Was ist neu

Chiffre Nr.112

Mitglied
Beitritt
25.03.2003
Beiträge
794
Zuletzt bearbeitet:

Chiffre Nr.112

Chiffre Nr.112 - suche Trost, biete Frust

Peng – da war er geplatzt, mein Märchenhochzeitsseifenblasentraum, und der Club der Singles hatte ein neues Mitglied zu verzeichnen: Carina, einunddreissig Jahre, weiblich.
Nicht, dass mein Ex mich gegen eine bauchnabel-gepiercte, super-schlanke Zwanzigjährige ausgetauscht hätte, nein, ich musste ihn in unserem Schlafzimmer, in unserem Bett mit einem Kerl erwischen. Alles hätte ich mir vorstellen können, nur das nicht. Es täte ihm leid, dass ich es auf diese Weise erfahren musste, hatte er sich später zu verteidigen versucht, aber er hätte schon seit einiger Zeit gemerkt, dass er mehr auf Männer stünde. Und ich Dussel hatte anscheinend ein Brett vor dem Kopf gehabt und nichts geschnallt. Natürlich bin ich sofort aus unserer gemeinsamen Wohnung ausgezogen und habe schnell etwas Neues gefunden, eine Maisonettewohnung am Stadtrand. Die Männer habe ich seitdem auf Abstand gehalten. Ich musste mich erst einmal von dem Schock erholen. Aber so ein Singledasein hatte ja auch seine Vorteile. Man war unabhängig und musste sich vor allen Dingen nicht über solche Lappalien wie offene Zahnpastatuben, hochgeklappte Klobrillen oder zusammengeknüllte, nasse Handtücher neben der Dusche ärgern.

Doch irgendwann regte sich auch in mir wieder der Gedanke, dass es noch etwas anderes geben musste, als das Leben der alleinstehenden, emanzipierten Frau, und so war ich nach einer sechsmonatigen, beziehungslosen Zeit mehr als gewillt, diesen Notzustand endlich aufzuheben. Doch das war einfacher gesagt, als getan. Mehrere Versuche waren bereits fehlgeschlagen. Es wollte mir nicht gelingen, einen netten Mann kennen zu lernen, der auch bereit war, ausser einer kleinen Affäre noch etwas weiter zu gehen. Jetzt könnte vielleicht der Eindruck entstehen, dass ich eine unscheinbare, mit irgendwelchen Makeln behaftete Person wäre, doch dem ist nicht so. Ich bin mittelgross, schlank, habe lange, braune Haare und bin laut der Aussage meiner Freunde weder eine Zicke, noch eine Diva und durchaus als gutaussehend zu bezeichnen. Also, was war hier los?
Wenn das so weiter ging, würde ich wahrscheinlich noch bei den heiligen Schwestern der unbefleckten Dreifaltigkeit enden. Ich sah mich schon mit geschorenen Haaren den Schleier nehmen und für den Rest meines Lebens in einer dunklen Klosterzelle verschwinden.
Wären da nicht meine Freundin Isabel, eine rassige Halbspanierin und Eva, meine Kollegin aus dem Reisebüro gewesen, die mich immer wieder aufmunterten, und zu Veranstaltungen schleppten... ich weiss nicht, was für ein trauriges Ende es mit mir genommen hätte.

An einem Abend sass ich wieder einmal auf Isabels blauem Sofa und wartete darauf, dass sie, nachdem sie ihre kleine Tochter ins Bett gebracht hatte, zurück ins Wohnzimmer kam. Lustlos durchforstete ich ihren Zeitungsständer. Da steckten einige bestimmt sehr kurzweilige Wirtschaftsmagazine und eine Fernsehzeitschrift der Marke „Ich glotz TV“. Diese ungemein informativen Blätter, wie z.B. „Der neue Tratsch am Montag“ oder „Das Heimchen am Herd“, in denen man solche nützlichen Dinge wie Häkelanleitungen der neusten Hutmodele für Klopapierrollen fand, waren Gott sei Dank nicht dabei. Dafür aber eins dieser Frauenmagazine, die so vielversprechende Themen behandelten, wie: „Lust statt Frust – so wird es im Bett wieder spannend“. Das schnappte ich mir sofort, vielleicht konnte ich hier noch etwas lernen. Dabei übersah ich geflissentlich die Tatsache, dass mir augenblicklich gar kein Übungspartner zwecks sofortigem Ausprobierens zur Verfügung stand. Doch dann fiel mein Blick auf die Beilage der Zeitschrift, ein Extraheft mit Fotos von hundert männlichen und weiblichen Singles. Sie versuchten, durch mehr oder weniger witzige Antworten auf zehn Fragen, wie z. B.: „Wie oft pro Woche brauchst du Sex“, sich bestmöglich zu verkaufen.
Da gab es sportliche Singles und intellektuell wirkende, Modeltypen und solche, die sich am besten gleich bei den Weight-Watchern angemeldet hätten. Ein gewisser Ferdl aus Südbayern, einer der Marke Almöhi, entlockte mir ein Schmunzeln. So ein fescher Alpenbuab wäre doch mal etwas ganz anderes. Er wirkte allerdings mit seinen neunundvierzig Jahren schon ein wenig angestaubt. Als Hobby hatte er Alphornblasen angegeben und war auf dem Foto mit Krachledernen und roten Pausbäckchen abgebildet. Das kam wahrscheinlich von der frischen Bergluft.
Am besten von allen gefiel mir Stefan. Er war fünfunddreissig, zwar nicht in die Kategorie
„California Dream Boys“ einzuordnen, wirkte aber auf dem Foto mit seinen hellbraunen, schulterlangen Haaren und dem offenen Lächeln sehr sympathisch. Mal sehen, was er von sich gab. Seine Hobbys waren Motorradfahren und Musik hören. Am liebsten würde er irgendwo in Südeuropa leben. So, und nun die berühmte Frage, wie oft pro Woche. Junge, enttäusch mich jetzt bloss nicht.
Aha, sehr diplomatische Antwort: „ Da will ich mich nicht festlegen, kommt ganz darauf an, wie oft meine Partnerin möchte.“ Beim Frühstück im Bett würde er frischen O-Saft, Croissants und Capuccino servieren und als krönenden Abschluss? Drei Fragezeichen - da war die Fantasie der Leserinnen gefragt, und meine arbeitete bereits auf Hochtouren. Ein weiterer Pluspunkt des netten Stefans war, das er ganz in der Nähe der Stadt wohnte, in der ich lebte, sodass einem persönlichen Kennen lernen keine räumlichen Hindernisse im Weg stehen würden. Also alles in allem gesehen, war er einen Asbach Ur... ,eh, ich meine einen Anruf wert. Eine Telefonnummer war natürlich nicht abgedruckt, dafür aber eine Chiffrenummer.
„Na, was liest du “, fragte Isabel und liess sich neben mir auf das Sofa fallen.
„Ich überlege gerade, ob ich dem sympathischen, jungen Mann aus diesem Singleheft hier mal unverbindlich zukommen lassen soll, dass ich auch ein williger Single bin.“
„Zeig her, welchen meinst du denn?“, Isabel nahm mir das Heft aus der Hand und unterzog meinen Auserwählten einer genauen Prüfung.
„Mhm, nicht übel der Dübel, sieht süss aus“, urteilte sie.
„Und ausserdem sparst du dir bei dem hohe Benzinrechnungen, der wohnt ja gleich um die Ecke.“
Also war es beschlossenen Sache, ich würde einen Brief an Chiffre Nr. 112 schreiben. Warum auch nicht? Was hatte ich schon zu verlieren?
Isabel holte sofort einen Stift und ein Blatt Papier und wir liessen unserer Fantasie freien Lauf. Begleitet von Lachanfällen gelang es uns nach mehrmaligem Durchstreichen, Umändern und Neuschreiben einen, wie wir fanden, witzigen Brief zu verfassen.
Am nächsten Morgen steckte ich noch ein aktuelles Foto von mir in den Umschlag und warf ihn auf dem Weg zur Arbeit ein. Jetzt hiess es abwarten, wie der Knabe darauf reagieren würde.

Die Tage plätscherten ereignislos dahin. Ausser, dass sich mein Hund an der Pfote verletzte und ich mit ihm zum Tierarzt musste, passierte rein gar nichts.
Auch im Reisebüro lief alles seinen gewohnten Gang. Ich wartete vergeblich auf einen umwerfend aussehenden Mann, der ins Büro spazieren würde, um eine Doppelkabine auf einem Karibiktraumschiff zu buchen, mir tief in die Augen schauen und fragen würde: „Wollen Sie mich begleiten?“ Aber leider waren Träume Schäume.
Keine Schiffsreise mit geheimnisvollen Unbekannten und – kein Brief. Ich wurde langsam ungeduldig. Enttäuscht versuchte ich die verschiedensten Erklärungen zu finden. Die logischste von allen war, dass die Zeitschriftenredaktion erst einmal alle Eingänge für die jeweilige Chiffrenummer sammelte und sie nach einem bestimmten Zeitraum der betreffenden Person zukommen liess. Das konnte noch ein Weilchen dauern. Oder der Postbote hätte den Brief unterwegs verloren. Er wäre zwischen die Ritze eines Gullydeckels gerutscht und würde nun mit alten Bananenschalen und sonstigem Unrat der nächsten Kläranlage entgegenschwimmen. Oder aber, und dies wäre die schrecklichste Alternative, Stefan hätte meinen Brief bekommen, ihn aber schlichtweg bescheuert gefunden und sofort im Altpapiercontainer entsorgt.

Ein paar Tage später hatte das Warten ein Ende. Das ersehnte Individuum steckte zusammen mit einigen Rechnungen und einer Aufforderung meines Zahnarztes, doch wieder einmal zur Kontrolle meines Fünf unten links und Vier oben rechts zu erscheinen, im Briefkasten. Es war ein rechteckiges, weisses Kuvert. Ganz schnulzenfilm-mässig schnupperte ich an dem Umschlag, um vielleicht noch einen Hauch des Lieblingsaftershaves des Absenders wahrzunehmen. Doch wie vorauszusehen, haftete dem Brief nur der typische Papiergeruch an.
Ungeduldig riss ich ihn auf, während ich die Stufen zu meiner Wohnung hochging. Ich zog ein Foto und einen Din-A 4 Bogen heraus. Auf dem Foto war ein Mann in Lederkombi auf einem Motorrad zu sehen. Da er einen Helm trug, war sein Gesicht nicht zu erkennen. Es hätten ebenso gut Brad Pitt oder Norbert Blüm sein können.
Ich schloss die Wohnungstür auf, schmiss meine Handtasche in die Ecke und überflog den Text. Mein Brief hatte Stefan gefallen und er wollte mich unbedingt kennen lernen. Als Treffpunkt schlug er ein Restaurant in seiner Stadt vor und bat mich, ihn anzurufen, um Datum und Urzeit zu bestätigen.
Wow! Ich liess mich erst einmal auf meine Couch fallen. Das hörte sich vielversprechend an. Bevor ich zum Hörer griff, überkam mich plötzlich die Lust, in irgendetwas Süsses zu beissen, als Nervennahrung sozusagen. Und zu was würden die sportlichen Mädels aus der Werbung greifen? Na klar, zur Yoghurette, die war angenehm leicht und schmeckte nach Yoghurt und Erdbeeren. Aber ich biss lieber in eins von diesen kalorienreichen Dingern, die dafür sorgten, dass in Peru bald die Klöster mangels Neuzugängen schliessen mussten, und dass in Amerika die alten Indianer nicht mehr sterben wollten. So ein Schokoriegel, den ich bevorzugte, machte voll mobil und gab mir die nötige Kraft und Energie, die ich für den bevorstehenden Telefonanruf brauchte. Trotzdem hatte ich ein mulmiges Gefühl im Bauch, als ich kurz danach die angegebene Nummer wählte.

Einige Abende später stand ich frisch gestylt vor dem besagten Restaurant. Ich hatte am Nachmittag frei gehabt und mich intensiv der Schönheitspflege gewidmet. Das volle Programm hatte ich durchgezogen, angefangen mit Vollbad, Ganzkörperpeeling und Enthaarung, gefolgt von Kurpackung für die Haare, Maske fürs Gesicht, bis hin zur Maniküre und Pediküre. Wenn die Produkte wirklich hielten, was die Hersteller auf den Verpackungen versprachen, dann konnte am Abend gar nichts mehr schief gehen. Ich musste aber auch ein Bild für die Götter abgegeben haben, wie ich in der Wanne gelegen hatte (mit Algenzusatz wohlbemerkt) Alufolie um den Kopf gewickelt und einer blauen Zementschicht im Gesicht. Selbst mein Hund, der kurz seine Nase zur Badezimmertür hereingesteckt hatte, war erschrocken zurückgewichen. Dieser Zombie in der grünen Pampe konnte unmöglich sein Frauchen gewesen sein. Auf jeden Fall hatte sich der ganze Aufwand gelohnt, mein Haar fiel mir in einer duftigen Wolke über die Schultern, und meine Haut war zart wie ein Pfirsich. Hoffentlich hatte ich nicht irgendwo etwas von dem Algenschleim übersehen!
Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und an meinen Handflächen klebte der Angstschweiss, als ich das Restaurant betrat. Aber es nützte nichts, ich hatte mir die Suppe freiwillig eingebrockt, und nun musste ich sie auch auslöffeln. Suchend blickte ich mich um. Kein einzeln sitzender junger Mann, der mit schmachtendem Blick den Eingang sondierte. Aber ich war ja auch eine viertel Stunde zu früh gekommen. Ich nannte dem Kellner meinen Namen und liess mich von diesem an den für uns reservierten Tisch führen. Mit der Tür im Blickfeld begann ich die Speisekarte, die der Kellner mir zusammen mit einem Glas Weisswein gebracht hatte, zu studieren. Nervös blickte ich immer wieder zum Eingang. Da – konnte er das sein? Ein junger Mann mit schulterlangen Haaren betrat das Restaurant, ging aber zielstrebig auf einen Tisch zu, an dem bereits eine Gruppe junger Leute sass. Ich konzentrierte mich wieder auf die diversen Steaks und überlegte, ob ich mir die Kaloriensünde „Sauce Bernaise“ genehmigen sollte oder vielleicht doch lieber nur gebratene Zwiebeln. So merkte ich nicht, dass jemand an den Tisch gekommen war.
Erst als eine Stimme sagte: „ Ich wusste, dass ich dich sofort erkennen würde“, blickte ich von der Karte auf – und direkt in Stefans braune Augen. Ich brachte zunächst einmal nur ein Lächeln zustande. Dann sagte ich etwas so Einfallsreiches wie: „Hi, setz dich doch, ich überlege gerade, was ich essen soll.“
Stefan zog seine Lederjacke aus und hängte sie über den Stuhl.
„Wartest du schon lange?“, versuchte er ein Gespräch anzufangen, während er sich hinsetzte.
„Nein vielleicht zehn Minuten oder so“, antwortete ich.
Nach einer kurzen Anlaufphase, in der wir die üblichen Höflichkeitsfloskeln austauschten, um beide unsere Verlegenheit zu überspielen, unterhielten wir uns angeregt. Nur als der Kellner unser Essen brachte, später die leeren Teller wieder abräumte und die Nachtischbestellung aufnahm, unterbrachen wir unser Gespräch. Während dieser Unterhaltung erwähnte Stefan auch zum ersten Mal den Namen von seiner Ex - „Daniela“. Er erzählte mir, dass das Restaurant, in dem wir gerade sassen, ihr Lieblingsrestaurant gewesen war, und dass sie hier fast jedes Wochenende zusammen gegessen hatten. Tja, was sollte man dazu sagen, das war natürlich der ideale Ort, für ein Rendevouz. Ich schluckte den bissigen Kommentar, der mir auf der Zunge lag hinunter.
Es war nicht das letzte Mal, dass ihr Name an diesem Abend fiel. Sie hatte ihn Hals über Kopf verlassen und er musste wohl ordentlich daran zu knabbern gehabt haben.
„Ärgere dich nicht“, versuchte ich ihn zu trösten. „Da kommt bestimmt noch etwas Besseres nach.“
„Ja, vielleicht hast du Recht“, sagte er und schaute mir dabei tief in die Augen.

Nach dem Essen gingen wir noch tanzen. Stefan war ein sehr guter Tänzer, und wir amüsierten uns prächtig. Als der DJ ein langsames Lied auflegte, tanzten wir engumschlungen und bewegten uns langsam zum Takt der Musik. Es war der schönste Moment des bisherigen Abends. Er hatte nur einen kleinen, bitteren Nachgeschmack, nämlich als Stefan mir ins Ohr flüsterte: „Mm, du riechst so gut. Du benutzt das gleiche Parfüm wie Daniela.“

Später begleitete er mich zu meinem Auto, wo ich eigentlich die obligatorische Frage erwartet hätte: „Fahren wir zu dir oder zu mir?“
Er nahm jedoch nur meine Hände in seine und schaute mich mit seinen schönen braunen Augen an. Ich muss schon zugeben, dass in diesem Moment in meinem Bauch so an die hundert Schmetterlinge aus ihren Larven schlüpften und aufgeregt hin und her flatterten. Ein wohliges, warmes Gefühl durchströmte meinen Körper.
„Es war ein schöner Abend, ich würde dich gerne wiedersehen.“ Er strich mir mit der Hand zärtlich über die Wange.
„Darf ich dich küssen?“ Er fragte tatsächlich vorher. Ich nickte stumm und dachte nur, was es doch für eine gute Idee gewesen war, dass ich mein Odol-Fresh-Mundspray eingesteckt und bei meinem letzten Toilettenbesuch auch noch in weiser Voraussicht benutzt hatte. Nicht auszudenken, wenn er jetzt die gerösteten Zwiebeln schmecken würde, für die ich mich vorhin aus Vernunftgründen, die das äusserliche Erscheinungsbild meiner Hüften betrafen, entschieden hatte. Langsam näherte sich Stefan meinem Gesicht und berührte meine Lippen, erst zaghaft und dann ganz leidenschaftlich.
„Mm, das macht Lust auf mehr“, flüsterte er mir ins Ohr. „Wann sehen wir uns wieder?“
Warum trennen wir uns überhaupt?, wollte ich ihm am liebsten entgegenrufen. Nach sechs Monaten der Männerlosigkeit wies ich ein beträchtliches Defizit an Komplimenten, Zärtlichkeiten und sonstigen körperlichen Betätigungen auf und war süchtig nach jeder noch so kleinen Aufmerksamkeit. Aber ordentliche Mädchen gingen nicht gleich am ersten Abend mit fremden Männern ins Bett - sie warteten bis zum zweiten.

Während der Woche telefonierten wir fast jeden Tag miteinander. Ich konnte es kaum erwarten, bis endlich wieder Wochenende war. Wir wollten zuerst ins Kino gehen und danach noch einen Absacker in Stefans Wohnung nehmen. Von dem Film bekamen wir nicht viel mit, weil wir ungefähr ab dem zweiten Drittel mit anderen Dingen beschäftigt waren. Ich schwebte irgendwo unter der Kinodecke auf einer rosaroten Wolke, von der ich nur einmal kurz und unsanft hinunterplumpste, als Stefan durch meine lange Mähne fuhr und murmelte: „Warum schneidest du nicht deine Haare ab und färbst sie blond. Daniela hatte auch erst lange Haare und hat sie dann abgeschnitten. Das Kurze stand ihr viel besser.“ Irgendwo weit drinnen in den hintersten Windungen meines Gehirns begann ganz schwach ein Alarmlöckchen zu bimmeln. Doch es war nicht laut genug, um seinen warnenden Zweck zu erfüllen – noch nicht.

Als der Film zu Ende war, fuhren wir zu seiner Wohnung. Bereits im Fahrstuhl fingen wir an, uns wild zu küssen. Wir pressten unsere Körper aneinander, und meine Hand ertastete die harte Wölbung in seiner Hose. Mein lieber Scholli, der Junge war aber gut gebaut.
Lächelnd dachte ich an die Familienpackung Verhüterlis, die in der Dunkelheit meiner Handtasche nichtsahnend ihrem Einsatz entgegenschlummerte. Ich stellte mir vor, wie ich einen davon seinem besten Stück überstreifen würde. Frau von heute wollte schliesslich in allen Lebenslagen vorbereitet sein! Nachdem der Fahrstuhl mit einem kleinen Ruck seine Ankunft in der dritten Etage angezeigt hatte, öffnete sich quietschend die Tür. Die Münder noch immer wie Saugnäpfe aufeinander gepresst, bewegten wir uns in Richtung des Wohnungseingangs. Während Stefan mit der einen Hand den Schlüssel ins Schloss steckte, zog er mit der anderen meine Jacke von den Schultern. Dann begann er, die Knöpfe meiner Bluse zu öffnen und liess auch diese hinter mir auf den Boden fallen. Ich, meinerseits zog ihm den Pullover über den Kopf und begann am Reisverschluss seiner Jeans zu nesteln. „Warte, ich schliesse erst auf,“ murmelte er und öffnete die Tür. Er zog mich in das dunkle Wohnungsinnere und begann wieder, mich zu küssen.
Dann drückte er auf den Lichtschalter. Das Alarmglöckchen von vorhin nahm in Null Komma nichts das Ausmass einer riesigen Glocke an und begann lautstark in meinem Kopf zu schrillen. Was sich hier meinen Augen darbot, verschlug mir schlicht und ergreifend den Atem. An sämtlichen Zimmerwänden hingen lebensgrosse Fotos und Zeichnungen eines hübschen, kurzhaarigen, blonden Mädchens – Daniela. Das konnte nur sie sein, die Beschreibung passte absolut. Daniela nackt auf dem Bett, Daniela an einem See, Daniela auf dem Motorrad, ihr Gesicht in Grossaufnahme. Ich hatte mich von Stefan gelöst und starrte mit offenem Mund auf dieses Gruselkabinett. Jetzt fehlte nur noch der Altar mit ihrem Foto und einer brennenden Kerze, vor dem er morgens, mittags und abends knien würde.
„Wo ist das Bad?“ fragte ich mit belegter Stimme und registrierte gerade noch aus den Augenwinkeln heraus, wie er die Wohnungstür von innen verschloss und den Schlüssel in die Tasche seiner Jeans steckte, bevor ich hinter der angezeigten Tür verschwand.

Aufatmend liess ich mich auf dem Klodeckel nieder und schaute, wer hätte das wohl vermutet, in Danielas blaue Augen. Ein Grossformat von ihr im Bikini am Strand lachte mir von den beigefarbenen Kacheln entgegen. An der Innenseite der Tür hing ein hauchdünnes Nachthemd mit Spaghettiträgern und auf der Spiegelablage befanden sich neben Rasierzeug und Aftershave Schminkutensilien und das Parfüm, dass auch ich benutzte. Es sah so aus, als ob die gute Daniela von heute auf morgen die Wohnung verlassen und noch nicht einmal ihre persönlichen Sachen mitgenommen hatte. Ich versuchte, das Durcheinander in meinem Kopf zu ordnen. Wie kam ich jetzt aus dieser Nummer wieder raus? Denn dass der Kerl einen psychischen Knacks hatte, war unübersehbar. Ich sass in der Falle. Warum war ich nur vorher so verblendet gewesen? Wenn ich es mir genau überlegte, hatte er mir doch ständig von Daniela vorgesülzt. Auf jeden Fall war jetzt Vorsicht geboten, wer weiss, was der sonst alles mit mir anstellte. Meine Fantasie lief auf Hochtouren – hätte ich doch nur nicht so viele Mary-Higgins-Clark-Krimis gelesen. Zunächst einmal zog ich die Toilettenspülung ab.
„Alles klar bei dir?“ hörte ich seine Stimme.
„Ja, alles in Ordnung, hab wohl zuviel Popcorn gegessen“, beeilte ich mich zu rufen. Mir musste unbedingt etwas einfallen, wie ich wieder aus der Wohnung herauskam.
Plötzlich hatte ich eine Idee. Ich kramte mein Handy aus der Handtasche und wählte Isabels Nummer. Hoffentlich schlief sie noch nicht. Ich drehte den Wasserhahn auf, damit Stefan nichts von unserem Gespräch mitbekommen würde. Nach dem vierten Klingelzeichen nahm sie ab.
„Isabel, sag jetzt nichts, hör einfach nur zu“, raunte ich ins Telefon und erklärte ihr kurz und knapp die vertrackte Situation. „Du musst Stefan auf seinem Handy anrufen und ihm irgendwie glaubhaft machen, dass Daniela einen Unfall hatte oder irgendetwas in der Richtung, um ihn aus der Wohnung zu locken. Ich weiss nicht, wie das sonst hier ausgeht."
Ich steckte das Handy wieder in meine Tasche, betätigte erneut die Toilettenspülung und betrat die Höhle des Löwen, bzw. des Psychopaten.
„Bist du wieder okay?“ Sofort wollte Stefan dort weitermachen, wo wir nach dem Lichtanknipsen aufgehört hatten.
„In meinem Bauch grummelt es noch ein bisschen. Hast du vielleicht einen Kamillentee?“, fragte ich, um Zeit zu gewinnen.
„Äh, ja,... ich schau mal im Küchenschrank nach.“
Gerade, als ich ihm in die Küche folgen wollte, klingelte sein Handy – gelobt und gepriesen seiest du, Isabel!
„Was ist passiert? ...Wo ist sie? ... Ja, das kenne ich... Bin in fünfzehn Minuten da.“ Er schaltete das Handy aus und zog den Schlüssel aus seiner Hosentasche.
„Ich muss sofort ins Krankenhaus, Daniela hatte einen Unfall, sie braucht mich jetzt. Ich ruf dich an. Wenn du gehst, zieh einfach die Tür hinter dir ins Schloss.“ Kaum hatte er den Satz beendet, war er auch schon zur Wohnungstür hinaus verschwunden.
Ich liess einen Mega-Seufzer los. Puh, das war noch einmal gut gegangen. Jetzt aber nichts wie raus aus diesem Daniela-Gruselkabinett.

Morgen würde ich Isabel eine Flasche Sekt spendieren. Wir würden uns lachend ausmalen, wie Stefan vergeblich das gesamte Krankenhaus nach seiner Verflossenen abgesucht hatte, und wer weiss, vielleicht hielt ich sogar irgendwann einmal ein Schwätzchen mit Daniela.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Blanca

Der erste Satz hat mich davon überzeugt, dass es sich vielleicht doch lohnen könnte, diese etwas länger geratene Geschichte zu lesen ;)
Und ich wurde nicht enttäuscht. Vom Stil her halte ich den Text für einen deiner besten, ohne die anderen herabsetzen zu wollen...

Bloß inhaltlich passt mMn nicht alles so ganz zusammen. Die erste Hälfte hat mir sehr gut gefallen, etliche Stellen zum Schmunzeln, wunderbar beschrieben die Partnersuche.
Aber ab dem Augenblick, als Stefan das Lokal zum Rendevouz betritt, schlägt die Stimmung um.
Der Humor scheint immer wieder durch, und verhindert, dass die Sache wirklich gruselig wird. Die romantischen Stellen sind dir mMn gut gelungen, ganz ohne Kitsch, aber für den richtigen Grusel fehlt der letzte Funken, ich hätte da erwartet, dass er sie noch zwingt, die Kleider seiner Ex anzuziehen etc., im Moment hat man ja fast Mitleid mit Stefan, er wirkt eher wie der schusselige anhängliche Verlassene, nicht wirklich bedrohlich ;)
Falls es dir auch gar nicht ums Gruseln ging, hättest du das vielleich mit ein paar mehr eingestreuten Schmunzlern an den "Gruselstellen" klarstellen können.
So hatte ich das Gefühl, dass der Story am Ende etwas die Puste ausgeht bzw. der letzte Feinschliff fehlt, obwohl ich die Idee mit dem Anruf sehr gut finde.

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Hallo Wolkenkind,
danke, dass du bis zum Schluss durchgehalten hast. Die Geschichte ist ein etwas veränderter Auszug aus einem angefangenen Roman, den ich gerade in "einzelne Stücke zerlege". "Sag niemals nie" ist auch so ein Einzelstück daraus.
Richtig gruselig sollte es eigentlich auch nicht sein. Der Titel ist eh nur eine Notlösung. Mir ist bisher einfach nichts besseres eingefallen. Wenn du einen Vorschlag hast, nur her damit! :D
Die Idee, dass er sie zwingt, Danielas Kleider anzuziehen, gefällt mir. Ich hätte den Schlussteil sowieso noch gerne etwas verlängert, hatte aber Angst, dass die Geschichte dann einfach zu lang wird. Auf jeden Fall denke ich auch, dass ich den Teil in Stefans Wohnung noch etwas ausschmücken muss.:baddevil: :D

Liebe Grüsse
Blanca

 

Hi Blanca!

Die Story gefällt mir - witzig, spritzig, unterhaltsam. Wenn ich mal wieder die Nase von Männern voll habe (was nie lange anhält ;-), sind solche Geschichten genau das, was mir die schlechte Laune nimmt.
Kennst Du vielleicht die Bücher von Gaby Hauptmann, Eva Heller oder Franziska Stalmann? - Könnten Dir jedenfalls zusagen.
Das Ende ist schon ziemlich absurd ... Ich kenne einen Mann, der nach dem Tod seiner Frau alles mit ihren Fotos tapeziert, Altäre in seiner Wohnung errichtet und vor seinem Haus eine Statue von ihr aufgestellt hat - aber das ist wohl auch ein absoluter Sonderfall, deswegen kam da für mich ein kleiner Bruch, weil alles vorherige zwar in überzogener Weise, aber dennoch sehr realitisch erzählt wurde.
Trotzdem: Die Story hat mich gut unterhalten und ich habe sie sehr gern gelesen. :-)

Ginny

 

Hallo Ginny,
vielen Dank für Deine positive Kritik. Ja, Gaby Hauptmann und Eva Heller kenne ich, ihre Bücher sind echt cool. Franziska Stalmann sagt mir nichts. Kannst Du eines ihrer Bücher besonders empfehlen? Kennst Du Annegrit Arens oder Britta Blum? Die sind auch witzig zu lesen.

Hast Du vielleicht eine bessere Idee für den Titel meiner Geschichte?

LG
Blanca

 

Hallo Blanca!

Wow, gefällt mir wirklich, die Story! Auch vom Stil her sehr schön und flott zu lesen! Ich fand sie aber überhaupt nicht gruselig, vielmehr irre komisch... ;) Und als komisch gemeinte Geschichte hat sie bei mir auch voll eingeschlagen... :)

Grüßle,
stephy

 

@Blanca: Ich empfehle Dir "Champagner und Kamillentee" von F. Stalmann - dieses Büchlein hat mich erst auf die anderen Autorinnen wie Hauptmann oder Heller aufmerksam gemacht. Obwohl ich's immer wieder aus der Bücherei ausgeliehen habe, hab ich es mir jetzt endlich auch noch selber zugelegt ... zaubert meine schlechte Laune fast immer weg. :D

Zum Titel: Also, mir gefällt er und in "Alltag" sollte sowieso niemand eine wirkliche Horrorgeschichte erwarten. ;-)

Allerdings hab ich ihn zu Beginn eher auf Carinas mögliche Bekanntschaften gemünzt, dazu würde er wirklich gut passen - die Episode mit ihrem Blind Date kommt ja erst spät am Ende und das "Daniela-Gruselkabinett" fast ganz zum Schluss ... vielleicht wäre etwas allgemeineres passender, etwas, das sich auf die gesamte Geschichte bezieht. <grübel>

Wenn mir etwas einfällt, lass ich's Dich wissen, vielleicht hab ich diese Nacht einen Geistesblitz. <g>

Ginny (die eigentlich gar nicht da ist, weil sie an ihrer Uniarbeit werkelt)

 

So, die Nacht ist vorrüber - und ein Geistesblitz ist mir nicht gerade gekommen. Wie wäre es mit: "Männersuche"?
Schon gut, is' nich' der Bringer. :dozey:

 

Hallo Ginny,
danke für den Tipp, aber wie Du schon selber sagtest, der Bringer ist es auch nicht.
Mir ist noch "Singles leben gefährlich" eingefallen. Aber auch das haut mich noch nicht vom Hocker, oder wie findest Du "Der missglückte Versuch"?
Hm, schwierig, schwierig. :confused:
Oder wie hört sich "Für immer Single?"an?
Na ja, irgendwann fällt mir schon noch was ein.

LG
Blanca

 

Hallo Stephy,
hätte ich doch vor lauter Titel-suchen Deinen Beitrag fast vergessen.
Danke fürs Lesen. Also wie gesagt, gruselig sollte die Geschichte auch nicht sein, das liegt nur an dem blöden Titel, wobei wir wieder beim Thema wären. :D
Falls Dir noch was Besseres einfällt, nur her damit.

LG
Blanca

 

Wie wärs mit "Suche Trost, biete Kummer", oder "Rendevouz mit einem Geist", "Überraschung inklusive" "Double gesucht"... :D

Übrigens wäre Goethe mit seinen Knabenmorgenblütenträumen sicherlich neidisch auf deine Märchenhochzeitsseifenblasenträume ;)

 

Hallo ihr,
danke für die Vorschläge. Also "Suche Trost, biete Kummer". Ich weiss nicht so recht. Warum biete Kummer?
Unter biete Kummer würde ich verstehen, dass Carina dann anderen Kummer bereitet, und das tut sie ja nicht. Oder wie soll das interpretiert werden?
"Überraschung inklusive" finde ich nicht schlecht.
Mir war noch "Glück gehabt" eingefallen. Was haltet ihr davon?
@Wolkenkind: Danke für den Vergleich mit Goethe. :D

LG
Blanca

 

Naja, das soll eher scherzhaft gemeint sein ... aus der Sicht eines verlassenen Singles, der Carina gerade geworden ist.
Du findest schon was Passendes. :-)

 

Das "Suche Trost, biete Kummer" war natürlich auf Stefans Annonce bezogen, da ja beides auf ihn zutrifft ;)

 

@wolkenkind: Aaahhh, *sichdasbrettvomkopfwegreiss*
Jetzt hab ich kapiert, wie du das gemeint hast.:idee:
Unter dem Gesichtspunkt nicht schlecht. Frage mich nur, ob zukünftige Leser vielleicht dann auch so eine lange Leitung haben wie ich.:D
Da fällt mir gerade ein:" Suche Trost - biete Frust.
Wie findest Du das?
Auf jeden Fall hast Du mir ein paar Denkanstösse vermittelt.*diekreativitätankurbelunddannzupapierbringmaschineanschmeiss* :D

Schönes Wochenende
Blanca

 

Hallo Blanca!
Eine schöne, lustige, frische Geschichte. Hat mir sehr gut gefallen. Leider ist mir kein Titel dazu eingefallen, ausser "Chiffre 112 aufgedeckt" (ist wohl nicht so toll. Werde aber noch über ein anderen Titel nachdenken *grübel*


Einige Abende später stand ich frisch gestylt vor dem besagte Restaurant.
(besagten)


Mit der Tür im Blickfeld begann ich die Speisekarte, die der Kellner mir zusammen mit einem Glas Weiswein gebracht hatte, zu studieren.
(Weisswein)

LG Ulrike

 

Hallo Ulrike,

danke fürs Lesen und das Aufmerksammachen der zwei Fehler. Mit deinem Titelvorschlag hast Du mich auf eine Idee gebracht. Wie wäre es denn damit?
"Chiffre 112 - suche Trost, biete Frust" :idee: :D
Auf jeden Fall kommen wir der Sache schon näher.

LG
Blanca:)

 

Klingt gut. Hatte zuerst gedacht: nee paßt nicht. Aber nach nochmaligem Überlegen ist es wirklich eine gute Idee!!! Hehe

LG ulrike

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom