Chemieman und der Sänger mit der Todesstimme
Chemieman und der Sänger mit der Todesstimme
Das Fichtegymnasium. Nach außen hin eine ganz normale Schule: Gelangweilte Schüler, desinteressierte Lehrer, ein mürrischer Hausmeister, überteuertes Pausenessen, eine ganz normale Schule eben.
Ganz normal? Wohl kaum, wenn man bedenkt, dass eben dieses Fichtegymnasium das geheime Hauptquartier des größten aller Superhelden ist: Die Rede ist vom CHEMIEMAN!
(Musik vom A – Team, man sieht den Chemieman durchs Bild fliegen)
Meister der Moleküle, Beherrscher der Ionen, Bezwinger der Van – der – Waals – Kräfte, Zerstörer der Wasserstoffbrücken und ganz nebenbei auch Chemielehrer, was ihm eine nützliche Tarnung ist. Wer würde schon einen Chemielehrer hinter dem Chemieman vermuten? Die perfekte Tarnung eben.
Tagsüber ist Herr Jungk ein Chemielehrer wie du und ich. Aber nachts wird er zu Young Jay, dem Chemieman. Sein Umhang ist im Kasten für die Löschdecke im Chemiepraktikum versteckt, da diese sowieso nie gebraucht wird; sollte jedoch einmal der unwahrscheinliche Fall eines Gebrauchs eintreffen, ist das kein Problem: Sein Umhang ist die Löschdecke.
Als Hauptwaffe dient ihm sein treuer Feuerlöscher, den er fast nie einsetzt, da der Rückstoß ziemlich stark ist.
Nebenwaffen sind hauptsächlich in an seinem Gürtel befestigten Reagenzgläsern zu finden.
Abgerundet wird seine Erscheinung durch eine Schutzbrille aus dem Chemiepraktikum. Wie der Name schon sagt, wird sie als Schutz benötigt,
(kein Versuch ohne Schutzbrille)
aber eigentlich trägt er sie nur, weil sie so cool aussieht. Außerdem wäre ein Held ohne verhülltes Antlitz ja kein Held.
Es ist nachts. Der Chemieman arbeitet im Chemiepraktikum. Er sortiert die Behälter für die Säuren und füllt sie bei Bedarf nach.
„Nanü?“, wundert er sich. „Wie kann denn die Schwefelsäure fast leer sein? Ich habe sie doch erst in zwei von vier Teilen gebraucht? Und das schon seit 30 Jahren. Es ist was faul im Staate Karlruh’.“
Der Chemieman stellt schnell etwas Schwefelsäure her, indem er Schwefelsäure mit Schwefeltrioxid und Wasser reagieren lässt. Dann verstaut er alles wieder fein säuberlich.
„Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen! Toooood und Verzweiflung, Tod und Verzweiflung flaaaaammet um mich her! Füüüühlt nicht durch diiiiich Sarastro Tode-esschmerzen, Sarastro To-odes-schmerzeeen, so bist du meine Tochter nimmermehr! So bist du mei – meine Tochter nimmermehr! Bla, bla, und so weiter und so weiter.“ Man konnte diesen Text meilenweit hören, gesungen von einer durchaus schönen Stimme. Und wenn ich meilenweit sage, meine ich wenige Meter, und wenn ich schöne Stimme sage, meine ich die schrecklichste Stimme, die man sich vorstellen kann. Mozart würde sich nicht nur im Grabe umdrehen – er würde den Sänger auch verklagen und den letzten Cent Schmerzensgeld aus ihm herauspressen.
„Ein Mädchen oder Wei-hei-hei-heibchen wünscht Papage-eno-o sich“
Mozart würde wahrscheinlich zusätzlich noch auf lebenslänglich plädieren – oder auf Wiedereinführen der Todesstrafe.
Der Sänger brach abrupt seinen Gesang ab. Und wenn ich abrupt sage, meine ich, dass er erst noch die gesamte Zauberflöte zu Ende gesungen hat.
„Chemieman“, presste er hervor. „Muss vernichten.“
Herr Jungk schrieb eine chemische Reaktion an die Tafel. Natürlich passte kein einziger Schüler auf. Auch keine von den Schülerinnen folgte dem Unterricht.
Plötzlich klirrte die Fensterscheibe, durch die seinerzeit die Mathematikus Feminus Pseudogenialus gekommen war, und das notdürftig mit Klebeband repariert worden war, und zerbarst. Aber anders als damals kam niemand hindurch. Auch die anderen Fenster zerbrachen eins nach dem anderen. Die Schüler schrieen verängstigt und versuchten, sich vor dem Scherbenschauer zu schützen.
Herr Jungk war in einem inneren Konflikt: Wenn er sich in den Chemieman verwandeln würde, wäre seine Geheimidentität nicht länger geheim – würde er es nicht tun, riskierte er das Leben seiner Schüler. Er war gerade noch am Überlegen, als eine Schülerin rief:
„Herr Jungk ist der Chemieman!“
Daraufhin sahen alle Schüler zu Herr Jungk und kamen langsam auf ihn zu.
„Herr Jungk ist der Chemieman, Herr Jungk ist der Chemieman“, sagten sie wie in Trance.
Herr Jungk sah in ihren Augen nichts Menschliches mehr; sie waren die Beute des Wahnsinns geworden.
Herr Jungk wachte schweißgebadet auf. Dann schlief er wieder ein, als ob nichts gewesen wäre.
Herr Jungk betrat das Chemiepraktikum. Auf einer Bahre lag Herr Hofbaum, offensichtlich tot. Sein Gesicht war weißer als ein Totenschädel. Plötzlich öffnete Herr Hofbaum seine Augen und richtete sich auf. Er führte seine Hand zu seinem Mund, öffnete diesen und holte eine weiße Perle hervor. Er hielt sie Herrn Jungk hin und fragte: „Warum lässt du’s nicht singen?“
Herr Jungk wachte auf.
„Moment mal“, dachte er sich. „Herr Hofbaum ... tot ... singen ... Ah, das kann ja nur bedeuten, dass ich es diesmal mit einem Sänger mit einer Todesstimme zu tun habe. Nun denn, frisch ans Werk. Das wird der schwierigste Gegner, mit dem ich es bisher zu tun bekommen habe. Das bedarf akribischer Vorbereitung.“
Das Dach des Hintergebäudes des Fichtegymnasiums ... ein beliebter Ort für Showdowns.
Young Jay stand mit wehendem Umhang vor dem Rückgebäude. Es war natürlich nachts.
Alles war dunkel; plötzlich erschienen ganz viele Sterne und ein Halbmond am Himmel.
„Aaah, der Sänger mit der Todesstimme ...“,sagte Young Jay unbestimmt.
„Ich bevorzuge den Begriff Todsänger“, antwortete die neu aufgetretene Gestalt.
„Wie auch immer“, murmelte der Chemieman. Dann flog er auf das Dach.
„Komm schon“, rief er, als der Todsänger immer noch auf dem Boden stehen blieb.
„Wir sind schon fast am Ende, du solltest dich beeilen.“
„Das geht nicht. Du kannst fliegen, ich nicht!“
„Ha, ha, nun, so wird der Sieg mein sein!“, rief Young Jay.
„Nicht so schnell, Young Jay ... oder sollte ich vielleicht besser sagen: Chemieman?“
Und mit diesen Worten begann der Todsänger, eine Tonleiter zu singen. Als er damit fertig war, lehnte er sie an das Rückgebäude und stieg Stufe für Stufe hoch. Oben angekommen begrüßte ihn der Chemieman:
„Na, doch noch geschafft? Gar nicht so dumm, die Idee mit der Leiter. Doch nun ...“
„Moment, das kenne ich. Du sagst jetzt „... hier“ und greifst mich dann an. Nicht mit mir mein Freund!“
„Verdammt, bin ich so durchschaubar?“
Doch anstatt zu antworten sang der Todsänger ein paar Obertöne und ließ sie auf Young Jay hinunterprasseln. Dieser wich dank seiner Schwefelsäure geschickt aus.
„Nun“, sagte der Todsänger, „du magst Kapriolen schlagen, doch ich schlage Triolen (an).“
Kaum hatte er es ausgesprochen, da sang er auch schon die trommelfellzerreißendsten Triolen.
Young Jay musste sich beide Ohren zuhalten und war nun vollkommen schutzlos.
Der Todsänger setzte noch einen drauf, in dem er mehrere Synkopen schnell hintereinander herträllerte.
„Uuuuaaaaah genug!“, rief der Chemieman.
„Genug? Ich sage, wann es genug ist. Und jetzt ist es noch nicht genug.“
Daraufhin schmetterte er einen Akkord, gefolgt von einem Ostinato.
Young Jay hatte der Wucht des Ostinatos wenig entgegenzusetzen und ging zu Boden.
„Der Physikus war ein Idiot. Die Chemie ist gegen jede Naturwissenschaft gefeit – sogar gegen sich selbst. Aber endlich hat er erkannt, dass man die Chemie mit nichtwissenschaftlichen Fächern bekämpfen muss und vor allem kann. Komm schon, Chemieman. Wo sind deine chemischen Spielereien? Willst du nicht schnell zwei Substanzen miteinander reagieren lassen? Oder eine Polymerisation durchführen? Sieh dich an: Du hast die Physik, Mathematik und die Chemie in die Knie gezwungen, aber nun bist du es, der sich der Musik beugen muss.“
„Beugen ...“, sagte Young Jay, mehr zu sich selbst. Obwohl er es ja nicht hören konnte, da er sich noch immer beide Ohren zuhielt.
„Beugen!“, rief er dann auf einmal. „Was ein Fehler, du Sänger, du! Du hättest daran denken sollen, dass du dem Held nichts mehr sagen sollst, wenn du ihn fast besiegt hast. Denn dass könnte ihn auf den rettenden Gedanken bringen; so wie jetzt eben. Merk es dir fürs nächste Mal!
Die Musik hängt sehr stark mit der Physik und der Mathematik zusammen, und also kann ich ein Mittel gegen sie finden!“
„Verdammt, wieso vergesse ich jedes Mal die wichtigste Regel für Bösewichte?!“, ärgerte sich der Todsänger.
„Es ist aus! Hier kommt mein vernichtender Schlag“, rief Young Jay. Er vollführte seinen vernichtenden Schlag.
Der Todsänger aber wurde nicht getroffen.
Young Jay sah verblüfft auf eine Stelle zwei Meter neben dem Punkt, an dem gerade eben noch der Todsänger gestanden hatte. Dieser holte nun eine kleine Flasche aus seinem Umhang hervor.
„Na, alter Mann, kommt dir das bekannt vor?“
„Was zur Hölle ...?“
„Das solltest du doch wissen. Schwefelsäure? Katalysator? Nein?“
„Was? Nein, ich meine, was zur Hölle ist das für eine Flasche?“
Der Todsänger sah sie an. Dann den Chemieman. Dann sagte er:
„Eine ganz normale?“
Young Jay lachte auf.
„Na, dann, viel Spaß.“
„Oh, nein, bidde net! Net so ’n doofes Ende, dass ich einfach an Verätzung von Schwefelsäure sterbe.“
„Nee, nee, des wär ja plöt! Du stirbst daran, dass du denkst, du würdest an Verätzung durch Schwefelsäure sterben. Während du dir noch so deine Gedanken machst, führe ich meinen vernichtenden Schlag aus.“
„Ach so, dann is’ ja gut.
Hm, ich frage mich, ob ich durch diese Schwefelsäure hier sterben werde ...“
Young Jay vollführte seinen vernichtenden Schlag und ... nun ja, vernichtete seinen Gegner.
„Hm, das war ja gar nicht so schwer, wie ich gedacht habe. Aber was soll’s? Ich werd’ mich sicher nicht darüber beschweren.“ Er sah auf seine Uhr. „Na, toll, hab’ überzogen wegen diesem Trödler!“
Und mit diesen Worten stieß sich der Chemieman vom Dach ab und flog dem Mond entgegen.
„I’m a very lonely Chemieman ...“