Mitglied
- Beitritt
- 30.09.2018
- Beiträge
- 5
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
CHARDONNAY
Mittwochabend
Gegenwart
Der Kellner führt uns zu unseren Tischen in einen Raum, abseits der normalen Besucherplätze. Ich warte am Durchgang, damit die anderen mich sehen, wenn sie nachkommen und wissen, wo der Rest der Klasse sitzt. Als sie endlich ankommen und sich setzen, drehe ich mich um und analysiere die Lage. Alle Tische sind (zumindest zum Teil) besetzt. Ich präferiere die Ecktische und da auch nur die zur Wand gerichteten Plätze, weshalb ich Max bitte, kurz Platz zu machen, damit ich es mir am Eckplatz des Tisches, vor dem ich gerade noch gestanden habe, gemütlich machen kann. Jetzt sitze ich mit dem Rücken zum Besucherraum, der mittlerweile ordentlich gefüllt ist. Herr Schulze hat sich echt Mühe gegeben, ein paar schöne Plätze für uns ausfindig zu machen. Ich lege meine Pferdefelltasche auf meinen Schoß, öffne sie und nehme mein silbernes Notizbuch hervor. Als ich die Tasche weiter durchforste, merke ich bald, dass ich meinen Kugelschreiber im Zimmer habe liegen lassen. Ich bitte Marie (sie sitzt einen Tisch weiter), mir einen Stift zu leihen. Als ich die ersten Worte schreibe, ist es 19:55. Nach einer Weile kommt der Kellner und fragt, was wir gerne trinken würden. Die äußerst abstrusen Witze über Weine und andere Spirituosen prasseln auf den Kellner herein, bis Herr Schulze um Ruhe bittet und nach unseren wirklichen Getränkewünschen fragt. Ich bestelle als letztes; ein stilles Wasser, dann schreibe ich weiter. Wenig später kommt der Kellner mit mehreren Colas, einem alkoholfreien Bier und 2 Wasser zurück. Eines gibt er Tim, der mir schräg gegenüber sitzt, das andere reicht er mir. Ich setze den Stift ab und nehme das kalte Getränk entgegen. Ich sortiere meinen Platz und lege mir alles zurecht. Das Glas mitsamt der Flasche in die rechte Ecke, das Buch waagerecht darunter, damit mein Arm Platz hat. Ich gieße mir ein und führe das Glas an meinen Mund. Das kühle Wasser benetzt meine Lippen und mit jedem Schluck kühlt sich mein Gesicht mehr und mehr ab. Das Gefühl belustigt mich, weshalb ich warte, bis meine Lippen trocknen und dann einen neuen Schluck nehme. Erneut breitet sich das Wasser auf meinen Lippen aus und kühlt mich ab. Zum ersten Mal seit 3 Tagen sehe ich halbwegs entspannt aus. Weit gefehlt. In meinem Kopf dreht sich alles; ich versuche, Ordnung in mein Oberstübchen zu bringen. Erfolglos. Unbewusst werfe ich einen Blick auf mein Buch in der Ecke des Tisches, wende ihn dann aber doch wieder ab, schließe die Augen und atme mehrfach tief ein und aus. Ich bin total ausgelaugt. Schuld bin ich selbst. Und eben das ist es, worüber ich seit gestern Nacht nachgrüble. Bin das wirklich ich gewesen? War es nicht vielleicht doch Max, der sich letztendlich die Kontrolle aneignete? War es Sara, die sie in diese Situation überhaupt erst gebracht hat? War es ihre Vergangenheit, die sie verfolgte? Und was aus dieser Frage resultiert, war es nicht vielleicht sogar Marie selbst, in dem Moment, wo sie sich auf das Spielchen gestern Abend einließ? Einmal mehr atme ich tief ein, die Luft ist warm und trocken. Beim Ausatmen lasse ich meinen Blick über die Regale an den Wänden schweifen; sie alle sind mit unzählbar vielen Weinflaschen gefüllt. Ich bin kein Weintrinker, überhaupt will ich dem Alkohol so fern wie irgend möglich bleiben. Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke...Ich suche die Regale ab, rufe mir dabei den Namen in Erinnerung, den ich gestern immer wieder gehört habe. Und da ist er. Direkt vor meiner Nase.
Die Wände in Weiß und Blau gehen mir so auf die Nerven, dass ich meine Augen für einen Moment schließe. Als ich sie wieder öffne, sitze ich leider nicht zu Hause im Keller vor meinem Bildschirm. Nein, ich befinde mich im 5. Stock des GENERATOR, einem Hostel in Hohenschönhausen; Berlin Mitte. Das Zimmer 529 ist seit gestern mein Rückzugsort, die anderen 7 Mitbewohner sind nur zum Schlafen oder Feiern hier oben. Den Aufwand, mehrere hundert Stufen gehen zu müssen tun sich nicht viele an und die, die es doch tun, haben einfach keine Lust, 5 Minuten auf den Aufzug zu warten, der 24/7 durch die 8 Etagen schießt. Mittlerweile ist es zum Running-Gag geworden, jedem, dem man im Treppenaufgang begegnet „SPORTPROFIL!“ hinterher zu schreien. Mir schreit keiner nach. Mich bekommt man ja auch kaum zu Gesicht. Und das, obwohl wir uns täglich nur wenige Stunden im Hostel aufhalten. In der Zeit bin ich dann im Zimmer, schreibe oder lese laut aus meinem Philosophiebuch vor, ist keiner hier, den das stören könnte. Auch jetzt lese ich laut, sitze auf meinem Hochbett und starre in den Raum. Eigentlich hatte ich meine Augen die ganze Zeit auf die winzigen Lettern im Buch fokussiert. Aber dieser Raum ist ein Alptraum. Überhaupt ist der ganze Ausflug ein Alptraum. Gestern Nacht habe ich zum ersten Mal mein Zimmer betreten und es sofort wieder verlassen. Müll flog mir entgegen, Dreck überall und das Nikotin an den Wänden unverkennbar. Das Hostel ist mit nur einem Stern bewertet, vermutlich, weil es keine 0 Sterne gibt. Ich jedoch hatte sowieso eine ganz andere Aufgabe als mir Gedanken über die Internetbewertungen zu machen. Die Koffer waren überall auf 3 Etagen verteilt worden, weshalb ich gute 30 Minuten meinem moosgrünen Hiking-Rucksack nachjagen durfte. Ich sehe mich noch auf dem Bett sitzen, tränenüberströmt, das Mobiltelefon in der rechen Hand. Für wahr. Diese Klassenfahrt ist ein Alptraum. Und sie soll noch schlimmer werden.
Es klopft. Ein unregelmäßiger Takt. Sofort wird mir klar, dass es eigentlich kein Zimmergenosse sein kann, fast alle haben eine KeyCard, die die Tür entriegelt. Nur Max hat keine, seine hat er mir gestern Abend überlassen. Aber um die Zeit sollte er sich im Zimmer den Gang runter aufhalten und mit seinen Klassenkameraden feiern. Ich steige aus dem Bett und stehe auf der vorletzten Sprosse; auf dem Weg, die Tür zu öffnen. Da tut sie es von ganz allein und 3 Personen betreten den Raum. Florian ergreift als erster das Wort: „Sie wollte zu dir, da haben wir sie gleich mitgenommen.“ Er macht einen Schritt beiseite und gibt damit den Blick auf das blonde Mädchen hinter ihm frei. Jetzt schon bemerke ich, dass hier irgendetwas faul sein muss. Dennoch bitte ich die 3 herein. „Nö, wir wollen gleich wieder runter. Wollten sie nur hier abliefern.“, sagt Tim und atmet beim letzten Wort schnell und tief aus, sodass es sich wie ein Lacher anhört; tut er immer. Ich biete Marie einen Platz an und rücke ein Stück zur Seite, damit sie sich setzen kann, nachdem ich es mir wieder auf meinem Bett bequem gemacht habe. Leicht desorientiert und langsam geht sie durchs Zimmer geradewegs auf mich zu, hievt sich unter sichtlicher Anstrengung auf´s Bett und setzt sich neben mich. Seltsam...das sollte für eine Sportlerin doch eigentlich kein Problem darstellen. Irgendwas stimmt hier nicht. „Also!“, beginne ich, lauter als gewollt. „Was gibt’s denn?“ Offenbar überrascht dreht sie sich zu mir. Was zur Hölle ist denn mit ihrem Gesicht passiert? Obwohl ich niemals starre, dieses mal tue ich es. Nie zuvor habe ich ein ausdrucksloseres Gesicht gesehen. Marie lacht immer; ich kann mich nicht daran erinnern, sie einmal nicht lachend gesehen zu haben. Auch heute nicht, wo wir den Alex und Umfeld erkundet haben. Aber jetzt sitzt sie einfach nur da und guckt mich an, total verwirrt wie mir scheint. Mir schießt das Bild eines Mädchens in den Kopf, dass ausschließlich Make-Up trägt und auf einmal ohne in Erscheinung tritt. Genau so sieht Marie jetzt aus. Aber das kann nicht sein, sie...In diesem Moment kippt sie hinten über und atmet tief aus. Ein unangenehmes Gefühl nistet sich in meiner Magengegend ein und Angst macht sich in mir breit. Ich fühle mich eingeengt. Ich hasse es, eingeengt zu sein.„Alles okay?“, frage ich. Keine Reaktion. Als ich erneut in ihr Gesicht schaue, merke ich, wie blass sie ist; ihre blonden Haare wirken bei der Gesichtsfarbe eher weißlich. Ich greife nach einer Wasserflasche auf dem Spind links von mir und biete es ihr an. Erneut keine Anzeichen kommunizieren zu wollen. Ich lege das Wasser beiseite und beuge mich vor um zu sehen, was sich in ihrem Gesicht abspielt. „Lass uns hochgehen, Sandra und Lea sind bestimmt auch oben.“, sage ich und merke erst jetzt, wie meine Stimme zittert. Marie nickt langsam und richtet sich auf. Sie lässt sich vom Bett gleiten und bewegt sich in Richtung Tür. Ich drehe mich um und greife erneut nach dem Wasser. Ich habe eine miese Vorahnung und sollte sich die bestätigen, wird Marie mehr Wasser brauchen, als ihr lieb ist. Ich will mich umdrehen und ebenfalls vom Bett steigen, da passiert es.
Ich lege den Stift erneut nieder und schließe das Buch. Max, der neben mir seine Spielkarten, die er gestern im Kaufhof erworben hat zu einem Kartenhaus aufstapelt, ist so in seine Arbeit vertieft, dass er gar nicht merkt, dass der Kellner abermals neben uns steht und gerne unsere Bestellungen aufnehmen würde. Ich frage nach den Größen der Pizzen; wenn wir schon bei einem Italiener essen, dann richtig. Ich frage, ob ich eventuell eine halbe bekommen könnte. Der Kellner redet etwas für mich unverständliches, scheint das zu bemerken und stammelt irgendwas von normal groß. Ich bestelle eine Pizza Hawaii und bedanke mich. Max winkt hektisch ab und sagt, dass er nichts essen möchte. Der Kellner bedankt sich und geht. Ich schaue ihm hinterher, sehe, wie er um die Ecke biegt und sehe dann zu Max. Ungewollt böse starre ich ihn an. Dabei wollte er mich doch nur beruhigen, als er mich gestern beiseite nahm.
RUMMS! Irgendetwas oder besser: irgendjemand fällt deutlich hörbar auf das Laminat des Zimmers 529. Die Leute im Zimmer unter uns hätten sich bestimmt erschreckt, wäre es überhaupt besetzt gewesen. Erschrocken drehe ich mich um. Marie liegt auf den Boden; ihre Augen seltsam verdreht. Jetzt übernimmt die Panik. Ich falle auf die Knie und richte ihren Kopf auf. Keine Sekunde später ist sie wieder bei mir. „Bist du noch da?“, frage ich trotzdem in einem unangebracht freundlichen Ton. Als Antwort bekomme ich ein unverständliches Murmeln. Ich muss überlegen, ruhig bleiben. Kopf oben halten. Das ist das erste, was mir einfällt. Ich geniere mich so sehr, sie anzufassen, dass ich etwas länger brauche, um sie an der Bettkante aufzurichten. Ich weiß auch nicht, wieso. Ich fasse Menschen einfach nicht gerne an. Als sie eine hinreichend sitzende Position eingenommen hat, legt meine Wenigkeit einen Spurt zum Bett hin und greift nach einem Kissen. Ich höre mein Gehirn „Sportprofil!“ schreien und brülle:“Halt den Rand.“ zurück. Ich reiche Marie das Kissen. „Nicht du.“, sage ich lachend und ärgere mich, dass ich das in dieser Situation überhaupt noch kann.
Zum vorletzten Mal kommt der Kellner zu uns, diesmal in Gesellschaft. Er und sein Kollege bringen das essen. Ich lege mein Buch beiseite; auch Max entfernt seine Spielkarten und schaut gespannt zu, wie Teller um Teller in den Raum getragen wird. Meine „normal große“ Pizza entpuppt sich als exorbitant. Aber ich beschwere mich nicht; ich bin zu erschöpft, um jetzt noch irgendetwas zu sagen. Also nicke ich dem Mann so freundlich wie möglich zu, als bedankende Geste. Dann widme ich mich der Pizza.
Ich weiß nicht was ich machen soll. Also lache ich. Ich lache so herzhaft, dass ich mich selbst anwidere. Wie ein Verrückter sitze ich in der Mitte des Zimmers und lache. Mein Hirn hat auf Standby geschaltet, alle Neuronen sind auf „WAS SOLL ICH JETZT TUN?“ gepolt. Sie haben keine Ahnung. Sie hoffen. Hoffen auf Hilfe. Dass irgendwer kommt und diesem armen Mädchen hilft. Weil ich es eben nicht mehr kann.
Nach einer gefühlten Ewigkeit höre ich es an der Tür klicken. Sie öffnet sich und Max, Sara und ein halbes Dutzend anderer Leute betreten das Zimmer. Sie lachen. Ich lache auch. Ich lache so laut, dass es bestimmt der ganze Flur vernehmen kann. Sara lehnt sich gegen den Spind und lässt sich an ihm auf den Boden sinken. „MARIE!“, brüllt sie. Sie ist stockbesoffenen. „Das war keine gute Idee mit dem Wein!“ Marie antwortet nicht. Max braucht eine Weile, bis er merkt, was hier überhaupt passiert, dann drückt er mich beiseite und beugt sich zu Marie. Mit ruhiger Stimme versucht er, Kontakt herzustellen. „Marie? Hörst du mich?“ Eine halbe Kopfbewegung genügt ihm scheinbar als Antwort. Die anderen stehen um uns herum und lachen. „Sie is komplett weg.“, sage ich kichernd. Ab hier fällt es schwer zu unterscheiden, wer in diesem Zimmer getrunken und wer einfach nur einen an der Waffel hat. „Lasst sie in RUHE. Die packt das schon!“, kreischt Sara von der anderen Seite des Raumes. „Schnauze!“, brüllen Max und ich im Chor. Ich stehe auf und sehe in die Menge. „Die fliegen jetzt raus.“, sage ich, breite meine Arme aus und presse mich mit aller Kraft gegen die Menge. Die meisten wehren sich, ich stemme dagegen. Als ich alle beseitigt habe, sind wir nur noch zu viert. Ich schließe die Tür und drehe mich zu Sara um. „Sushi, was?“, frage ich. Sie lacht. „Und was noch?“ „CHARDONNAY!“ atmet sie mir laut entgegen und als ich den Geruch von Wein bemerke, muss ich nicht mehr fragen.
Ich bin der einzige, der seine Pizza mit Messer und Gabel ist. Chris, der mit den Lehrern und Nadine am Fenster sitzt, hat beinahe die ganze Pizza in der Hand und stopft sie sich in den Mund. Ich lege das Besteck nieder und gieße mir Wasser nach; das nasse Gefühl auf meinen Lippen kommt nicht wieder. Aber das bemerke ich nicht. Meine Aufmerksamkeit liegt weiterhin auf der Flasche.
„Warum zur Hölle macht ihr das?“ Auf diese Frage bekomme ich keine Antwort; Max hat sich mittlerweile Sara gewidmet; sie scheint als einzige noch halbwegs bei Verstand zu sein. Die beiden heben Marie an und wollen den Raum verlassen, ich öffne die Tür und sehe den beiden nach. „Eheprobleme“ kann ich noch vernehmen, dann sind sie weg. Ich gehe zu meinem Bett und krame nach meinem Fidget Cube, das einzige, was mich jetzt noch beruhigen kann. Dann gehe ich in die Mitte des Raumes, lasse mich zu Boden sinken und hämmere mit den Zeigefingern auf den kleinen Kippschalter am Würfel ein.
Der Geschmack der Pizza liegt knapp unter dem Durchschnitt. Konsistenz und Aufmachung überzeugen auch nicht. Wie ein aufgeweichtes Handtuch liegt sie nun noch zu 2 Dritteln da und legt das Bild auf dem Teller frei. Ich picke mit der Gabel nach einem Stück Ananas. Viele sagen, dass Ananas nicht auf eine Pizza gehört und technisch bin ich da bei ihnen. Aber wenn ich mir eine Pizza Hawaii ohne Ananas vorstelle, was unterscheidet sie denn dann noch von einer einfachen Teigplatte? Schinken? Meine Finger schmerzen vom schneiden; ich merke gar nicht, wie stark ich gegen das Besteck drücke. Ich lege ab und greife ein weiteres Mal nach meinem Glas, den Blick weiterhin auf die Flasche gerichtet.
Die S-Bahn fährt in die Station 5 Stockwerke unter mir ein, piept nach knapp einer Minute und fährt dann wieder ab. Flugzeuge sind ab und zu zu hören, wie sie am Himmel auf zu weit entfernten Orten fliegen. Was mich angeht, ich bin lange nicht mehr in Berlin. Ich habe mich in meinen Kopf zurückgezogen, starre auf die Spinde vor mir und lasse ein Dauerfeuer von Fingerschlägen auf den Kippschalter los. Das ist auch das letzte, was man hier hören kann. Das dauerhafte klicken des Schalters an meinem anderthalb Quadratzentimeter großen, weißen Würfel. Wie in Trance starre ich auf den Spind, die Finger verkrampfen langsam, dennoch prasseln meine Finger weiter auf den Würfel ein. Das ist also der Tunnelblick; starr und auf einen Punkt fokussiert. Ich wippe auf und ab, nehme die Bewegung aber nicht war.
Die Zimmertür wird erneut aufgeworfen und Florian und Tim kommen herein. Als sie mich bemerken machen ein Gesicht, als hätten sie einen Geist gesehen; der Anblick muss schaurig sein. Als ich die beiden bemerke, starre ich zurück. Wie ein Häufchen Elend sitze ich da und versuche unter Anstrengung, Tränen aus meinen Augen zu pressen. Ich will weinen, das mache ich viel zu selten. Weinen bricht diese Barriere zwischen Angst und Verzweiflung. Dabei bin ich nicht mal der Mensch, dem es hier am schlechtesten geht.
Das letzte Drittel der Pizza liegt total deformiert auf meinem Teller. Ich habe eigentlich keinen Appetit mehr aber ich halte es für das beste, zumindest nach außen hin zu funktionieren. Ich will erneut nach der Flasche Wasser greifen, merke jedoch schnell, wie leicht sie eigentlich ist. Ohne es zu merken habe ich sie geleert. Doch sowohl mein Gesicht als auch mein Hals brennen und ich muss sie abkühlen. Ich frage Tim, ob ich einen Schluck Wasser bekommen könnte. Er hat nichts dagegen. Ich gieße mir einen kleinen Schluck aus seiner Flasche ein und leere das Glas mit einem Zug. Dann schneide ich mir die Pizza weiter klein und schlucke das herausgetrennte Stück hinunter, ohne es zu kauen. Ich verschlucke mich und ärgere mich über mein Verhalten aber eigentlich bin ich schon wieder nur bei der Weinflasche im Regal vor mir.
Ich sitze auf meinem Bett. Max und die anderen reden auf mich ein. Es ist unsagbar laut hier. Dennoch ist alles, was ich höre, das Klicken meines Würfels. Immer wieder macht es klick klick klick und das beruhigt mich ungemein. Trotzdem will dieses Bild von dem Mädchen, das einfach zusammenbricht nicht, mehr aus meinem Kopf verschwinden. Plötzlich fahre ich Max an: „Sie wahr betrunken, oder?“ Dabei ist die Antwort doch vollkommen klar. Doch Max redet einfach weiter. Ich habe gar nichts gesagt. Das ist in meinem Kopf passiert. Und dabei war es so real. „Lasst ihr uns kurz allein?“, fragt Max und dreht sich zu den Anderen um. Sie nicken nur stumm und gehen. Bevor Max sich wieder zu mir dreht, halte ich mir die Nase zu und versuche, einzuatmen; einer der bekanntesten Reality Checks unter luzid-Träumern. Ich bekomme keine Luft. Ich bin also wach. Wie erwartet. „Hörst du mir zu?“, fragt der Junge vor mir. Ich nicke. „Das, was da mit Marie passiert ist, ist vollkommen normal. Das kann passieren, wenn man zu viel trinkt, ist mir auch schon passiert und ich war oft betrunken.“ Wir lachen. Dabei ist das nicht mal witzig. „Nee, aber was ich sagen will: “, legt er nach und überflutet mich anschließend mit Unmengen an Beispielen und versucht mir weiszumachen, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche. Dass alles gut wird. Ich höre nur mit einem Ohr hin. Mich interessiert das WAS schon gar nicht mehr. Mir schwirrt nur noch eine Frage im Kopf. WARUM?
Keiner scheint meinen Husten bemerkt zu haben. Ich zügle mich und esse fortan ruhig weiter. Bald ist meine Pizza komplett von der Bildfläche verschwunden. Ich scheine als erster aufgegessen zu haben. An meinem Tisch bin ich der Einzige, der überhaupt aufisst. Tim verzweifelt an seinen Spaghetti Carbonara. Der arme hat kaum gegessen. Ich greife zu meinem Buch und schaue mir die eingeklebten Tickets von heute an. Die Museumsinsel und der Fernsehturm. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Max und Marie in die Kunstausstellung verschwinden. Sie kommen erst nach einer halben Stunde zurück; haben sich Bilder angeschaut. Max Nervosität ist kaum zu übersehen.
„Marie hat echt richtig Scheiße mitgemacht. Also so richtig Scheiße. Ihr Ex hat sie ´ne Treppe runtergetreten, mit ihrem neuen hat sie Stress.“ Er hält kurz inne und lacht. „Und jetzt ist vor kurzem auch noch ihre Katze gestorben.“ Das hat sie mir erzählt. Wir wahren in diesem Gefängnis in Hohenschönhausen, dass die Stasi zu DDR-Zeiten genutzt hat. Sie hat den Rest von meinem unglaublich guten Kakao getrunken. Und geweint. Selbst dabei hat sie…GELACHT.
Es fällt mir wie schuppen von den Augen. Auf einmal ergibt alles einen Sinn. Es hätte schon gestern KLICK machen sollen. Dieses Lachen...
Im nächsten Augenblick bin ich weder im Restaurant, noch in meinem Zimmer im 5. Stock. Ich bin ganz woanders. Aber ich kenne diesen Ort. Ich sehe ihn jeden Morgen, wenn ich aus meinem Zimmer durch das Treppenhaus hinunter in die Lobby gehe und jeden Abend, wenn ich aus der Lobby ins Treppenhaus komme. Ich stehe im Essraum unten im Erdgeschoss des GENERATOR. Eine ganze Menschentraube hat sich um die Tische versammelt. Teller und Lieferkartons stehen überall auf dem Tisch verteilt, vereinzelt liegen kleine Sushi-Reste herum. Sofort wird mir klar, dass das hier nicht die Realität ist, ich prüfe dennoch. Wie erwartet kann ich nicht atmen, es muss also eine Art Tagtraum sein, in dem ich mich befinde. Während ich über meinen Bewusstseinszustand nachgrüble, presse ich mich durch die Menge, um mir einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Aber eigentlich weiß ich schon, was mich gleich erwarten wird. Noch knapp zwei Reihen, dann habe ich freie Sicht. Und als ich dann endlich vor dem Tisch stehe, klappt mir die Kinnlade runter.
Mittlerweile habe ich mich ins Bett gelegt. Ich starre an die Zimmerdecke und lausche Max bedeutungslosen Worten. Die anderen Betten sind bis auf 2 Ausnahmen besetzt. Schließlich beendet Max seinen Monolog. „Ich geh dann auch mal wieder nach oben. Nach Marie sehen.“, meint er. Er dreht sich zur Tür und will gehen, da bleibt er noch für einen kurzen Moment ihm Rahmen stehen. „Alles wird gut.“, sagt er eher zu sich selbst als zu mir. „Im Moment...“, jetzt redet er mit mir, „...kannst du eh nichts tun.“ Ein Krampf sondergleichen durchfährt mich und ich muss mich aufsetzen, um nicht auf mein Bett zu erbrechen. „Ich kann nichts tun?“, will ich fragen doch da merke ich, dass Max nicht mehr da ist.
Es muss nicht mal hier passiert sein. Sie könnte auf dem Zimmer gesessen und die Flasche genommen haben. Trotzdem werde ich dieses Bild nicht los. Also starre ich weiter auf das, was sich hier vor meinen Augen abspielt. Sara und Marie sitzen sich gegenüber. In der Mitte eine Flasche Weißwein. „Was ist?“, fragt Sara und grinst unfassbar gehässig. Ich kann die Angst in Maries Gesicht spüren. Es ist, als könnte ich ihre Gedanken lesen. Ich sehe Tränen und Dunkelheit. Ich sehe junge Männer, ein bisschen älter als ich, ein Mobiltelefon, noch mehr Tränen und eine Arztpraxis. Auf dem Behandlungstisch eine Katze. Das sind ihre Gedanken. Jetzt gerade in diesem Moment. Ob das wirklich das ist, woran sie gestern Nacht gedacht hat? Immer noch unfassbar verschreckt starrt das Mädchen mit den schulterlangen, blonden Haaren die Flasche an...und greift zu. Nach nur wenigen Sekunden ist der Pegel der Flüssigkeit in ihrem Inneren deutlich gesunken. Marie setzt ab. Die Menge jubelt. Auch Sara, eine grausigen Fratze aufgesetzt lacht und klatscht ein paar mal in die Hände. Die Bilderreihe in meinem Kopf wird schneller. Immer wieder sehe ihre Gedanken an mir vorbeiflitzen, schneller und schneller, bis sie zu einem wirren Etwas verschwimmen und ich das Unbegreifliche schon gar nicht mehr richtig wahrnehme. Wieder führt sich Marie die Flasche an den Mund und trinkt erneut mehrere, ordentliche Schlucke. Der Pegel sinkt diesmal um mehrere Zentimeter. Sofort wird mir unangenehm warm und ich falle in Richtung Menschenmenge hinter mir. Ich falle einfach durch sie hindurch; warte voller Angst auf den harten Aufprall. Er bleibt aus. Ich falle immer weiter und der Tisch, vor dem ich eben noch stand, entfernt sich zusehends schneller von mir. Als mir dann schlussendlich schwarz vor Augen wird, ist die Flasche halb geleert. Ein dumpfes Lachen hallt nach. Dann sitze ich wieder im Restaurant; die Weinflasche zirka anderthalb Meter von mir entfernt. Ungläubig starre ich das Glasgefäß an und mir wird beispiellos schlecht. Ich werfe einen Blick hinüber zu Marie, die sich köstlich zu amüsieren scheint. Ich klappe mein Buch zu und rufe nach ihr. Als sie reagiert und sich zu mir dreht, durchfährt mich ein kalter Schauer, dennoch reiche ich ihr den Stift, den sie mir vor einer knappen Stunde gegeben hat und bedanke mich so gefasst ich kann. Dann drehe ich mich wieder zur Flasche...und fasse einen Entschluss. Hektisch nehme ich meine Kamera aus der Tasche und schieße ein Foto, dass sich als ungeheuerlich verschwommen herausstellt. Die Flasche ist kaum zu erkennen. Egal, ich weiß, was es ist. Und leider wird es mir noch eine lange Zeit in Erinnerung bleiben. Dann höre ich die Worte meines Lehrers von der anderen Seite des Raumes zu mir hinüberschallen.
Mir ist nicht mehr ganz so schlecht, trotzdem durchfährt mich in unregelmäßigen Abständen ein unangenehmes Gefühl, welches aus meinem Unterkörper bis hoch zu meinem Hals schreitet und für ein paar Augenblicke dort verharrt, um dann wie bei einer Explosion in alle Richtungen zu zerbersten und sich in Luft aufzulösen. Ich starre noch immer an die Zimmerdecke, sehe aber nicht das verdreckte Weiß, das Licht haben wir nämlich ausgeschaltet. Ich sehe weiter das Bild des ohnmächtigen Mädchens, dass vor ein paar Stunden noch genau hier gelegen hat, in der Absicht, bei mir halbwegs ihre Ruhe zu finden. Darin habe ich sie enttäuscht. Ich habe sie abgewiesen, ohne es zu wollen und bin dann in einen unerklärlichen Lachanfall geraten, Ruhe hatte sie bei mir garantiert nicht. Ich stelle mir vor, wie Max auf dem Boden neben ihrem Bett an einer Heizung lehnt und mit beruhigender Trägheit auf sie einredet; ein paar Mädchen drum herum hören besorgt zu. Eigentlich sollte ich beruhigt sein, jemand einigermaßen Kompetentes ist bei ihr und kümmert sich um sie. Doch ich bin alles andere als ruhig. In meinem Kopf schwirren allerhand Gedanken, die ich jetzt noch nicht verarbeitet bekomme. Das wird den Tag über auch so bleiben, bis wir heute Abend zum Italiener die Straße runter essen gehen und ich eine Weißweinflasche in einem Regal an der Wand direkt vor mir auffinden werde. Ich werde dann alles noch einmal rekapitulieren und versuchen, Klarheit in all dem, was hier passiert ist zu erlangen. Dabei fliegt mir ein einziger, erschreckender Gedanke durch den Kopf. Ich sehe Max Gesicht vor mir. Das hätte ich sein sollen.
Herr Schulze hat seine Ansage beendet. Ich öffne meine Pferdefelltasche und packe meine Sachen zusammen. Nachdem ich sowohl Buch als auch Kamera verstaut habe, bitte ich Max, mir Platz zu machen und stehe auf. Als wir gehen wollen, blicke ich ein letztes Mal auf die Flasche und dessen Namen. Und nachdem wir den Italiener verlassen, hallt mir dieser meinem Kopf wieder. Wir gehen an der S-Bahn-Station „Landsberger Allee“ vorbei, über die Brücke geradewegs auf ein großes Gebäude zu. Durch die Dunkelheit ist nur die Silhouette zu erkennen; das rot leuchtende REWE-Schild spendet ein wenig Licht, aber ich widme meinen Blick etwas anderem. Ein Obdachloser liegt da, am Geländer der Brücke, vor ihm eine gelblich braune Pfütze aus Magensäure und Nahrung. Ich drehe mich sofort weg, bevor ich selber noch das Kotzen bekomme und gehe weiter, immer schön auf das Gebäude auf der anderen Seite zu. In wenigen Stunden wird mir Max erzählen, dass er unsäglich in Marie verliebt ist. Doch davon ahne ich noch nichts. Ich höre nur immer wieder dieses Wort.