Chemischer Basenaustausch
Grelles Licht erhellt die Dunkelheit. Klipp, das Badezimmer ist erhellt. Bedächtig und gewissenhaft nähert sie sich dem Schrank. Zielsicher sucht sie die Rasierklingen ihres Freundes. Lieber hätte sie die Klingen ihres Mannes gesucht, aber wenn sie einen Mann hätte, würde sie nicht nach Rasierklingen suchen müssen. Aber so...
Da, endlich erspüren ihre Finger das kalte Metall. Vorsichtig wie etwas Heiliges nimmt sie eine Klinge heraus. Wie schön sie im Licht schimmert. Konzentriert geht es weiter. Die Tür wird abgeschlossen, die Pulsadern freigemacht und die Position will gut gewählt sein. Vor dem Waschbecken ist es am Besten, das gibt am wenigsten Sauerei. Denn Mühe will sie keinem machen, das hat sie schon zu oft gemacht. Ihr Atem geht schwer und ihre Gedanken sind ausgesprochen klar und deutlich. Kein Nervenflattern, nur dieses glückliche Gefühl im Bauch, dass sie es bald geschafft hat, dass bald alles vorbei sein wird. Wie wird es wohl sein? Wird sie nachher noch denken können, was ist der letzte Gedanke, bevor alles schwarz wird? Sie denkt an ihn, an den, der ihr alles versprochen hat und es dann doch nicht einhalten wollte. Schon vorher gab es Versprechungen, doch diese war anders. Ein letztes Mal hatte sie sich aufgerafft, daran zu glauben. Zu glauben, dass sie jemand wirklich so liebt, wie sie ist. Egal, sie will nicht mehr nachdenken, denn ihre Augen füllen sich schon wieder mit Tränen. Ein Blick in den Spiegel, vor ihrem geistigen Auge sieht sie ein kleines Kind, noch nicht voll entwickelt. Ihr eigen Fleisch und Blut. Sie sieht, wie ihm die Arme herausgerissen werden, seine Beinchen zerplatzen in tausend Stücke und aus seinem kleinen Köpfchen quillt Gehirnmasse hervor. Es schreit nicht, kein Laut kommt aus seinem süssen Mund. Wie auch, es kann noch nicht schreien, aber es lebt. Sie sieht sich daneben stehen, einfach zuschauen ohne etwas zu unternehmen. Machtlosigkeit oder Kaltblütigkeit? Es macht für das fleischliche Wesen keinen Unterschied, wenn es in Fetzen gerissen wird. Weg mit dem Bild, sie will es nicht mehr sehen, erträgt es nicht mehr. Wie sehr wünschte sie sich ein Kind, eine Familie, doch sie wird nie im Leben Mutter werden. Nach der Abtreibung hat sie gedacht, es ginge. Ihr neuer Freund gab ihr die Hoffnung, die Hoffnung endlich geliebt zu werden. Endlich Mutter sein zu können. Doch wie die anderen nahm auch er seine Worte nicht so ernst. Gestern sagte er zu ihr, er würde sie nicht mehr so lieben wie am Anfang, weil sie immer so traurig sei. Du Arsch, überleg doch mal, warum sie so ist. Eine Frage und ihr Leben wäre wieder lebenswert. Doch niemand stellt ihr diese Frage, auf alle Fälle nicht so lange sie so traurig ist. Er sieht den Kreislauf nicht und sie kann ihn nicht durchbrechen. Die Klinge fühlt sich vertraut an. Tief durchatmen, Augen schliessen, nein zuschauen. Sie hat Angst. Aber die Angst vor der Zukunft ist grösser. Eins, zwei und mit allem Mut, der ihr noch geblieben ist, zieht sie durch. Warmes Blut spritzt heraus, strömt ins Waschbecken. Ihr wird schwindelig, doch Angst hat sie keine mehr. Langsam wird es immer schwärzer, sie sinkt zu Boden und ihre Lippen formen sich zu einem glücklichen Lächeln. Endlich frei.