meine Mitmenschen zu schätzen zu wissen. Vielleicht kann Markus mir dabei aber helfen. In den paar kurzen Tagen hat er mich schon so aufgeweicht, dass ich beinahe wieder weinen kann. Ach, wie lange habe ich nicht mehr geweint. Das muss bis zur letzten Trennung zurückliegen. Und die war weiß Gott nicht gestern.
Er nahm einen tiefen Luftzug ein und wendete sich dann auf die andere Seite. Die Motoren röhrten unentwegt, doch seine besten Freunde schliefen fest. Sam hatte ihren Kopf auf Hannahs Schulter gepackt und ihre Füße unter seine geschoben. Er konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Dann schnaufte er. Die beiden sind wirklich die besten. Ich hoffe, ihre Visionen werden war. Seit Tagen haben sie nichts Anderes mehr im Kopf. Es wär einfach zu schön für sie. Beide hatten nicht die einfachste Zeit bisher und ich hab es nur schlimmer gemacht. Doch jetzt kann ich es wieder gutmachen. Und das werde ich auch. Ich glaube, die Reise war dafür schon ein guter Anfang. So viel Spaß, wie wir zu viert hatten. Schade, dass es vorbei ist. Aber, wie sagte der Weihnachtsmann noch gleich, begeb dich auf die Reisen in die Zukunft. Da liegt der Schatz, den du suchst.