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Chefsache
Markus wachte auf und hatte nur eine Sekunde später die Brechstange in der Hand. War da eben ein zögerliches Klopfen an seiner Wohnungstür gewesen, oder hatte er das nur geträumt? Er setzte sich auf und lauschte.
Was er hörte, kam jedoch nicht aus Richtung der Wohnungstür, sondern es waren weiter entfernte Geräusche einer im Chaos versinkenden Stadt, die durch die Fenster in die Wohnung drangen. Ängstliche oder bedrohliche Rufe, die gespenstisch durch die Häuserschluchten Berlins hallten. Hin und wieder ein Klirren, ein Scheppern, ein Krachen. Ein lauter Knall wie von einer Schusswaffe. Markus fragte sich, ob sie noch von einem Polizisten abgefeuert wurde, beim Versuch, die Ordnung aufrecht zu erhalten, oder schon von Plünderern, um sich nach dem Recht des Stärkeren durchzusetzen. Ohne Telefon, Radio, Fernsehen und Internet wusste niemand, wie schlimm die Lage wirklich war. Ob die Regierung überhaupt noch handlungsfähig war und der Strom jemals wiederkommen würde, warum er überhaupt weg war.
An der Tür hingegen blieb es weiterhin ruhig, doch Markus traute seinem Instinkt. Er schlich quer durch sein Wohnzimmer in Richtung Flur. In der ganzen Wohnung war es dunkel. Gleich am ersten Tag des Stromausfalls war Markus zwischen Keller und seiner Wohnung gependelt, um kistenweise Vorräte zu sich zu holen. Dabei hatte er viele verunsicherte Nachbarn im Hausflur getroffen, die herausfinden wollten, was denn los war und wann der Strom wieder angehen würde. Antworten auf ihre Fragen hatte er ihnen nicht liefern können, aber er hatte die Gelegenheit genutzt, um so vielen Leuten wie möglich zu erzählen, er packe für eine Reise aufs Land zu seiner Mutter, wo man nicht so sehr auf Strom angewiesen war.
Die heruntergelassenen Jalousien würden seine Geschichte bestätigen und seine bereits verstorbenen Mutter dürfte die Lüge nicht stören. Sie würde ihn vor Menschen schützen, denen langsam bewusst wurde, wie die Lebensmittel eigentlich in den Supermarkt kamen. Ja richtig, das geschah durch LKWs, die auf Treibstoff angewiesen waren, der durch elektrische Pumpen in ihren Tank gelangte. Die von Fahrern gelenkt wurden, die selbst auch eine Familie zu Hause zu ernähren hatten - und die jetzt andere Sorgen hatten, als zu arbeiten, oder sogar den LKW voller Lebensmittel lieber direkt vor ihrer eigenen Haustür parkten, statt vor der Laderampe eines Supermarkts.
Obwohl Markus seine Wohnung seitdem nicht mehr verlassen hatte, war er sich sicher, dass sämtliche Supermärkte, Lebensmittellager und Lieferwagen schon lange geplündert worden waren. Die Menschen wurden jeden Tag hungriger - seit die Wasserwerke nicht mehr pumpten auch durstiger - und würden sich unweigerlich irgendwann fragen, welcher ihrer Nachbarn vielleicht noch etwas übrig hatte.
Seit Jahren hatte Markus immer darauf geachtet, ausreichend haltbare Lebensmittel, Wasser, Medizin und Werkzeuge für den Ernstfall bereitzuhalten. Er hatte sich Wissen für das Überleben in jeglichen Notfallsituationen angeeignet. Aber letztendlich wohnte er in einer stinknormalen Berliner Wohnung und nicht in einer uneinnehmbaren Festung, so dass vor allem seine Tarnung zu seiner Überlebensstrategie gehörte. Und vorbereitet oder nicht: Markus hatte Angst. Er war kein Kämpfer, da draußen in der fortschreitenden Anarchie hatte er keine Chance.
Seine Geschichte, dass er nicht zu Hause war, durfte nicht auffliegen. Bedacht darauf, kein Geräusch zu machen, näherte er sich vorsichtig der Wohnungstür. Durch die Dunkelheit in seiner Wohnung war von außen nicht erkennbar, dass sich drinnen ein Auge vor den Spion schob, die Pupille geweitet.
***
Daniel hatte gerade noch überrascht feststellen können, dass einer seiner Mitarbeiter direkt bei ihm um die Ecke wohnte, bevor der Akku seines Firmenlaptops mit den Personaldaten darauf endgültig schlappgemacht hatte. Ein echter Glücksfall, denn die Daten genau dieses Mitarbeiters hatte er nicht wegen seines Wohnortes herausgesucht.
Bereits eine Viertelstunde später stand er nun vor dessen Haus und blickte an den Fenstern des elfstöckigen Gebäudes hinauf, als könnte er erraten, hinter welchem der vielen Fenster sich wohl seine Wohnung verbergen mochte. Ein sinnloses Unterfangen, denn dies war ein sehr großes Gebäude mit wahrscheinlich weit über 50 Wohnungen. Also suchte er stattdessen die Klingelfelder mit ausgestrecktem Finger ab und fand das Schild mit dem Namen Adler in einer Reihe, neben der "3. OG" stand, als er plötzlich eine Stimme hinter sich hörte.
"Kann ick dir helfen, Kumpel?", fragte eine Frau in einem Ton, der unmissverständlich deutlich machte, dass die Frage rein gar nichts mit einem Hilfsangebot zu tun hatte.
Daniel drehte sich um und schaute in ein furchiges Gesicht, das durch übermäßige Solariumsbesuche nicht nur tiefbraun gebrannt war, sondern seine Besitzerin wie 60 aussehen ließ, obwohl sie wahrscheinlich 15 Jahre jünger war. Falls die riesengroßen silbernen Reifenohrringe oder die erst vor kurzem pechschwarz gefärbten Haare dem Eindruck der vorzeitigen Alterung entgegenwirken sollte, funktionierte es nicht.
"Hey Meister, ick rede mit dir! Sieht 'nen Blinder mit'n Krückstock, dass du hier nich hinjehörst, also wat willste hier?", giftete sie und verschränkte die Arme vor der Brust.
Normalerweise würde sich Daniel mit solchen Menschen wie ihr gar nicht erst abgeben, aber "normal" war vor zwei Wochen zusammen mit der Elektrizität verschwunden. Außerdem musste er irgendwie in das Haus gelangen. Er beschloss, es mit seinem Charme zu versuchen, und setzte sein bestes Zahnpastawerbungslächeln auf.
"Das haben Sie absolut richtig erkannt, junge Frau!", sagte er anerkennend, als hätte sie soeben eine detektivische Meisterleistung vollbracht. Als nächstes versuchte er, Besorgnis in seine Stimme zu legen.
"Ich möchte zu einem Freund, um zu sehen, ob er vielleicht Hilfe braucht. Sie wissen ja, es sind schwierige Zeiten."
"Ick hab jesehen, wie Sie uff die Klingel von den Adler jekiekt ham. Is das der, zu den se hinwolln?", fragte sie skeptisch. Immerhin war die Frau zum "Sie" übergegangen - oder was ihre Version davon war.
"Genau der!"
"Da hamse Pech, der hat jepackt und wollte los zu seine Mudda, gleich als die Kacke zum Dampfen anfing, wennse verstehen, wat ick meine."
"Das kann nicht sein, seine Mutter ist letztes Jahr an Krebs gestorben", stellte er nüchtern fest. Daniel war kein Chef, der sich besonders für die privaten Umstände seiner Mitarbeiter interessierte, aber an diese Tatsache erinnerte er sich noch genau. Er hatte den Betriebsrat am Hals gehabt, nachdem er den Antrag auf zwei Tage Sonderurlaub für die Beerdigung nicht hatte genehmigen wollen. Bezahlten Urlaub wollte er haben! Als wäre die Firma schuld am Tod seiner Mutter.
"Verarschen kann ick mich selber! Sie denken wohl och, ick bin bescheuert, wa?"
Bevor Daniel darauf antworten konnte, hatte die Frau einen Schlüssel in der Hand. Schneller, als er ihr zugetraut hätte, hatte sie die Tür aufgemacht und wollte sie schon wieder hinter sich zuziehen. Daniel bekam gerade noch den Fuß dazwischen.
***
Markus zuckte zusammen, als er durch den Spion seinen Chef erblickte.
"Ich weiß, dass du da bist!", sagte dieser laut genug, damit Markus fürchten musste, dass die Nachbarn es hören könnten. "Ich wollte nur mal nachsehen, wie es dir geht. Lass mich doch bitte kurz rein, du weißt, es ist ... gefährlich hier draußen!" Wie zur Demonstration blickte er sich gehetzt im Hausflur um. Dieser Idiot!
Markus gab keinen Mucks von sich. Sein Chef konnte doch nicht wissen, ob er zu Hause war, oder? Bitte verschwinde einfach!, dachte Markus sich. Aber den Gefallen tat sein Chef ihm nicht. Irgendwas machte ihn ungeheuer nervös, so dass er die Maskerade schnell wieder aufgab.
"OK, schon klar, du kannst dir natürlich denken, warum ich eigentlich hier bin, bist ja nicht auf den Kopf gefallen", versuchte er es jetzt. "Meiner Frau und meiner kleinen Tochter geht es nicht gut. Wir haben Wasser, aber so gut wie nichts mehr zu essen!"
Er machte eine kurze Pause, warf einen Blick über seine Schulter. "Du bist unsere letzte Hoffnung! Wir wissen doch beide, dass du genug hast! Bitte! Meine kleine Tochter ist doch erst vier!"
Markus sah, wie sich immer mehr die blanke Verzweiflung auf seinem Gesicht ausbreitete. Dann verlor sein Chef gänzlich die Fassung, seine Stimme wurde lauter und bekam einen schrillen Unterton: "Lass mich sofort rein! Ich weiß, dass du da bist!"
Die Situation eskalierte schnell. Schon hämmerte er verzweifelt mit beiden Fäusten an die Tür und brüllte: "MACH! DIE! TÜR! AUF!"
Das Geschrei würde jeden Moment seine Nachbarn auf den Plan rufen, Markus musste sofort handeln, bevor jemand sah, dass der Krach vor seiner Tür entstanden war. Er wechselte das Brecheisen in die linke Hand und drehte mit der Rechten den Schlüssel im Schloss herum, riss die Tür auf, packte seinen Chef am Kragen und zerrte ihn mit einem Ruck in die Wohnung. Dann schlug er die Tür wieder zu und schloss hastig ab. Hinter ihm rumpelte es, sein Chef war in der Dunkelheit anscheinend gegen etwas gestolpert, und Markus drehte sich kurz zu ihm.
"Leise, verdammt noch mal!", zischte er ihn an.
Sofort danach nahm er wieder seinen Beobachtungsposten hinter dem Spion ein und behielt den Hausflur im Auge.
Markus lief es eiskalt den Rücken herunter, als ein rasierter Schädel am Treppenabsatz erschien, gefolgt von breiten Schultern, an denen Arme hingen, die sich problemlos mit seinen Oberschenkeln messen konnten. Bitte nicht der!
"Scheiße!", fluchte er leise.
"Hör zu, es tut mir leid, ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen, aber es ist ..."
Markus drehte sich wieder zu seinem Chef um. "Leise, habe ich gesagt! Was haben Sie sich nur dabei gedacht?"
"Bitte, lass uns beim Du bleiben, ich heiße Daniel!", antwortete dieser hastig. Markus' Blick verfinsterte sich.
"Ach ja, auf einmal?"
"Bitte, ich wollte nicht –"
"Klappe!"
Markus konnte im Dunkeln nicht an seinem Gesicht erkennen, wie sein Chef auf diese bisher ungekannte Respektlosigkeit reagierte, aber er hörte, wie dieser laut Luft einsog. Würde er ihn jetzt gleich zurechtweisen? Doch dann fragte er nur: "Was ist los? Was hast du gesehen?"
"Ärger auf zwei Beinen."
"Was soll das heißen?"
Markus bedeutete ihm mit einem Wink, ihm ins Wohnzimmer zu folgen.
"Der Russe von unten. Stand vor ein paar Wochen mal vor meiner Tür, um mir zu sagen, dass er meine neue Musikanlage nicht mag."
Markus versuchte, den russischen Akzent nachzuahmen, mit stark betonten, langgezogenen Vokalen und sehr hart ausgesprochenem "ch": "'Wenn du noch einmal machst die Musik so laut, ich komme, und drehe dich leise!' - und dann packt der mich doch echt an der Nase und dreht sie langsam zur Seite, dass ich den Kopf mitdrehen muss. Fand er wohl sehr lustig, denn ich hab das Arschloch noch von unten durch den ganzen Hausflur lachen gehört, als ich mir ein Kühlpaket aus dem Tiefkühler geholt hab. Ich dachte, jetzt hat er mir die Nase gebrochen."
"Und nun?"
"Na ja, zum Glück war die Widerrufsfrist für die Musikanlage noch nicht abgelaufen."
"Das meine ich nicht. Was macht er jetzt?"
"Keine Ahnung, bevor ich wieder auf meinen Beobachtungsposten gehe, sagst du mir erst mal, was der Aufstand hier sollte. Und lass dir eins gesagt sein: du brauchst hier nicht den Chef raushängen lassen, heute mache ich die Ansagen!"
Das tat gut.
Daniel schielte auf das Brecheisen, das Markus immer noch in der Hand hielt.
"Ich verstehe, dass du sauer bist. Als du zum Gespött der Kollegen geworden bist, hätte ich als Autoritätsperson wahrscheinlich einschreiten sollen."
Markus verkniff sich einen giftigen Kommentar zum Thema "Autorität" und gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass er weiterreden sollte.
"Aber was erzählst du auch auf der Weihnachtsfeier diesen ganzen Schwachsinn von wegen jederzeit vorbereitet sein auf sämtliche Katastrophen. Alles mögliche zu Hause bunkern und so weiter, das klang eher, als würdest du ein Messi-Dasein fristen und es rechtfertigen wollen, das fanden halt alle seltsam."
"Ich hatte ein paar Biere zu viel."
Daniel machte eine Handbewegung in Richtung einer Ecke des Wohnzimmers, in dem sich Dosen mit Nahrungsmitteln nur so türmten. "Ach wirklich?"
"Ich meine damit, ich hätte das normalerweise nicht erzählt. Das ist eine der Grundregeln für Überlebensexperten - man hält darüber die Klappe, weil man im Ernstfall sonst die Leute anlockt, die sich selbst nicht vorbereitet haben. Und hier sind wir nun, nicht wahr? Wenn die anderen Kollegen auch meine Adresse kennen würden, könnten wir hier jetzt eine hübsche Party feiern. Eine Party mit denselben Vollidioten, die mich monatelang nach Tipps zum Verhalten während einer Zombie-Apokalypse oder Alien-Invasion gefragt haben und sich auch nach dem zwanzigsten Mal dabei noch irre witzig fanden."
Daniel musste grinsen. "Du hättest es auch einfach mit Humor nehmen sollen. Stattdessen kommst du damit, wie seriös das alles wäre, faselst was von so einem Bundesdingsda für Katastrophen ..."
"Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe."
"Meine ich doch. Da hast du es geschafft, vom Weltuntergangsfanatiker auch noch zum Nerd zu werden."
Markus machte sich wieder auf den Weg in Richtung Flur, drehte sich aber nochmal kurz zu Daniel um.
"Dann sag mir doch mal: was bin ich jetzt geworden?"
Im Flur wendete er sich wieder dem Türspion zu. So eine unfreundliche Kuh aus dem Stockwerk unter ihm hatte sich zusammen mit ihrem fetten Mann zu dem Russen dazugesellt, redete auf ihn ein und - deutete auf seine Wohnungstür!
Zurück im Wohnzimmer sah Daniel ihn fragend an.
"Sie sind nun zu dritt und sie wissen jetzt auch, dass ihr Preis sich hinter Türchen Nummer 3 befindet." Es sollte cool klingen, doch Markus' Stimme bebte.
"Was? Wie?", fragte Daniel alarmiert.
"Keine Ahnung. Frau Niemeyer, die Solariumshexe aus dem Zweiten, hat grad direkt auf meine Tür gezeigt."
"So eine Alte mit schwarzen Haaren und Riesenrädern als Ohrringen?"
Markus' Augen verengten sich zu Schlitzen. "Woher weißt du das?"
"Ich habe ihr erzählt, ich will nach einem Freund sehen. Nach dir. Damit sie mich reinlässt. Hat aber nicht funktioniert, die wollte mir die Tür vor der Nase zuschlagen. Also hab ich mich reingedrängt und ihr dabei wohl die Tür an den Kopf gehauen. Sie hat gezetert von wegen sie holt jetzt ihren Herbert oder Herrmann oder was und das werde ich noch bereuen und so weiter. Deswegen wollte ich ja, dass du mich schnell reinlässt."
"Scheiße, bist du denn von allen guten Geistern verlassen?", blaffte Markus ihn an. "Warum sagst du das erst jetzt?"
"Ich dachte, wenn ich erst mal hier drin bin, wird sie mich im Hausflur nicht finden und aufgeben und das hat sich erledigt. Sie hat mir doch gar nicht geglaubt - das mit deiner Mutter - es tut mir leid!"
Markus breitete fassungslos die Hände aus. "Du hast meine Tarnung auffliegen lassen?"
"Ich sag doch, sie hat mir ja gar nicht geglaubt, wollte mir gleich die Tür vor der Nase zuschlagen und alles!"
"Eins musst du mir jetzt mal verraten: Wie hast du Flachpfeife bitteschön die letzten 2 Wochen in dieser Welt überlebt?"
"Hey, kein Grund, gleich beleidigend zu werden! Wir sind einfach nicht aus dem Haus gegangen, genau wie du. Bis das Essen alle war, dann bin ich hierher."
"So so, Essen war also alle", erwiderte Markus gereizt. "Sehe ich vielleicht aus wie ein verdammter Supermarkt?"
RUMMS!
Vor Schreck fiel Markus das Brecheisen aus der Hand und landete scheppernd auf den Fliesen.
"Was war das?", fragte Daniel ängstlich.
"150 Kilo Muskeln und Knochen im Kampf gegen meine Wohnungstür, würde ich mal sagen", erwiderte Markus, nachdem er sich wieder halbwegs gefangen hatte.
"Dieser Russe war das? Das klang, als hätte ein Bus die Tür gerammt."
"Ein russischer Bus. Wenigstens ist die Tür aus Metall, ich weiß aber trotzdem nicht, wie viel Zeit wir haben."
"Gibt es denn einen anderen Weg hier raus?"
"Nein."
"Können wir nicht ein Fenster nehmen?"
"Aus dem dritten Stock?"
"Mist, und was machen wir dann?"
"Wahnsinn, mein allwissender Chef fragt ausgerechnet das entbehrliche Fußvolk, was wir jetzt machen. Wenn wir nicht so am Arsch wären, würde ich es glatt komisch finden!", ätzte Markus.
RUMMS!
Beide zuckten zusammen. Der Typ würde wohl nicht so schnell aufgeben. Schnell hob Markus das Brecheisen wieder auf.
***
"Hilf mir mal mit dem Wohnzimmerschrank, wir schieben ihn vor die Tür. Und dann andere Möbel, wir machen die Luke absolut dicht", schlug Markus vor.
Daniel gefiel der Vorschlag nicht.
"Nein, ich muss zu meiner Frau und meiner Tochter, ich kann mich hier nicht endlos verbarrikadieren."
"Wir haben keine Zeit für solche Diskussionen, was willst du denn sonst machen?", fragte Markus gehetzt.
"Ich weiß nicht, ich ... lass mich nachdenken!"
"Während du nachdenkst, kannst du mir auch mit dem verdammten Schrank helfen", blaffte Markus ihn an.
"Nein, warte, ich habe eine Idee", sagte er und verschwand in Richtung Wohnzimmer. Kurz darauf kam er mit einer 5-Liter-Plastikflasche Rapsöl zurück, die er aus der Ecke mit den Vorräten gefischt haben musste.
"Was soll der Scheiß, willst du dem Russen das Ding an den Kopf werfen?", fragte Markus ungläubig.
Doch Daniel schraubte schon die Flasche auf und fing an, das Öl im Flur überall auf dem Boden zu verteilen.
"Geh mal zur Seite, ich will dir das nicht auf die Füße schütten", sagte Daniel unwirsch.
"Bist du noch ganz bei Trost? Was soll das bringen?"
Er sprang zur Seite und machte einen Schritt hinter Daniel, der rückwärts von der Wohnungstür weglief und dabei immer mehr Öl verteilte.
"Vor ein paar Wochen hat meine Frau sich fast das Rückgrat gebrochen, weil im Supermarkt jemand Öl verschüttet hatte und sie darin ausgerutscht ist. Du glaubst gar nicht, wie glatt das ist, besonders auf den Fliesen hier", sagte Daniel mit einem diebischen Lächeln im Gesicht.
"Das ist dein Plan? Der Russe kommt rein, rutscht aus und bricht sich was? Willst du vielleicht auch noch Murmeln auf den Boden werfen? Wir sind hier doch nicht bei Kevin allein zu Haus, das wird niemals funktionieren!"
"Es reicht ja schon, wenn er einfach nur auf dem Hintern oder den Knien landet. Dann sind wir da und ziehen ihm eins mit deiner Brechstange über."
"Und mit 'wir' meinst du wohl 'ich'", stellte Markus nüchtern fest.
Daniel sah kurz auf, bevor er weiter die letzten Reste des Öls verteilte. Sie waren schon im hinteren Bereich des Flurs angekommen. "Ich habe noch nie in meinem Leben eine Brechstange benutzt, ganz besonders nicht als Waffe."
Markus sah Daniel dabei zu, wie er sich wieder aufrichtete und die nun leere Plastikflasche beiseite stellte.
"Damit das klar ist, ich finde deinen Plan bescheuert! Aber jetzt habe ich keine Wahl mehr, nicht wahr? Möbel zu rücken kann ich mit dem Öl überall jetzt vergessen. Das hast du ja wirklich ganz toll hinbekommen."
Markus meinte, kurz ein Grinsen auf Daniels Gesicht gesehen zu haben, aber bevor er sich weiter darüber Gedanken machen konnte, erregten Geräusche im Hausflur seine Aufmerksamkeit.
"Scheiße!", fluchte Markus.
"Was ist?", fragte Daniel.
Markus deutete nervös Richtung Wohnungstür. "Die haben grad einen Transportroller auf den Boden gestellt."
"So ein Brett auf Rollen, mit dem man schwere Sachen transportiert? Woher weißt du das?", fragte Daniel.
"Ich kenne das Geräusch - dieses metallische Klacken - das kommt von den Rollen", antwortete Markus.
Daniel dämmerte es. "Die stellen da jetzt einen Kühlschrank oder so was drauf. Das wird ein verdammter Rammbock!"
Sie hörten, wie etwas Schweres auf dem Brett abgestellt wurde und sahen sich an.
"Scheiße!"
***
Mit einem lauten Krachen flog die Wohnungstür auf, knallte seitlich gegen die Wand und blieb schief in den Angeln hängen. Daniel und Markus blickten entsetzt zuerst auf die Waschmaschine, die jetzt dort stand, wo vorher die Tür gewesen war, und dann auf das vor Anstrengung gerötete Gesicht des Russen dahinter.
Der Flur war einfach nur ein langgezogener Strich, von dem links das Wohnzimmer abging, rechts ein Bad und am Ende ein Schlafzimmer. Die beiden befanden sich am Ende vor der geschlossen Schlafzimmertür und waren starr vor Schreck. Als sie sich endlich aus ihrer Starre lösten, hatte der Russe der Waschmaschine bereits einen erneuten Stoß in ihre Richtung gegeben. Diesmal war keine Tür mehr im Weg.
Für Markus verlief alles wie in Zeitlupe, seine Gedanken rasten. Ihm wurde bewusst, dass es zu spät war, um sich aus der Schusslinie zu bringen. Die Abzweigungen zu Bad oder Wohnzimmer befanden sich zu weit vor ihnen, die Schlafzimmertür hinter ihnen würde sich nicht rechtzeitig öffnen lassen. Sie saßen in der Falle. Er verfluchte den viel zu engen Flur, in dem nicht genug Platz gewesen war, um Möbel aufzustellen. Die Waschmaschine hatte freie Bahn.
Alles, was er noch tun konnte, war die Brechstange fallen zu lassen, in die Hocke zu gehen und die Arme vor sich auszustrecken, um den Aufprall so weit wie möglich abzufedern. Er hoffte, Daniel rechts neben ihm würde dasselbe tun. Doch der machte einen Schritt zurück, stellte sich kerzengerade hin und presste sich so eng wie möglich an die Schlafzimmertür in seinem Rücken.
Die Waschmaschine schlug mit voller Wucht ein. Markus sah hilflos und immer noch in Zeitlupe dabei zu, wie seine Arme dem Druck nachgaben. Er wurde nach hinten geschleudert und seine Beine vor seinen Körper gepresst, bevor er zwischen Schlafzimmertür und Waschmaschine zerquetscht wurde . Er dachte noch, dass er sich auf den Boden werfen und die Waschmaschine mit seinen Beinen hätte abfedern sollen, dann schlug sein Kopf hart gegen die Tür hinter ihm und es wurde schwarz um ihn.
***
Daniel konnte sein Glück kaum fassen, die Waschmaschine berührte ihn nicht mal, bevor sie wieder ein Stück zurückfederte. Markus war links direkt neben ihm und hatte den Aufprall alleine abgefangen. Erst mit seinen Armen, und da er in der Hocke war anschließend auch mit den Beinen, die vor seinen Oberkörper gedrückt worden waren. Sein Kopf war gegen die Tür geknallt und möglicherweise hatte er sich außerdem einige Knochen gebrochen, alles war zu einem kleinen Bündel zusammengestaucht worden. Nun war er offenbar bewusstlos. Doch Daniel hatte keine Zeit, sich weiter darüber Gedanken zu machen, denn schon machte der Russe siegessicher den ersten Schritt in die Wohnung. Die Siegessicherheit wich jedoch schnell der Überraschung, als sein Fuß auf dem Öl nach vorne wegrutschte und er einen unfreiwilligen Spagat machte. Er geriet in Rücklage und wollte sich mit der Hand abstützen, doch auch die Hand glitt auf dem schmierigen Boden sofort weg, so dass er mit halb verdrehten Beinen neben der Tür auf dem Rücken landete.
Daniel nutzte den Moment und tastete den Boden nach dem Brecheisen ab. Er fand es nicht, wahrscheinlich war es irgendwo unter dem Rollbrett gelandet. Hektisch drehte er sich um und öffnete die Schlafzimmertür. Der leblose Körper von Markus war jedoch noch dagegen gelehnt und kippte sofort mit ins Schlafzimmer, sein Kopf schlug dumpf auf dem Schlafzimmerteppich auf und der Körper blockierte nun die Tür. Aus dem Flur kam ein wütendes Schnauben, der Russe war bereits dabei, sich wieder aufzurichten, vorsichtig, um dabei nicht erneut wegzurutschen.
Daniel brach in Panik aus. Er versuchte, Markus hochzuhieven, um ihn wieder in den Flur zu drücken. Aber er hatte nicht die Kraft dafür, den Körper anzuheben und gleichzeitig die Tür mit der anderen Hand zuzudrücken. Schnell gab er auf und versuchte stattdessen, Markus an den Armen in das Schlafzimmer hineinzuziehen.
Auch das wollte aber nicht gelingen, da sich der Körper nicht gegen den Widerstand des Teppichs ziehen ließ. Wild entschlossen griff er ihm unter die Arme, hob den Oberkörper etwas an und zog erneut. Diesmal bewegte er sich einige Zentimeter. Viel zu langsam hievte er den schlaffen Körper, den Kopf an seine Brust gelehnt, aus dem Türrahmen. Als er den Körper weit genug herausbefördert hatte, legte er ihn ab und winkelte dessen Beine seitlich an, damit sie nicht mehr im Weg waren. Endlich war die Tür frei. Markus wollte sie gerade schließen, und erschrak, als er sah, dass der Russe bereits auf der anderen Seite der Waschmaschine stand, sich darauf abstützte und ihn mit wutentbranntem Gesicht anstarrte. Schnell knallte er ihm die Tür vor der Nase zu und drückte sich anschließend sofort mit dem Rücken dagegen, diesmal von der andere Seite. Sein Atem ging heftig und schnell, sein Gesicht war schweißnass.
Jetzt, wo sich seine Gedanken etwas beruhigten, wurde ihm klar, dass er einen schweren Fehler gemacht hatte. Anstatt die Chance zu nutzen, und die Waschmaschine in Richtung des Russen zu rollen, während dieser außer Gefecht war, hatte er blind die Flucht ergriffen. Jetzt hatte der Russe alle Trümpfe in der Hand. Der Boden war vermutlich zu glatt, um die Waschmaschine nochmal gegen die Tür rollen zu können, aber die dünne Holztür würde schon allein der rohen Körpermasse des Russen kaum Widerstand leisten. Jetzt waren sie wirklich am Arsch.
***
Ein Stechen fuhr in Wellen durch Markus' Schädel hindurch. Mühsam öffnete er die Augen. Durch einen Schleier aus Nebel hindurch erkannte er seine Schlafzimmerdecke - nur in diesem Raum war die Decke tapeziert. Er versuchte, sich aufzurichten, aber sofort schoss ein fürchterlicher Schmerz in seine Arme. Er kippte wieder auf den Rücken und wimmerte leise.
"Gott sei Dank, du bist wach! Hilf mir mit der Tür, schnell!", hörte er Daniels Stimme von irgendwo nah vor ihm.
"Ah!"
"Was ist los? Scheiße, er kommt bestimmt gleich, reiß dich zusammen und hilf mir!"
"Aaahhh!"
Markus konnte keinen klaren Gedanken fassen, der Schmerz war überwältigend. Er hörte Daniel laut atmen. Hyperventilierte er?
"Verdammt, das tut so weh! Ich glaube, ich habe mir beide Arme gebrochen!", presste Markus zwischen den Zähnen hervor.
"Oh", sagte Daniel nur. Er schien verstört.
Markus blieb völlig starr liegen und bewegte sich nicht, der Schmerz ließ etwas nach.
"Was ist passiert?", fragte er.
"Wir sind in deinem Schlafzimmer."
"Das sehe ich. Wo ist Igor?"
"Wer ist Igor?"
"Mann, der Russe!"
"Der heißt Igor?"
"Was weiß ich, alle muskelbepackten Russen heißen Igor oder Ivan, ist doch scheißegal, ich will wissen, wo er ist!"
"Ich weiß es nicht. Vor der Tür."
"Ist er nun vor der Tür, oder weißt du es nicht?"
"Nein."
Markus stöhnte wieder vor Schmerz, er hatte sich einen Millimeter bewegt und sofort die Quittung dafür erhalten.
"Wo ist die Brechstange?", versuchte er es erneut mit einer einfachen Frage.
"Die hat vermutlich - Igor."
Markus atmete resigniert aus.
Einige Sekunden vergingen, dann hörte Markus ein Geräusch aus dem Flur.
"Was war das?", fragte er.
"Klang, als wenn er Küchenpapier von einer Rolle abreißt. Ich schätze, er legt den Boden damit aus, damit es nicht mehr so rutschig ist", antworte Daniel lapidar.
"Du musst etwas tun!"
"Was denn?", fragte Daniel. Seine Atmung hatte sich verlangsamt und seine Stimme hatte einen fast gleichgültigen Ton angenommen. War vermutlich der Schock.
"Keine Ahnung. Hier im Schlafzimmer gibt es nichts, womit wir uns verteidigen können. Du musst dir die Brechstange zurückholen und ihn damit ausschalten. Bist du sicher, dass Igor sie hat? Eigentlich müsste sie unter dem Rollbrett liegen, ich hab sie erst kurz vorher fallen lassen."
"Das ist Wahnsinn, ich hab keine Chance gegen ihn!"
"Du hast doch gesehen, wohin uns das Versteckspiel gebracht hat. Wir müssen in die Offensive gehen. Fressen oder gefressen werden!"
"Und mit 'wir' war dann wohl doch 'ich' gemeint", schlussfolgerte Daniel. Immerhin arbeitete sein Verstand nun anscheinend wieder normal.
"Hör zu, wenn er fertig mit dem Boden ist und sich im Flur normal bewegen kann, nutzt er das entweder, um hier reinzukommen und uns alle zu machen. Oder er entscheidet, dass wir keine Gefahr für ihn sind, wenn wir uns hier wie die Kaninchen im Bau verkriechen. Dann räumt er seelenruhig die Vorräte raus, während wir hier festsitzen und uns in die Hose machen", versuchte Markus ihn zu überzeugen.
"Das ist schon passiert."
"Was?"
"Das mit der Hose."
"Scheiße!"
"Nein, nur -"
"Hör endlich auf damit! Du hast uns das eingebrockt! Hast du etwa schon vergessen, wofür? Deine Frau und deine Tochter warten bei dir zu Hause, während du hier stehst und dich selbst bemitleidest. Was willst du machen, hier in meinem Schlafzimmer verhungern, während deine Familie alleine in deinem Haus verhungert, und sich fragt, warum du sie im Stich gelassen hast?", provozierte Markus ihn.
"Ah!"
Er hatte sich in Rage geredet und dabei wieder unbewusst die Arme bewegt, eine Welle aus Schmerzen überrollte ihn, so dass er fast wieder ohnmächtig wurde. Als er sich nach einiger Zeit wieder etwas besser fühlte, hörte er Daniel mit deutlich festerer Stimme sagen: "Du hast Recht. Ich habe ja nichts mehr zu verlieren. Ich versuche es."
"Gut so."
Markus hörte eine Weile nichts, vermutlich lauschte Daniel an der Tür, ob die Luft rein war. Mehr bekam er nicht mehr mit, eine starke Müdigkeit erfasste ihn.
Vorher dachte er noch, wie ungerecht das alles war. Ausgerechnet sein bescheuerter Chef hatte ihn in diese Lage gebracht. Der hatte nie wirklich eine Ahnung gehabt, was seine Mitarbeiter überhaupt taten, und meinte trotzdem, alle herumkommandieren zu können. Meinte sogar, urteilen zu können, dass Markus inkompetent war, hatte mehr als einmal versucht, ihn loszuwerden. Tja, jetzt hatte er es wohl geschafft.
Ausgerechnet Markus, der sich auf all das hier vorbereitet hatte, ohne zu wissen, ob es ihm außer Hohn und Spott je etwas bringen würde. Der sich keine Illusionen darüber gemacht hatte, wie schnell Menschen wieder zu Tieren werden konnten, wenn die allgemeine Ordnung zusammenbrach. Er war es, der jetzt hilflos am Boden lag. Selbst wenn ihn jetzt nicht eine Hirnschwellung umbringen würde - mit zwei gebrochenen Armen würde er in dieser Welt niemals überleben können. Er war erledigt.
Markus glitt langsam in den Schlaf.
***
Daniel nahm all seinen Mut zusammen und öffnete die Tür. Vorsichtig spähte er in den Flur. Überall war Küchenpapier auf dem Boden verteilt. Weiter hinten konnte er an der zerstörten Wohnungstür vorbei in den Hausflur blicken, sah dort aber niemanden. Irgendwo waren Stimmen zu hören, aber sie schienen von einer anderen Etage zu kommen.
Er öffnete die Tür vollständig, legte sich flach auf den Boden und sah unter das Rollbrett. Tatsächlich, dort lag die Brechstange! Er streckte seinen Arm aus und zog sie zu sich heran. Das metallische Schaben, das er dabei erzeugte, kam ihm unglaublich laut vor. So schnell wie möglich schloss sich sein Griff um die Stange und er richtete sich wieder auf. In sicherer Erwartung, auf der anderen Seite der Waschmaschine in das Gesicht des Russen zu blicken, riss er sofort die Brechstange hoch über seinen Kopf, um zum Schlag bereit zu sein. Doch da war niemand.
Er ließ seine Waffe erleichtert sinken und musste ein hysterisches Lachen unterdrücken. Er hatte es hierher geschafft, wo es Vorräte gab. Hatte den Angriff mit einer Waschmaschine überlebt. Und jetzt hatte er das Brecheisen zurückerobert! Ein Gefühl der Unbesiegbarkeit machte sich in ihm Breit. Selbstbewusst schob er die Waschmaschine etwas an die Seite und drängte sich an die Wand gedrückt daran vorbei in den vorderen Teil des Flurs. OK, wo war Igor?
***
Igor Pawlowitsch hatte gerade die erste Ladung Vorräte in seine Wohnung geschleppt und war auf dem Weg zurück nach oben, um die nächste Fuhre zu holen. Auf dem Treppenabsatz stand immer noch die Frau - irgendwas mit Meyer - zusammen mit ihrem fetten Mann. Sie unterhielten sich leise und blickten in seine Richtung, als er kam. Vermutlich besprachen sie ihre Möglichkeiten.
Sie waren schon dort gewesen, als vorhin der Krach im Hausflur angefangen hatte. Sie alle drei hatten gemeinsam gehört, wie der Typ vor der Tür gesagt hatte, dass Herr Adler genug zu Essen hätte und dann beobachtet, wie er in die Wohnung gezogen wurde. Jetzt, wo er die Wohnung aufgebrochen und die Schlappschwänze in ihr Versteck getrieben hatte, ging das Paar wohl davon aus, sie hätten irgendeinen Anspruch auf einen Anteil der Beute. Aber daraus würde nichts werden. Er schob sich an ihnen vorbei und warf ihnen von oben nochmal einen drohenden Blick über die Schulter zu. Der Fettsack guckte sofort ängstlich zur Seite, aber die Alte drückte ihren Mann in die Schulter und sagte: "Jetzt mach doch wat, Herbert! Der holt sich dit allet alleene!"
Igor blieb stehen und drehte sich langsam um.
"Verzieh dich zurück in dein Loch! Wenn du hast Hunger, du kannst essen deinen Herbert, ist genug dran für zwei Wochen!", sagte er mit ruhiger, aber dröhnend tiefer Stimme. Die beiden begannen sofort damit, treppabwärts zu laufen.
Zufrieden ging Igor weiter. Im Flur blieb er jedoch stehen, etwas kam ihm seltsam vor. Vorsichtig lauschte er und sah sich um, während er überlegte, was es war. Bevor ihm endlich klar wurde, dass die Waschmaschine bewegt worden war, sah er im Seitenblick rechts aus dem Wohnzimmer etwas auf sich zukommen. Instinktiv hob er beide Arme über seinen Kopf und wehrte den Schlag ab. Die Brechstange prallte ab, fiel zu Boden und sein Angreifer sprang ins Wohnzimmer zurück und verschwand um eine Ecke.
"Argh!"
Igor hielt sich die Unterarme, die den Schlag abbekommen hatten, und biss sich auf die Zähne. Nachdem der Schmerz etwas nachgelassen hatte, stellte er fest, dass anscheinend nichts gebrochen war. Jetzt kochte die Wut in ihm hoch. Er bückte sich nach der Brechstange, als ihn etwas hart am Kopf traf. Benommen torkelte er ein paar Schritte vorwärts und klammerte sich an die Waschmaschine, bevor ihn erneut ein Schlag traf und er von der Maschine herunterrutschte. Es wurde dunkel um ihn. Das letzte, was er sah, waren die hässlichen karierten Stoffhausschuhe der Solariumshexe, die auf ölgetränktem Küchenpapier standen.
***
Diesmal erholte Daniel sich schneller von seinem Schreck. Gleich nach seinem misslungenen Angriff auf den Russen hatte die Alte, die er vorhin unten an der Tür getroffen hatte, dem Russen eine Bratpfanne übergezogen. Zwei Treffer auf den Schädel waren nötig, bevor der endlich zu Boden gesackt war. Die Alte war noch auf den Russen konzentriert, um zu sehen, ob er nicht doch nochmal aufstand. Dies nutzte er aus und hob hastig die Brechstange vom Boden auf.
Damit zog er die Aufmerksamkeit der Alten auf sich. Sie hielt ihre Bratpfanne bereit und blickte ihn aus kalten Augen erwartungsvoll an.
"So, und wat machen wa jetze?"
Daniel wägte die Optionen ab. Bratpfanne gegen Brecheisen. Erfahrene Kämpfer waren sie beide nicht, er musste der Alten aber zugestehen, dass sie geschafft hatte, was er nicht zustande gebracht hatte. Er blickte noch einmal zu dem Russen. Eine kleine Blutlache bildete sich unter seinem Schädel und verteilte sich in Küchenpapier und Öl. Sollte er es wirklich riskieren, sie anzugreifen? Würde sie versuchen, ihn anzugreifen?
Er beschloss, dass das unnötig war. Das hier war ein rein organisatorisches Problem - und eine Frage von Autorität, die er jetzt ausstrahlen musste. Damit kannte er sich doch aus.
"Passen Sie auf, es ist so: Igor ist aus dem Spiel. Wir beide wollen die Vorräte und ich brauche nicht alles. Ich kann sowieso nur schleppen, was in den Rucksack passt, und jeder zusätzliche Gang zwischen meinem Haus und dieser Wohnung ist ein Risiko. Da bleibt genug für Sie und Ihren Mann."
Die alte deutete mit dem Kopf in Richtung Boden. "Woher kennsen sein' Namen?"
"Wieso, heißt der wirklich Igor?", fragte er erstaunt.
"Ja. Und wat is mit den Adler?"
"Machen Sie sich um den keine Gedanken. Das Zeug hier gehört jetzt mir, und ich sage, wir teilen."
Sie dachte kurz darüber nach. Dann ließ sie die Bratpfanne sinken.
"Na jut, Chef, so machen wa dit!"