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Chaos

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27.07.2001
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Chaos

Er warf den Rucksack gestresst in die Ecke. Da der Reißverschluss nicht ganz zugezogen war, fielen diverse Zettel und eine Butterbrotdose heraus, die sich in den Haufen Krimskrams, der in der Zimmerecke lag, ganz gut einfügten. Er schaute sich um in seiner 25 m²-Wohnung. Ein Zimmer, Kochnische und Bad. Das Ganze für 250 Euro im Monat, mehr kann sich ein Azubi trotz Nebenjob nicht leisten. Wo hatte er nur den Kochtopf zuletzt gesehen? Er wühlte ein wenig in dem Stapel, auf dem der Rucksack gelandet war, beförderte diesen damit auf den Nachttisch, wo er ebenso wenig störend wirkte wie in der Zimmerecke, da sich auch dort allerlei Kram angesammelt hatte. Überhaupt wirkte die gesamte Wohnung wie ein bunter, orientalischer Basar - nur das Warenangebot war nicht so berauschend: Stapel alter Zeitschriften, halb durchgelesene Bücher, jede Menge Zettel und auch das ein oder andere angebissene Butterbrot waren scheinbar planlos überall gelandet, wo auch nur ein bisschen Platz war.

Endlich hatte er den Kochtopf gefunden. Er hatte keine Ahnung, wie dieser in den Kleiderschrank geraten war, vermutete aber, dass der Topf beim Anziehen heute Morgen irgendwo im Wege stand und er ihn erst mal woanders abstellen musste - und da im Kleiderschrank noch genügend Platz war landete der Topf eben dort.

"Egal, Hauptsache, er ist wieder da", murmelte Thomas und stellte den Topf auf die Herdplatte. Er öffnete den Küchenschrank, dessen halber Inhalt ihm entgegen kam und griff wahllos nach einem Tütengericht, irgendwas mit Nudeln. Er las sich kurz die Zubereitungsanleitung durch, glaubte, dass das Kochen dieses Fertiggerichts ihn nicht überfordern würde und versuchte nebenher, mit der freien Hand die herausgefallenen Gegenstände zu bändigen und zurück in den Schank zu werfen. Als ihm dies gelungen war schloss er schnell die Tür und wartete darauf, dass das Wasser zu kochen anfing. Da sich nach fünf Minuten immer noch nichts getan hatte, beschloss er, den Herd auch noch anzudrehen (und fragte sich nebenher, warum nur ihm immer solche Dummheiten passierten). Da er keine Lust hatte, weitere fünf Minuten vor dem Herd zu stehen und auf das Wasser im Topf zu starren, beschloss er, mal kurz den Fernseher anzumachen. Er wühlte auf dem Nachttisch nach der Fernbedienung, wobei der Rucksack erneut seinen Platz wechselte. Er landete neben einem Käsebrot, auf dem garantiert nicht nur Edelschimmel wuchs.

Als "Wird wer Millionär?" zu Ende war, wunderte er sich über das merkwürdige Zischen, das vom Herd zu kommen schien. Da erinnerte er sich. "Verdammt!" rief er, sprang auf, stolperte über den Rucksack, der dadurch unter dem Schreibtisch einen neuen Platz fand und drehte den Herd aus. Im Topf verdampften gerade die letzten Tropfen Wasser. Er füllte den Topf wieder auf und drehte auch den Herd wieder an. Indessen suchte er die Tüte, die er vorhin so sorgfältig ausgewählt hatte. Sie fand sich schließlich auf seinem Bett. "Die muss ich wohl beim Wühlen nach der Fernbedienung dort hingelegt haben", dachte er und griff danach. Inzwischen war das Wasser am kochen. Er riss die Tüte auf, schüttete den Inhalt in den Topf und stopfte sie mangels eines Mülleimers in Reichweite erst mal in die Hosentasche. "Kann ich ja gleich noch in den Müll werfen", meinte er entschuldigend, nahm sich eine Kelle und rührte die Tütensuppe ein, wobei er sich schwor, diesmal beim Topf zu bleiben.

Während er weiterrührte, begannen seine Gedanken abzuschweifen. Herr Müller, sein Chef, hatte ihn vorhin ziemlich rüde angeschnauzt, weil er schon wieder vergessen hatte, was dieser ihm am Morgen erklärt hatte. Zumal er die Zinseszinsberechnungen schon in der Berufsschule gelernt hatte. Das stand doch sogar in seinem BWL-Buch? Er ließ die Suppenkelle los, die mit einem leisen Platschen vollständig im Topf landete, griff in das Regal über seinem Schreibtisch und schnappte sich das BWL-Buch, das erstaunlicherweise an seinem Platz stand. Er blätterte nach hinten zum Stichwortverzeichnis, doch unterwegs kam er auf einer Seite vorbei, auf der er nahezu unfreiwillig stehen blieb. "Interessant. Berechnung des Bruttosozialprodukts, das wollte ich schon immer mal wissen."

Diesmal war es kein Geräusch, das ihn aufschrecken ließ, sondern ein Geruch. Er erblickte den Topf, aus dem dunkelgraue Rauchschwaden aufzogen. Wie viel Zeit war vergangen? Zehn Minuten, zwanzig? "Na egal, die fünf Minuten werden wohl auf jeden Fall um sein. Das Zeug muss zumindest gar sein." Gar war das Essen wirklich, ganz und gar verkohlt. Er kippte den Inhalt des Topfes trotzdem nicht weg, denn er hatte mittlerweile enormen Hunger. Er füllte das, was noch einigermaßen essbar war, auf einen Teller, legte beiläufig die Suppenkelle beiseite, die in den Topf gefallen war (in Ermangelung eines besseren Platzes lag sie nun auf dem Esstisch, neben Thomas' Abizeugnis und dem Englischbuch aus der Berufsschule) und machte sich über das Essen her.

Da Essen alleine bekanntlich ziemlich langweilig ist, lehnte er sich, auf dem Bett sitzend, nach hinten und schnappte sich eines der aufgeschlagenen Bücher, die davor lagen. Dass ein wenig vom Tellerinhalt auf dem Boden landete (es gab da tatsächlich noch einen kleinen Flecken unberührten Teppichboden, auf dem nichts lag - nun ja, jetzt schon) registrierte er kaum. Er hielt mit einer Hand den Teller und versuchte, mit der anderen im Buch zu blättern. Da er dieses Kunststück nicht sehr gut beherrschte stellte er den Teller beiseite um sich voll und ganz dem Lesen widmen zu können.

Kurz darauf klingelte das Telefon. Er warf das Buch achtlos auf den Boden (er traf zielsicher die Stelle, auf der ein wenig vom Tellerinhalt gelandet war) und nahm den Hörer ab. "Ach, hallo Mama", sagte er in die Hörmuschel. "Nein, nichts besonderes, ich habe mir gerade was zu Essen gemacht." Ungefähr alle zwei, drei Tage rief seine Mutter ihn an um sich zu erkundigen, was es Neues gäbe und wie es "ihrem großen Jungen" gefalle, alleine zu wohnen. Neues gab es meist wenig, er hatte weder Freundin noch Freunde, und wenn er abends nicht fernsah, dann hockte er eben vor dem Computer. Thomas' Mutter hatte jedoch immer haufenweise Neuigkeiten zu erzählen. Was es von Nachbar Frohmann und Tante Hanna alles an Neuigkeiten zu berichten gab, interessierte ihn zwar herzlich wenig, aber er versuchte, seiner Mutter immer geduldig zuzuhören.

Nach knapp einer Stunde waren Thomas' Mutter schließlich die Neuigkeiten ausgegangen. Nachdem sie sich verabschiedet hatten blickte er auf seinen Wecker, der an der Kante des Nachttischs stand und wohl bei der nächsten Berührung herunterfallen würde. Halb elf. Da er eine gewisse Müdigkeit verspürte, dachte er, es für heute gut sein zu lassen und ins Bett zu gehen. Nach dem Zähneputzen und einem Toilettengang schaltete er das Licht aus und kroch unter die Bettdecke. Dabei rutschte ein gewisser Teller, in dem sich mittlerweile kalte Nudeln befanden, von der Bettkante, schlug einen Salto Mortale und landete mit seiner Schokoladenseite mitten auf dem Buch, das er vorhin so intensiv gelesen hatte.

 

Hallo Arnie!

Dein Prot. ist ja wirklich ziemlich chaotisch, wenn das sein Alltag ist... ist dieser Mensch lebensfähig? ;)
Ich würde sagen, diese Geschichte ist was für zwischendurch. Sonderlich spannend o.ä. ist sie nicht, an manchen Stellen ganz witzig, aber insgesamt vor allem von der Thematik her nicht umwerfend. Das mag daran liegen, dass wir in Fersehen und Buch schon an diese Situationen gewöhnt wurden.. und dass auch manche von uns manchmal nicht die ordentlichsten sind...:)
Geschrieben ist es gut, recht flüssig zum Lesen, angenehm.

ein paar Kleinigkeiten noch...

"wobei der Rucksack erneut seinen Platz wechselte (er landete neben einem Käsebrot, auf dem garantiert nicht nur Edelschimmel wuchs)." - in der Klammer steht ein vollständiger Satz, also groß anfangen.

"Er füllte den Topf wieder auf ("Verdammt, habe ich Kohldampf!") und drehte auch den Herd wieder an." - den Klammersatz würde ich rauslassen, er holpert in dieser Form.

Insgesamt die Gedanken in Anführungszeichen zu setzen, sit zwar nicht ungewöhnlich, ich persönlich find es nicht so elegant zum lesen.

schöne Grüße, Anne

 

Hallo Anne.

Danke für deinen Kommentar, die stilistischen und Schreibfehler habe ich erstmal korrigiert.

Ob der Protagonist wirklich alleine lebensfähig ist, sei mal dahingestellt, irgendwie durchzuwurschteln scheint er sich aber :D.

Dass es nicht sonderlich spannend ist, zu erleben, wie ein Chaot versucht, sich Abendessen zu kochen, war mir schon bewusst, deswegen habe ich die Geschichte ja auch unter "Alltag" veröffentlicht - und Alltag zeichnet sich eben durch die kleinen, ganz normalen Dinge des Lebens aus.

Die Geschicte war auch wirklich nur aus der spontanen Idee entstanden, zu beschreiben, wie jemand, der chaotisch ist und zum ersten Mal im Leben von zu Hause, vom schützenden Elternhaus, fort ist, versucht, sein Leben zu meistern.

Viele Grüße,
Arnie.

 

Hallo Arnie!
Ich mag deine kleine Geschichte. Wie Anne schon sagte, eine Geschicte für zwischendurch, aber ich finde sie dennoch stellenweise ganz lustig und gut geschrieben.
Dass wir die Thematik schon aus Filmen usw. kennen, ist klar, aber deine Geschichte finde ich dennoch ganz unterhaltsam.
Ich mag deinen lockeren, angenehm zu lesenden Stil.

bye und tschö

 

Danke für das Lob (hätte nicht gedacht, dass die Geschichte noch mal jemand "rauskramt").

Ich denk mir jedenfalls immer, ein bisschen Chaos ist nicht schlecht. Gut, die Wohnung meines Protagonisten liegt wahrscheinlich schon jenseits von Gut und Böse, aber immer wenn man in seinem eigenen Chaos nichts mehr wieder findet, muss man daran denken: Es geht auch schlimemr :D.

 

Hallo Arnie!

Na zum Glück hat jemand die "alte" Geschichte wieder raus gekramt. So habe ich sie denn auch gleich gelesen.
Mein erster Eindruck: die Wohnung eines Messis.

Dein Erzählstiel gefällt mir.
Allerdings möchte ich da nicht wohnen. ;)

Ciao, Piratin

 

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