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Chatroulette
Stephan Pol drängte sich zusammen mit seinen Kommilitonen aus dem Vorlesungssaal. Er begrüßte die Nähe zu den Mitstudenten, ließ sich mit der Menge treiben, bis ihn Jemand so hart anrempelte, dass er stürzte. Resigniert flüchtete er an den Rand des Flurs und suchte den Boden nach seinem Kugelschreiber ab, der ihm aus der Hand gefallen war. Als er ihn sah, war es schon zu spät; der Stift rollte gerade über den Rand und fiel ins Erdgeschoss. Er beugte sich über das Geländer. Dann machs mal gut, dachte Stephan. Wie so oft, wenn er sich wie ein Schatten vorkam, auf dem herum getrampelt werden konnte, tröstete er sich mit Gedanken an das Tagesende, wenn es Zeit wurde auf die Straße zu gehen
Für Stephan war nichts aufregender als der Blick in das Fenster eines Nachbarn. Die Alltäglichkeiten, mit denen sie abends ihre Zeit auffüllten und die in ihrer banales Wiederholung einer Dauerwerbesendung glichen, empfand er als eine Art heilige Existenzgrundlage. Insofern er als Zuschauer dabei sein durfte.
Wenn er unbemerkt durch die Gärten seiner und der anliegenden Straßen schlich, gekleidet in angemessenem schwarz, fühlte er sich als Priester ihrer Rituale. Ein Status, den sein Leben in der übrigen Zeit einfach nicht hergab. Sein Zeremonienstab ein schon oft gebrauchtes Fernglas, zwanzig facher Zoom. Er beobachtete sie beim Abwasch, beim Fernsehen, während gestritten und Kinder geliebt wurden. Seifenopern, nur für ihn gedreht.
Der Wunsch nach einem erotischen Akt der Laiendarsteller war nur zaghaft in ihm vorhanden; aber ein Motiv.
Trotz allem Kitzel, den sein nachbarschaftlicher Voyeurismus ihm bescherte, fehlte etwas.
Niemand schaute je zurück. Jedes bekannte Gesicht - und viele hatte er sich durch nächtelange Erfahrung eingeprägt - wandte sich nur dem engsten Kreis zu. Es lag ihm nichts daran erwischt zu werden. Seiner Taten war er sich durchaus bewusst. Aber nach und nach wurde es immer unbefriedigender und er verlagerte sein Talent der unbegrenzten Toleranz ins Netz.
Chaträume bargen einen Schatz voller Möglichkeiten, teilzunehmen ohne einzugreifen. Aber es bereitete ihm Schwierigkeiten, den fehlenden visuellen Kontext einfach zu ignorieren. Die Gespräche, mehr dahin gesabberte Wortfetzen als sinnvoller Inhalt, hatten nicht dieselbe Wirkung wie sein reales Pirschen in der Nacht. Außerdem wollte er mehr.
Stephan wollte sich nicht unbedingt einmischen, aber sein Drang zu beobachten hatte in ihm den Wunsch freigesetzt selbst gesehen zu werden.
Das Mittel, mit dem er hoffte endlich beides haben zu können, die gewollt voyeuristische Intimität des sehen und gesehen werden, fand er im Chatroulette.
Er testete die nur für diesen Zweck gekaufte Webkamera und erhielt einen kleinen Spiegel auf dem Bildschirm seines Computers, der, in annehmbarer Qualität, einen jungen Mann mit ungekämmten Haaren zeigte. Stephan drehte seinen Kopf hin und her, strich sich die Haare aus der Stirn, rümpfte die Nase und beobachtete das Bild der Kamera auf dem Monitor.
Dann probierte er das Mikrofon: „Willkommen in der anderen Wirklichkeit.“ Seine Stimme klang nicht so tief wie sonst und etwas blechern, aber überraschend klar und deutlich.
Nachdem er näher an die Kamera gerückt war, sagte er: „So werdet ihr mich sehen?“
Das Mikrofon funktionierte.
Nachdem er die Heizung in seinem winzigen Ein-Mann-Apartment runter gedreht hatte, setzte er sich auf seinen schwarzen, abgenutzten Ledersessel, lehnte sich zurück und startete das Programm. Eine Registrierung zwang man ihm nicht auf. Wär ja auch was, dachte er. Natürlich hätte er einen falschen Namen angegeben, aber überhaupt etwas von sich preis zu geben, zu Beginn, hätte schon das Aus bedeutet.
Zwei kleine dunkle Kästchen auf blauen Hintergrund erschienen auf dem Monitor.
Der Ablauf des Programms war denkbar einfach. In dem einen Kästchen wird sein Gesprächspartner gezeigt, in dem Anderen sein eigenes Gesicht. Jeweils darunter befinden sich Eingabezeilen mit deren Hilfe man schriftlich kommunizieren kann, für den Fall, dass ein Mikrofon nicht zur Verfügung stand. Ein Videotelefonat also, mit der Besonderheit, dass durch einen programmierten Zufall der Gesprächspartner ausgewählt wird; und je nach Gefallen tröstet man sich mit dem nächsten Zufall oder wird selbst weggeklickt.
Noch zeigte das untere schwarze Viereck nur seinen eigenen Kopf samt Brustkorb, das obere Kästchen ein Fragezeichen. Stephan fühlte sich noch nicht bereit, den Cursor anzuspornen endlich den Zufallsgenerator in Gang zu setzen; die Aufregung war groß. Man würde ihn zum ersten Mal dabei beobachten, wie er jemand anderen beobachtete. Dann entspannte er sich, klickte den Verbindungsbutton und überließ sich dem Roulette.
Die Wahl der virtuellen Partnerkugel fiel auf einen Typen, der sich mit James vorstellte und in Australien wohnhaft war. Stephan war ob der Qualität der Videoübertragung so überrascht, dass er keinen Ton rausbrachte, nicht wissend ob das überhaupt in seinem Interesse lag, und hastig mit dem Zeiger der Maus auf den Unterbrechungsknopf drückte. Sein Herz tanzte Tango, unter den Achseln an seinem dunklen Shirt bildeten sich Schweißflecken. Er schluckte ein paar Mal trocken und lächelte dann. Nicht vergleichbar mit den Bildern aus dem Fernglas. War ihm vorgekommen, als ob das Gesicht fast aus dem Bildschirm gesprungen wäre.
Stephan rückte wieder vor und holte sich das nächste Zufallsgesicht auf den Schirm. Ein Pärchen mittleren Alters aus Deutschland. Knopfdruck. Ein pubertierendes Mädchen aus Südamerika. Knopfdruck. Eine mollige Frau aus den USA. Knopfdruck. So kreiste das Roulette, Klick um Klick; bis er plötzlich ein Bild sah, das kein Gesicht zeigte.
Stephan runzelte die Stirn. In dem Kästchen sah er ein Labyrinth aus dunklen Mauern. Die Kamera flog darüber hinweg wie ein seelenloser Condor, endlos führte es in den Horizont. Während er mit seinen Augen der Kamera folgte, wurde Stephan leicht übel und er fühlte, wie der ruhige Flug etwas Bedrohliches ausstrahlte, das dem Labyrinth entströmte wie unsichtbarer Rauch. Ohne Vorwarnung wurde der Rahmen schwarz. Stephan war weggeklickt worden, wie er es selbst bei Dutzenden seiner virtuellen Gesprächspartnern bereits getan hatte.
Er hatte nur einen Moment Zeit, um sich die Sicherheit zu zuflüstern, dass da Jemand an dem Programm rumgepfuscht haben musste oder einfach ein Video abspielen ließ, egal wer gerade damit verbunden wurde, als das hübsche Gesicht einer jungen Blondine auf dem Schirm erschien. Sie lächelte ihn an und für Stephan war genau dies der Augenblick, den er sich herbei gesehnt hatte: der intime Blick, der auf ihm ruhte, so wie seine Augen so oft auf Anderen geruht waren. Er wurde beobachtet. Sie lächelte, als ob sie über ihn Bescheid wüsste. Dann wurde die Übertragung plötzlich wieder unterbrochen.
„Nein“, sagte Stephan. „Nein, komm wieder.“ Er ließ sich wieder verbinden, aber die Chance denselben Gesprächspartner auf dem Schirm zu sehen war kaum vorhanden. Er versuchte es, aber ihr Gesicht erschien nicht. Stephan beendete das Programm und ging rastlos in seinem Zimmer umher. Er fühlte sich berauscht wie beim ersten Mal, als er einen Blick in das Fenster seiner Nachbarn riskiert hatte. Der Raum wurde ihm zu eng, er atmete immer hektischer.
Ich muss sie wiedersehen, dachte Stephan. Der Sessel klapperte als er sich nervös darauf setzte und erneut das Chatroulette startete. Bis tief in die Nacht klickte er ein Gesicht nach dem anderen weg; die intim blickenden Augen der hübschen Frau wollten sich nicht wieder zeigen.
Irgendwann löschte Müdigkeit das nervöse Brennen in ihm, er gab auf, fiel auf seine Matratze und schlief ein.
Im Traum holte ihn der verlorene Kick wieder ein und Stephans Traum-Ich fand sich über dem Labyrinth fliegend wieder. Im Halbdunkel zogen die von Rissen und Sprüngen gezeichneten Mauern unter ihm vorüber. Dann, so unmittelbar wie im Traum üblich, wechselte die Szenerie und Stephan lag auf festgetretenem Erdboden, neben ihm ragten die dunklen Mauern turmhoch über ihm auf; so hoch, dass der bewölkte Himmel nur aus einem schmalen Band zu bestehen schien.
Er stand auf und setzte sich in Bewegung, gleitend, als ob seine Beine keiner Aktivität bedurften, bis zur nächsten Ecke. Und zur nächsten. Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen, folgte er entlang den Wänden wie ein Geist, der sich nicht mehr erinnerte, dass Grenzen nicht für ihn gemacht waren.
Im Traum verrann die Zeit wie eine in Honig gedrückte Pendeluhr. Seine Bewegungen wurden immer zähflüssiger, bis er an eine Biegung kam, die sich von den anderen dadurch unterschied, dass auf ihrer Wand ein Augenpaar gezeichnet war. So detailliert, dass sie fast lebensecht wirkten. Er kannte diese Augen. Während sein Körper außerhalb des Traumes, auf der Matratze liegend, vor freudiger Überraschung sich unruhig hin und her wälzte, blieb Stephans Traum-Ich wie angekettet einige Meter vor der Zeichnung stehen.
Wind drang plötzlich durch die Gänge des Labyrinths und brachte einen süßlich metallischen Geruch mit sich. Der Träumende drückte seine Nase in die weiche Wölbung seines Ellenbogens und beinahe wäre ihm dadurch die Sicht auf den langgezogenen Schatten versperrt worden, der aus dem rechten Gang floss. Stampfende Schritte wurden hörbar. Wer auch immer sie verursachte, gleich würde er um die Ecke kommen. Instinktive Angst brachte Stephan dazu, sich von dem Augenpaar zu lösen und zu fliehen; wirksam wie eine in Bernstein gefangene Fliege.
Eine männliche Stimme wütete an sein Ohr: „Du hättest besser wegschauen sollen, kleiner perverser Scheißer.“ Er wandte sich um, aus dem Augenpaar an der Wand liefen blutrote Fäden.
Schweißgebadet erwachte Stephan.
Den Tag darauf verbrachte er meist in unruhigem Halbschlaf. Die Vorhänge der kleinen Fenster zugezogen, lag der Großteil des Ein-Zimmer-Apartments in Schatten. Er ließ die Vorlesungen an der Universität sausen, ging nicht ans Telefon, igelte sich ein. Bis zum Abend, wenn die Menschen endlich ihre Freizeit genießen durften und das Roulette wieder mit mehr Einsatz gespielt werden konnte, waren es noch einige Stunden. In den meisten davon stellte er sich ihr Gesicht vor; sah ihre Augen an der Wand des Labyrinths; ihr geheimnisvolles, wissendes Lächeln; wie sie sich beide einfach nur gegenseitig beobachteten. Unendliche Ruhe und Frieden in den Blicken zweier sich verstehender Seelen.
„Da bist du ja“, flüsterte Stephan ihr erstaunt zu und sie antwortete ihm mit ihrem Lächeln.
Es war spät in der Nacht, als er sein Glück kaum fassen konnte und ihr Gesicht, so unwahrscheinlich es auch war, in dem Kästchen des Programms erschien. Unverkennbare Augen blickten in die seinen.
„Ich habe versucht dich zu finden“, sagte er zu ihr.
„Ich weiß“, hauchte sie, „und ich habe dich gefunden.“
Für einen Augenblick war Stephan irritiert, als sie ganz nah an die Kamera heran kam und er glaubte, in ihren dunklen Augen labyrinthische Gänge zu sehen; und er verloren in ihnen umher streifte. Sie blinzelte langsam, lehnte sich zurück, so dass ihr gesamter Oberkörper sichtbar wurde und der Moment verging.
„Stephan“, sagte sie mit heiserer Stimme. Hatte er ihren Namen genannt?
„Ich weiß was du suchst. Ich will mich dir zeigen“, dabei knöpfte sie ihre weiße Bluse auf.
„Ja.“
Stephan vergrößerte mit dem Zeiger seiner Maus das obere Kästchen auf seinem Monitor. Er sah die namenlose junge Frau auf einem Sessel sitzen, in die Kamera blickend, die Knöpfe ihrer Bluse langsam öffnend. Sie war so weit mit ihrem Stuhl zurück gerollt, dass hinter ihr ein Ausschnitt des Raumes sichtbar wurde. Er war leer.
Er zoomte die Projektion seines Spiegelbildes zurück, so dass sie ihn von Kopf bis Fuß mustern könnte. Hinter ihm war nun ein Teil der Einrichtung zu sehen, und die Eingangstür, die in den langgezogenen Raum führte. Wie gebannt beobachtete er abwechselnd die hübsche Blondine und sich selbst. Das war eindeutig besser als ohne Erwiderung den Alltag durch Fenster auszuspionieren. Erregung überflutete ihn. Er legte bereits seine Hände an den Gürtel seiner Hose, als sie wieder zu ihm sprach.
„Auf Jemanden wie dich habe ich gewartet.“ Sie zog die Seiten ihrer Bluse auseinander, ihre vollen Brüste wurden sichtbar.
„Warum ich?“, fragte Stephan.
„Weil, weil“, sie hob ihren Po hoch und zog den Rock aus, „du gelernt hast wirklich zu sehen; dabei zu sein.“
Sie streichelte ihre jetzt komplett nackten Kurven und kam wieder näher an die Kamera, blickte intensiv in Stephans Gesicht und flüsterte: „Genau wie mein Freund.“
Pol war so erregt, dass er ihre Drohung mit einem Geheimnis zwischen ihnen verwechselte.
Er löste seinen Blick von ihr und wandte seine Aufmerksamkeit seinem Bereich auf dem Monitor zu.
Im Rahmen war er selbst zu sehen, große Augen, ungekämmtes Haar und dann zuckte er zusammen, als er beobachtete, wie die Eingangstür im Hintergrund langsam geöffnet wurde.
Stephan erschrak, drehte sich mit dem Stuhl schnell einmal um die eigene Achse; aber die Tür war verschlossen. Er drehte sich wieder um und der virtuelle Rahmen zeigte, wie der dunkle Spalt zwischen Tür und Zarge immer breiter wurde. Er atmete hektischer.
„Was geht hier vor?“, flüsterte er zu seiner Partnerin. Sie antwortete ihm nicht.
Er konnte seine Augen nicht von dem kleinen Ausschnitt abwenden. Eine grob menschlich geformte Silhouette schälte sich aus den Schatten heraus. Stephan drehte sich um, nichts. Er sah auf den Bildschirm und da stand sie noch immer, unbewegt, ihn beobachtend. Er fühlte ihren Blick seine Wirbelsäule entlang wandern, Stich für Stich. Kaltes Entsetzen breitete sich in seinem Magen aus.
Das Gesicht der Blondine füllte den Chatrahmen. Ihre Augen blitzten vor Vergnügen: „Ich will dich näher, komm näher.“ Sie stöhnte.
„Was willst du?“
„Ich will dich sterben sehen, Stephan!“
Stephan starrte sie an, in das Labyrinth ihrer Augen, und wieder auf sein Chatfenster, in dem er sah, wie die Geistergestalt sich bereits in der Mitte des Raumes befand und sich auf ihn zubewegte.
Er ahnte was folgen würde und konnte sich dennoch nicht seiner Sucht entziehen. In seinem letzten voyeuristisch angehauchten Blick sah er, dass die fast durchscheinende Gestalt, zweifellos ihr Freund, genau hinter ihm stand. Er wusste, sie sah dabei zu, wie ihr Geliebter seine Finger in seine Augen krallte und aus ihm heraus fischte. Stephan schrie; weniger vor Schmerzen, als vor dem Anblick ihres süßen Lächelns, das in seinen letzten Augenblicken so intim in seine Gedankenwelt eingedrungen war.
Als die Tür zu seinem Apartment von einem Kommilitonen, der nebenan wohnte, aufgebrochen wurde, saß er nur noch vornüber gebeugt tot in seinem Sessel. Der Studienfreund blickte auf den Monitor und sah einen hübschen Kussmund in einem Chatfenster; dann wurde es schwarz.
Weggeklickt.